Áèáëèîòåêà / Ïðèêëþ÷åíèÿ / Ìàéíê Âèëëè : " Die Seltsamen Abenteuer Des Marko Polo " - ÷èòàòü îíëàéí

Ñîõðàíèòü .
Die seltsamen Abenteuer des Marko Polo
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        #


        Willi Meinck



        Die seltsamen Abenteuer des MARCO POLO

        ëDie Stadt Venedig liegt am Ende
        des Meerbusens des Adriatischen
        Meeres und bei?t die Konigin der
        anderen Stadte, sie hat das Meer
        zur Mauer und den Himmel zum
        Dacbe.»
        ààààGIOVANNI FRANCESCO STRAPAROLA ààààgeboren: Ende des 15. Jahrhunderts


        GIOVANNI SINGT

        DER SOMMER DES JAHRES 1268 WAR HEISS, UND der Wind, der vom Meere kam und sacht uber die Lagune wehte, brachte wenig Kuhlung. Das Wasser rings um die Insel Murano fing die Farben des Himmels und spiegelte sie wider. Giovanni, der dreizehnjahrige Sohn des Steinbauers Ernesto, sa? auf den Stufen der verfallenen romischen Villa und sah dem Schiffe nach, das, kaum merkbar, mit schlaffen grauen Segeln dem Hafen von San Nicolo zuglitt.
        Die Villa mit den steinernen Stufen und den Saulen aus Marmor hatte vor Jahrhunderten ein reicher Romer bauen lassen. Sie war ein letzter Zeuge der kalten Pracht des romischen Imperiums, das einst eine Welt beherrschte, die von der Nordkuste des schwarzen Erdteils bis nach Kleinasien reichte. Bald wurden die Lasttrager und Steinbauer kommen, um den kostbaren Marmor und die Ziegel fur neue Bauten an den Flussen und Kanalen von Venedig zu bergen.
        Giovanni stand auf. Er legte sich in den Schatten des nahen Feigenbaumes und horte, wie die Vogel sangen. In solchen Minuten traumte er und verga? den geheimen Schmerz uber seine bucklige Gestalt. Er glaubte, das Meer am Strande des Lido rauschen zu horen; der Himmel und die weite unbewegte Lagune waren von einem feinen Klingen erfullt, das nur Giovannis Ohr vernahm. Die Schreie der Maultiertreiber storten ihn nicht.
        An Giovanni hatte die Natur ein kleines Wunder vollbracht. Er hatte schwarze Haare und helle blaue Augen, in denen Schmerz und Sehnsucht schimmerten. Aber das Schonste war seine Stimme. Die lauten Gesprache der Schiffer und Glasmacher, der Lastfrager und Arsenalarbeiter, der Seiler und Schiffsbauer, die demutigen, zudringlichen Bitten der Bettler verstummten, wenn Giovanni sang. Dann blieben die Bauern und Maultiertreiber, die gerade in der Nahe waren, stehen und lauschten, dann war es, als wehe der Wind sanfter uber die Lagune.
        Aber Giovanni, der alles Schone liebte, war oft traurig. Besonders wenn er Giannina, die Nachbarstochter, sah.
        Da lag nun Giovanni im Gras und wu?te nicht, ob er froh oder traurig sein sollte. Er summte fur sich ein Lied, das er oft im Weinhaus ëLa Malvagia» gehort hatte:

        ëO Theresina! Die Mutter fragt dich!
        Was fragt die Mutter, o Theresina?
        Sie will dir einen Schlo?herrn geben,
        der dir jeden Tag Krebse schenkt.
        Aber du willst ihn nicht, Theresina,
        willst nicht jeden Tag Krebse essenÅ»
        Die flachen, breiten Fischerboote ruhten auf dem Lagunensee. Von San Michele nahte ein Ruderboot; der Junge im Bug zeigte auf die Marmorsaulen der Villa. Mit kraftigen Schlagen steuerte der Mann auf der Ruderbank darauf zu. Giovannis Freund Marco Polo kam. ëHe, Giovanni!» rief er uber das Wasser, ëbist du da, Giovanni?»
        Giovanni lachelte und pre?te seinen Korper an die Erde. Marco sprang vom Kahn auf die Steinstufen und sagte, nach allen Seiten spahend, zum Diener: ëHol mich nachmittags ab, Paolo; aber zu keinem ein Wort, horst du? Die Mutter darf nichts erfahren.» ëJa, Herr!»
        Der Ruderer entfernte sich. ëGiovanni, wo bist du denn?»
        Da konnte der Freund nicht langer schweigen. ëHier bin ich, Marco!» Sie begru?ten sich, als hatten sie sich seit Jahren nicht gesehen. Dabei besuchte ihn Marco jede Woche. Eigentlich sollte er an diesem Tage zum Bruder Lorenzo gehen, der ihn in der Religion, im Schreiben, Lesen und Rechnen unterrichtete. Aber einmal mu?te er doch nach Murano, zu Giovanni und Giannina!
        Sie hatten sich vor zwei Jahren auf dem Fest der Fischer kennengelernt. Giovanni hatte ein altes italienisches Volkslied gesungen, und Marco, der Sohn eines vornehmen Patriziers und Kaufmanns, erhielt von seiner Mutter die Einwilligung, den Jungen mit der herrlichen Stimme in ihr Haus einzuladen.
        So hatte die Freundschaft zwischen Marco und Giovanni, dem Sohn des Steinbauers Ernesto, begonnen. Marcos Mutter war mit dem haufigen Zusammensein der Freunde nicht recht einverstanden. Aber ihre Sorge um den Gatten, der vor dreizehn Jahren mit seinem Bruder Maffio Polo auf eine weite, abenteuerliche Reise gegangen war und seitdem kein Lebenszeichen gegeben hatte, machte sie mude und teilnahmslos. Sie lie? es an der strengen Aufsicht fehlen, und Marco fand ofter Gelegenheit, Giovanni und Giannina aufzusuchen. Paolo, ein Diener des Hauses, half ihm dabei.
        Marco war gro?er als Giovanni und von schoner Gestalt. Seine Stirn verriet Abenteuerlust; wenn er erregt war, funkelten die Augen, und sein Kinn schob sich angriffslustig vor. Zuweilen war er hochfahrend und wollte seinen Willen durchsetzen, auch wenn das, was er vorhatte, unvernunftig war. Er lie? nicht gern von einem Unternehmen, das er sich in den Kopf gesetzt hatte. Doch wenn er bei Giovanni war, bezahmte er seinen eigenwilligen Sinn und horte auf das, was der Freund ihm sagte.
        Giovanni und Marco standen eine Weile nebeneinander und schauten auf das Wasser, das jetzt unter der Beruhrung einer leichten Brise wie ein lebendiges Wesen atmete.
        ëIch war auf der Piazzetta, bevor ich zu dir kam», sagte Marco, ëund habe einem Geschichtenerzahler zugehort. Er war zerlumpt wie ein Bettler und barfu?ig. Aber erzahlen konnte er wie ein Konig.»
        Giovanni sah an sich herunter. Barfu?ig war der Geschichtenerzahler auf der Piazzetta gewesen? Er blickte auf den Freund, der Kleider aus feinem florentinischen Tuch und teure Schnallenschuhe trug, dann sah er wieder an sich herunter. Ein Hemd trug er und eine derbe Hose. Und barfu?ig war er wie der Geschichtenerzahler auf der Piazzetta!
        ëWas ist denn, Giovanni?» fragte Marco, der die hellen Augen des Freundes auf sich gerichtet sah.
        ëNichts», antwortete Giovanni. ëDie Blumen bluhen. Sieh! Gelbe und rote und wei?e. Und drau?en das Schiff, nur die Masten siehst du noch!»
        ëEs fahrt nach Byzanz. Ganz sicher fahrt es nach Byzanz», sagte Marco versonnen. Der Name dieser Stadt, der Hauptstadt des Ostromischen Kaiserreiches, ubte einen eigentumlichen Reiz auf ihn aus. Byzanz war das Tor zu der marchenhaften Welt des Ostens, in der die machtigen Mongolenkaiser herrschten. Nach Byzanz war Nicolo Polo, der Vater, und Maffio Polo, der Onkel, im Jahre 1250 gereist und funf Jahre spater, wie ein Freund des Hauses berichtete, zu einer abenteuerlichen Fahrt nach dem Mongolenreich aufgebrochen. Wenn der Name dieser Stadt genannt wurde, senkte die Mutter den Kopf, um die Tranen in ihren Augen zu verbergen.
        Marco liebte seine Mutter mit scheuer Verehrung. Sie war fur ihn die schonste Frau von Venedig. Einmal hatte er zu ihr davon gesprochen, mit einem Schiff aufs Meer hinauszufahren, nach Byzanz, dann weiter nach Osten, um nach dem Vater und dem Onkel zu forschen und die geheimnisvollen Lander kennenzulernen, aus denen Seide und Edelsteine, farbenprachtige Teppiche und teure Gewurze und viele andere Waren nach Venedig gebracht wurden. Aber die Mutter war zornig geworden und hatte ihm befohlen, drei Tage das Haus nicht zu verlassen. Maria, die Magd, sagte ihm, da? die Mutter den ganzen Tag geweint hatte. Marco hatte seitdem nicht mehr von seinen abenteuerlichen Gedanken zu ihr gesprochen.
        Aber wenn er bei Giovanni war, konnte er von seiner Sehnsucht nach den fernen Landern reden. Wie war es auch moglich, in Venedig zu leben, in dieser Lagunenstadt, wo sich Kaufleute und Seefahrer aus allen Herren Lander trafen, ohne von diesem Drang nach weiten Reisen und eintraglichen Geschaften ergriffen zu werden? ëWoran denkst du wieder?» fragte Giovanni den Freund. ëAn das, was ich auf der Piazzetta gehort habe. Ich werde es dir spater erzahlen. Eine Geschichte von einem Diamanten, der so gro? wie ein Taubenei ist. Komm, Giovanni, gehen wir zum Fischteich des Messer Celsi.» Die Bauern arbeiteten auf den Feldern. Ein Senator, von den beiden Jungen ehrerbietig gegru?t, sprengte auf seinem Rappen voruber.
        ëIja, iiija», trieb ein Maultiertreiber seine Tiere an, die hochbeladen mit Heu gemachlich ihres Weges gingen.
        Die beiden Jungen kamen an einer Glashutte vorbei, aus deren Kamin dunkler Rauch zum hellen Sommerhimmel stieg. Das Holztor war weit geoffnet. Die Glasmacher, ausgemergelt von der gluhenden Hitze der Ofen, arbeiteten mit nacktem Oberkorper.
        In der Nahe des Nonnenklosters, das auf der anderen Seite der Insel hart am Wasser lag, trafen sie Giannina. Sie wu?te, da? Marco heute nach Murano kommen und mit Giovanni zum Fischteich gehen wurde. Darum hatte sie an dieser Stelle gewartet. Aber sie tat so, als kame sie zufallig des Weges daher.
        ëAch, da seid ihr beide?» sagte sie. ëBeinahe ware ich an euch vorbeigegangen. Guten Tag, Messer Marco, guten Tag, Messer Giovanni.»
        Sie verbeugte sich und breitete die Arme aus wie eine Dame am Hofe des franzosischen Konigs. ëEs ist mir eine hohe Ehre, euch begru?en zu durfen, hochedle Herren.» Diese Anrede hatte sie von ihrer Mutter gelernt, die in der Kuche des Nonnenklosters beschaftigt war und des ofteren mundliche und schriftliche geheime Botschaften der Nonnen nach der Stadt bringen mu?te.
        ëFein seht Ihr wieder aus, Messer Marco», sagte sie und lehnte sich an den Stamm einer dunklen, schlanken Zypresse. ëImmer mu?t du spotten», sagte Giovanni verlegen. ëLa? sie, Giovanni. Sie wird bald wieder vernunftig.» Auf Marcos Stirn zeigten sich argerliche Falten.
        Da fegte das Madchen mit einem hellen Lachen die Mi?stimmung hinweg und tanzte ubermutig um die Jungen herum. ëNehmt mich mit», rief sie. ëWenn ihr mir abends helft, Wasser aus der Zisterne zu holen, kann ich mitkommen.»
        ëGut, gut!» brummte Marco zufrieden. ëKomm nur mit, ich habe eine schone Geschichte zu erzahlen.»
        ëUnd Giovanni wird singen», sagte Giannina und legte den Arm um die Schulter des Freundes. ëJa, Giovanni? Wirst du singen?» Sie sah ihn bittend an.
        Giovanni nickte. Aus seinem Gesicht war alle Wehmut verschwunden. Barfu?ig ging er neben seinem Freund her, der staubige Pfad stieg leicht an und fuhrte zu einer aus rohen Balken gefugten Brucke, die sich uber einen schmalen Kanal spannte, der links und rechts mit Stammen und Faschinen befestigt war.
        ëGeht nur», sagte Marco. ëIch komme gleich nach.» Er setzte sich nieder, zog Schuhe und Strumpfe aus und versteckte sie im Gebusch. Dann lief er leichtfu?ig und froh uber die Brucke, bis er wieder neben Giovanni und dem Madchen war.
        Fruher war es gefahrlich gewesen, in die Nahe des Fischteiches, der dem reichen Landmann Celsi gehorte, zu kommen. Zwei Wachter, mit dicken Knuppeln bewaffnet, hatten darauf geachtet, da? keiner fischte oder sich am Ufer herumtrieb. Der Gro?e Rat von Venedig aber hatte eine Verordnung erlassen, da? die Fischteiche der Inselstadt zugeschuttet werden mu?ten. Messer Celsi widersetzte sich anfanglich dieser Verordnung. Der Fischteich gehorte seit alters her zu den Gerechtsamen seiner Familie, hatte er dem Gro?en Rat in einem umfangreichen Schriftstuck bewiesen, und die Regierung der Stadt habe kein Recht, ihm sein Eigentum zu nehmen. Die Proveditori seiner Pfarrschaft aber hatten ihm mit einer hohen Strafe gedroht, wenn er dem Befehl der Regierung nicht nachkommen werde. So war dem Messer Celsi nichts ubriggeblieben, als nachzugeben.
        Seit dieser Zeit gab es keine Wachter mehr. Ein Teil des Teiches war schon angefullt worden, aber noch schimmerte eine ovale, an den Randern mit Schilf bewachsene Wasserflache und zog die Kinder zu Spiel und Fischfang an. Allerdings gab es nicht mehr viele Fische im Teich, Messer Celsi hatte ihn mit gro?en Netzen ausfischen lassen, und nur wenige gro?e und zahlreichere kleine Fische waren dem Raubzug entgangen.
        Der Teich lag unbewegt im Licht der Sonne, die hoch im Mittag stand. Keiner schien in der Nahe zu sein. Wer sollte auch zu dieser Stunde an den einsamen Ort kommen? Die Glasmacher standen bis in den Abend hinein vor den gluhenden Ofen, die Bootsbauer setzten kunstfertig die Planken und Bretter zusammen, die Bauern und Tagelohner arbeiteten auf den Feldern, die Maurer und Steinbauer bauten an den Palasten der Grafen, Herzoge und reichen Kaufleute, und die Bettler und Gaukler und Handler trieben sich vor den Kirchen und auf den Platzen herum oder gingen von Haus zu Haus ihren verschiedenen Geschaften nach.
        Im Schilf versteckt lag das Boot, das vor Wochen noch, halb mit Wasser gefullt, neben dem bruchigen Holzsteg gelegen hatte. Giovannis Vater, der gute Ernesto, wie er von den Arbeitern genannt wurde, hatte es wieder flottgemacht. Er konnte Giovanni nichts abschlagen.
        Die beiden Jungen und Giannina sprangen den sandigen Abhang hinunter, wateten durch brusthohes Schilf zum Boot und kletterten hinein.
        Giovanni setzte sich auf die Steuerbank. Giannina und Marco lie?en sich in der Mitte des Bootes auf die Planken nieder. Es war so seltsam still, da? man annahm, jeden Augenblick musse etwas Besonderes geschehen. Die Blatter der beiden Birken auf dem Steilufer zitterten, eine Wildentenfamilie raschelte im Schilf, und hier und da plumpste etwas ins Wasser, als fiele ein Stein hinein.
        ëFrosche», sagte Marco.


        Giovanni hatte sich so gesetzt, da? Giannina seinen Rucken nicht sehen konnte. Immer, wenn das Madchen in der Nahe war, litt er unter seiner verwachsenen Gestalt. Manchmal glaubte er, ein boser Geist habe ihm den Hocker angehext. Einmal war er in seiner Verzweiflung zum alten Francesco gelaufen, von dem man sagte, da? er aus heilkraftigen Pflanzen Zaubertranke herstellen konne, und hatte ihn um ein Mittel zur Entfernung des Hockers gebeten. Francesco aber hatte ihm nicht helfen konnen. ëMach dir nichts daraus, mein Sohn», hatte er gesagt. ëDu hast doch kraftige Arme und einen Brustkorb wie ein griechischer Athlet. Was macht schon der kleine Hocker? Gott hat dir gute Augen und eine herrliche Stimme gegeben. Geh, mein Sohn, sei nicht traurig!» Diese Worte hatte sich Giovanni tausendmal wiederholt, aber die Schwermut in seinem Wesen wollte nicht weichen.
        Giannina las die Gedanken des Freundes in den feinen Linien seines Gesichtes. Und sie wollte, da? er froh sei. Aber es war nicht leicht, die richtigen Worte zu finden. So redete sie alles durcheinander, was ihr gerade einfiel. ëHort, wie die Vogel singen! Dort am Himmel eine wei?e Wolke! Wie ein Schiff! Ein Krebs, sieh, Giovanni, ein Krebs!» Jeden Augenblick entdeckte sie etwas Neues.
        Giovannis Gesicht hellte sich auf.
        Sie sagt das alles nur, um Giovanni aufzuheitern, dachte Marco. ëSoll ich euch nun die Geschichte von dem Edelstein erzahlen?» fragte er laut. ëOder wollen wir erst hinausrudern?»
        ëIm Schilf ist es kuhler. Und keiner kann uns entdecken. Erzahle, Marco!» bat Giovanni. Er zog die Knie an, umspannte sie mit den Armen und legte den Kopf lauschend zur Seite.
        Marco begann: ëIch werde es so erzahlen, wie ich es auf der Piazzetta gehort habe. Und der Geschichtenerzahler hat geschworen, da? jedes Wort wahr sei. Hort also: In Toulouse wohnte ein Graf, der eine schone Tochter besa?. Er lebte mit seinem Nachbarn Don Fernando, Graf von Barcelona, seit langen Jahren in Fehde. Eines Tages aber, mude des ewigen Kriegfuhrens, das wechselseitig beide Lander verwustete, schlossen sie Frieden und kamen zu einem Gastmahl zusammen, auf dem sie sich mit gro?ter Ehrerbietung begru?ten. Um den Friedensbund zu festigen, beschlossen sie, den Sohn des Don Fernando mit der schonen Julia, der Tochter des Grafen von Toulouse, zu vermahlen. Nun hatte der Graf von Toulouse seiner Tochter versprochen, ihr einen Gatten nur mit ihrer Zustimmung zu wahlen. Aber er hatte keine Sorge, denn der Jungling war von edler Gesinnung und bewegte sich mit feinem Anstand, wie es die franzosische Hoflichkeit verlangte. Die Eltern richteten es so ein, da? sich die beiden in Toulouse im Hause der Braut trafen. Julia und der Jungling verliebten sich gleich beim ersten Zusammentreffen. Uber die
Mitgift wurden sich die Eltern bald einig. Julias Vater hielt sie in guten Goldstucken bereit, die ihm der reiche Graf von Provence auf die Guter von Arles und Tarascon geliehen hatte.
        Nun besa? die schone Julia einen Diamanten von seltener Kostbarkeit. Er war so gro? wie ein Taubenei und funkelte im Sonnenlicht, da? man die Augen von ihm abwenden mu?te. Er strahlte wie eine kleine Sonne und tauchte die Umgebung in glei?endes Licht. Diesen Diamanten, den sie zur Hochzeit in Barcelona tragen wollte, vertraute Julia ihrem Verlobten an, damit er ihn wohlbehalten in sein Haus bringe.
        Der Jungling ritt nach herzlichem Abschied wohlgemut mit seinem Gefolge zur Kuste, wo sie ein Schiff zur Weiterfahrt erwartete. Ein boses Schicksal wollte es, da? sie unterwegs von normannischen Seeraubern, die sich bis in die katalonischen Gewasser gewagt hatten, angegriffen und nach kurzem, heftigem Kampf besiegt wurden. Die meisten aus dem Gefolge des jungen Grafen waren im Kampf gefallen, er selbst aber war wie durch ein Wunder unverletzt geblieben. Die Rauber plunderten das Schiff und schleppten die Gefangenen, von denen sie sich ein Losegeld erhofften, nach ihrem Schlupfwinkel auf der Insel Madeira. So fiel der kostbare Diamant, den die schone Julia zu ihrer Hochzeit tragen wollte, in die Hande der Seerauber und ist bis heute nicht wieder aufgetaucht.»
        Marco, der wahrend seiher Erzahlung aufs Wasser geblickt hatte, sah nun erwartungsvoll auf Giannina und Giovanni.
        ëUnd was ist mit dem Jungling geschehen?» fragte Giannina. ëErzahl doch weiter!»
        ëUnd Julia, die Braut?» fugte Giovanni hinzu.
        ëDer junge Graf ist freigelassen worden, nachdem die Seerauber das hohe Losegeld in Gold erhalten harten. Aber Julia war uber den Verlust des kostbaren Diamanten so erbost, da? sie ihrem Verlobten heftige Vorwurfe machte. Sie sagte, sie wurde ihn erst dann heiraten, wenn er den Diamanten wieder herbeigeschafft hatte.»
        ëEine schlechte Braut», sagte Giannina emport. ëIch hatte ihn geheiratet, und wenn er bettelarm geworden ware. Er kann nur froh sein, da? die Seerauber den Diamanten geraubt haben. Wenigstens hat er den schlechten Charakter seiner Braut kennengelernt.»
        Giovanni nickte zu Gianninas Worten. Aber Marco fuhr fort: ëDer Geschichtenerzahler hat weiter berichtet, da? der Jungling untrostlich uber Julias Worte gewesen ist und nun schon seit Jahren mit drei Schiffen nach den Seeraubern sucht, die den Diamanten erbeutet haben.»
        ëEin Esel ist er», sagte Giannina und zog verachtlich die Augenbrauen hoch. ëEr wird den Diamanten nie finden.»
        ëDas Meer ist weit», meinte Giovanni. ëWenn du am Strand des Lido stehst und aufs Meer hinausschaust, dann siehst du nur Wasser und Himmel. Und die gro?en Schiffe sind in der Ferne winzig kleine Punkte.»
        ëIch glaube, da? der Jungling den Diamanten finden wird», sagte Marco erregt. ëWenn man sich etwas fest vorgenommen hat, erreicht man es auch.»
        Die drei im Boot hingen noch eine Weile ihren Gedanken nadi. Giannina meinte dann, da? sie sich das Leben auf einem Seerauberschiff gut vorstellen konne. Sie hatte nichts dagegen, an einem Streifzug der Seerauber teilzunehmen.
        ëMadchen kann man da nicht gebrauchen», sagte Marco.
        ëSo? Meinst du, der Anfuhrer der Seerauber hatte keine Braut?» fragte Giannina zornig. ëWenn wir drei auf einem Seerauberschiff waren, wurde ich Giovannis Braut sein.» Marco wollte spottisch auflachen. Aber als er Giovannis frohes Gesicht sah, unterdruckte er es.
        Sie ruderten auf das Wasser hinaus und blieben mitten auf dem Teich liegen. Marco geno? die Stille der Natur. In Venedigs Stra?en, auf den Kanalen und Platzen, an den Kais, wo die Schiffe anlegten, war es laut und erregend, so da? die Tage bis zu der Fahrt nach Murano wie ein Vogelschwarm eilig vorbeirauschten. In Venedig war sein Herz immer in Aufruhr. Hier bei den Freunden fuhlte er, wie die innere Unruhe wich. Er konnte ihnen alles sagen, was ihn bewegte. Sie horten ihm gespannt zu, wenn er davon sprach, da? er eines Tages mit einem Schiff uber das Meer fahren werde, um in den fernen Landern seinen Vater und seinen Onkel zu suchen; und sie glaubten fest daran, da? er seinen Vorsatz ausfuhren werde. Dieser Glaube half ihm uber viele Zweifel hinweg, die ihn qualten. Ja, so war es: Hier auf Murano dachte keiner daran, ihn drei Tage einzusperren, wenn er von seiner Lieblingsidee sprach. Er war nun schon vierzehn Jahre alt, konnte lesen und schreiben und hatte von Bruder Lorenzo viel Interessantes von fremden Landern und Stadten erfahren. Auch aus den Gesprachen der weitgereisten Kaufleute, der
Seefahrer und Kreuzritter hatte er hier und da einige Worte aufgefangen, die seine Vorstellung von den fremden Volkern erweiterten.
        ëMarco, wo bist du wieder mit deinen Gedanken?» rief Giannina und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. ëJagst du noch dem Diamanten nach? Stumm wie die Fische seid ihr heute. La?t uns ans Ufer fahren und Krebse fangen!» ëGiannina hat recht», sagte Giovanni. ëRudere ans Ufer, Marco.» Aber der Krebsfang wollte nicht glucken. Vergebens wateten sie im Wasser umher, kein Krebs war heute zu sehen. Da legten sich die beiden Jungen am Ufer in die Sonne, und Giannina lief, um Essen zu besorgen. Bald kam sie mit zwei Melonen und einem Kanten Wei?brot zuruck. Marco zog seinen Dolch, den er immer bei sich trug, heraus und zerschnitt die Fruchte. Das gelbe, saftige Fleisch schmeckte su? und duftete.
        Nachdem sie gegessen hatten, ruderten sie den Kahn wieder ins Schilf und machten sich auf den Weg nach der verfallenen Villa. Sie wollten sich auf die Steinstufen setzen und warten, bis Paolo kame. Marco holte seine Schuhe und Strumpfe aus dem Versteck neben der Holzbrucke und trug sie unter dem Arm. Es war angenehm, barfu?ig uber die sonnenwarme Erde zu gehen. Auf der Wiese rechts neben dem Pfad weidete eine Kuhherde.
        Sie gehorte dem Messer Celsi, der auch ohne Rschteich reich genug war, um seine beiden Tochter wie die Damen der Patrizier und Edelleute in Brokat und Seide zu kleiden.
        Noch immer lag die Lagune unbewegt, nur hier und da, wenn ein fluchtiger Windhauch daruber hinweghuschte, krauselte sich die Oberflache des Wassers. Die Sonne neigte sich langsam und stetig dem Abend zu. Der Gesang der Vogel klang mude, und die Heckenrosen hinter dem Zaun senkten die Kopfe.
        Giovanni hatte sich auf die Steine gesetzt und summte leise eine Melodie. ëSing, Giovanni», bat Giannina.
        Und Giovanni sang das alte Lied von den zwei Fischern, die auf das Meer hinausfuhren, mit den Wellen um ihr Leben kampften und am Abend mit reichem Fang zuruckkehrten.
        Seine Stimme klang so strahlend hell uber die Lagune, da? alles ringsumher versank. Die Melodie wehte bis zu den Fischern hinaus. Sie verga?en die Netze und wandten die Kopfe dem Sanger zu, der jetzt auf den wei?en Stufen stand und die Arme ausgebreitet hielt. Paolo, der sich mit schnellen Ruderschlagen naherte, lie? die Ruder sinken und blieb unbeweglich auf der Lagune liegen. Der Himmel und das Wasser umfingen die Insel wie glaserne Mauern, die die Tone zuruckzuwerfen schienen.
        Giannina sa? zu Fu?en des Freundes und sah unverwandt zu ihm hinauf. Sein Gesicht hatte sich verandert, die Augen leuchteten noch heller als sonst, und um den Mund und die Augen lag das stolze, trotzige Lachen der Fischer, die mit ihrem Boot das Wasser bezwangen und im Toben des Sturms ihren Mut und ihre Kraft erprobten.
        ëGiovanni singt!» Ganz leise formten Gianninas Lippen diese Worte. Und der Gesang war fur sie wie ein Wunder.
        Marco stand am nahen Zaun und spurte nicht den betaubenden Duft der Rosen. Er sah, wie der Schatten des Feigenbaumes auf die Steine fiel, er sah Giannina und Giovanni, er nahm die Marmorsaulen und den sonnenglanzenden, silbernen Wasserspiegel wahr. Das alles gehorte zu der Melodie und den Worten, die der Freund in der weichen venezianischen Mundart sang. Marco fuhlte seine Krafte wachsen. Er war bereit, eine Heldentat zu vollbringen. Der Gesang gab ihm gro?e und kuhne Gedanken ein.
        Als Giovanni geendet hatte, sagten sie eine ganze Weile kein Wort. Sie lauschten nach dem Wasser, auf dem das Lied noch nachzuklingen schien.
        ëSdion hast du gesungen, Giovanni», sagte Giannina dann.
        Paolo, Marcos Diener, nahm die Ruder in die Hande und steuerte auf die Villa zu. Die Fischer achteten wieder auf ihre Netze, kleine Wellen spulten um die Eichenstamme, die in den Grund des Wassers gerammt waren, um den Schiffen der Kauffahrer den Weg zu weisen.
        Marco zog sich Strumpfe und Schuhe an. Er gab Giannina die Hand und umarmte den Freund. ëWunderbar kannst du singen, Giovanni! Bald komme ich wieder!» Dann sprang er behende ins Boot. Paolo lachelte den Kindern freundlich zu und stie? das Boot ab.
        ëAddio Giannina! Addio Giovanni!» rief Marco und winkte noch lange den Freunden.
        Uber den Palasten, Kirchen und Hutten von Venedig stand der Sonnenball, das helle Blau des Himmels ging in ein zartes Rosa uber. Marcos Boot verschwand im sommerlichen Dunst. ëKomm, Giannina», sagte Giovanni. ëIch helfe dir Wasser tragen.»



        EIN KNABE MUSS VERSCHWINDEN

        NACHTLICHES DUNKEL LAG UBER VENEDIG. DIE Stra?en und Kanale wurden von den in weiten Abstanden aufgehangten Ollampen sparlich erleuchtet. Manche brannten nur in der ersten Halfte der Nacht, weil die gewinnsuchtigen Olpachter mit dem Ol sparten. Die vom Senat in den einzelnen Sestieren eingesetzten Signori di notte, die den Polizeidienst leiteten und nachtliche Diebstahle, Raub und Mord aburteilten, hatten schon mehrere Olpachter mit empfindlichen Geldstrafen belegt, weil sie durch ihren Geiz die offentliche Sicherheit gefahrdeten.
        Eines Nachts war sogar ein hoher Beamter der Signori di notte, ein peinlicher Nachtrichter, von einer Diebesbande uberfallen worden. Sie raubten seinen scharlachroten Mantel und die Geldborse und wollten ihm gerade den Finger abschneiden, um in den Besitz eines kostbaren Ringes zu kommen, als einige Arsenalarbeiter dem Edelmann zu Hilfe eilten. Die Diebe verschwanden, als hatte die Nacht sie verschluckt, und der Richter kam noch einmal mit einem Schrecken davon.
        Es war gefahrlich, um diese Zeit durch die schmalen, ungepflasterten Stra?en zu gehen. Besonders dunkel war es im Sestier di Castello, in der Nahe des Arsenals, das mit seinen Mauern wie eine Burg, rings umgeben von Wasser, dalag. In diesen machtigen Gebauden waren die wichtigsten Werkstatten der Stadt untergebracht, in denen die geschickten Hande der Handwerker die Schiffe bauten und vom Ruder bis zum Segelwerk ausrusteten. Hier waren nach den Seeschlachten mit den Normannen oder Genuesen die beschadigten Schiffe repariert worden. Hier befand sich das riesige Waffenlager der Stadt, hier lagen Kauffahrerschiffe, Kriegsschiffe und Galeeren.
        Gegen die zweite Nachtstunde naherte sich eine Barke dem an der Wasserseite liegenden Eingang. Zwei Fackeltrager, einer im Vorderteil, der andere im hinteren Teil der Barke stehend, beleuchteten das dunkle Wasser. Vier Soldaten tauchten ohne sonderliche Eile im gleichma?igen Takt die Ruder ein und zogen sie zuruck. Hinter ihnen stand ein junger Offizier und spahte zu den beiden Wachturmen hinauf, die den Eingang links und rechts flankierten. Auf den Anruf der Wachposten sagte der Offizier die fur diese Nacht gultige Parole. Gleich darauf wurde das schwere eichene Schutzgitter aufgezogen, und die Barke glitt lautlos hinein.
        Pietro Bocco, einer der sechs Patroni dell'Arsenale, welche die Oberaufsicht uber die gesamte Verwaltung des Ortes fuhrten, hatte diese Nacht noch nicht geschlafen. Seine Stirn war gefurcht von den Gedanken, die ihn in den Nachten, da er als Patrone di guardia in einem besonderen Wachzimmer schlief, bedrangten.
        Als er drau?en Schritte horte, stand er auf, zog seine rote Weste zurecht und warf den violetten Rock uber. Nachdem der junge Offizier eingetreten war, meldete Pietro Bocco, da? im Gelande des Arsenals alles in Ordnung sei. Pietros Miene hatte sich mit einem Schlage verandert. Keine Spur von Mi?stimmung war mehr zu bemerken. Er plauderte mit dem Offizier wie mit einem Menschen, der eben eine gute Botschaft gebracht hat. Pietro Bocco verstand es, seine wahren Gedanken zu verbergen. Nur die grauen Augen behielten im Gesprach den kalten Glanz.
        Nach wenigen Minuten schon verlie? der Offizier, zufrieden, da? es keine Zwischenfalle gegeben hatte, das Wachzimmer und ging zu der wartenden Barke.
        Die Schildwache auf dem Mittelturm, die genau wu?te, da? der Offizier im Arsenal war, rief die Namen der Wachposten auf den ubrigen Turmen: ëDimitro!» ëErnesto!» ëBenedetto!» ëDanielo!» hallte es durch die Nacht. Und jedesmal antwortete der Angerufene mit einem lauten ëJa!» als Zeichen, da? er nicht schliefe.
        Das Eichengatter wurde aufgezogen und die Barke mit den bewaffneten Fackeltragern fuhr wieder in die Nacht hinaus.
        Pietro Bocco setzte sich in den mit Holzschnitzereien reichverzierten Stuhl, stutzte die Unterarme auf den Tisch und starrte in das trube Licht der Lampe. Es war so wie jede Nacht. Er horte die Rufe der Schildwachen und stellte sich im Geiste vor, wie die Patrouille rings um die dicken Mauern des Arsenals ging. Das waren Gedanken, die am Rande seines Bewu?tseins waren. In Wirklichkeit kreisten sie nur um den einen Hauptgedanken und tasteten sich wie Diebesfinger immer naher an ihn heran.
        Es war so wie jede Nacht, aber in seinem Gesichtsausdruck lag etwas, das anzeigte, da? heute die Entscheidung fallen wurde. Woher kam plotzlich die Mudigkeit in seinem schmalen Gesicht, das durch den ergrauten Spitzbart noch schmaler wirkte? Waren es die nachtelangen Uberlegungen und inneren Kampfe, die ihn so mude machten, oder schopfte er Kraft fur die bevorstehenden Handlungen? Pietro Bocco, Patrone dell'Arsenale, schlo? die Augen und neigte den Kopf uber die Tischplatte.
        Das matte Lampenlicht spiegelte sich in der Fenstersdieibe. Ganz fern klangen jetzt die Rufe der Schildwache: ëDimitro!» ëErnesto!» ëDanielo!» ëBenedetto!» Die Zeit verrann unendlich langsam.
        Das letzte kaufmannische Unternehmen des Pietro Bocco war nicht glucklich gewesen. Zwei Schiffe mit Glaswaren, Tuch und Goldschmiedearbeiten waren in die Hande kroatischer Seerauber gefallen. Dachte der einsame Mann in der Wachstube jetzt an diesen Verlust? Sein Vermogen war zusammengeschrumpft. Aber Kaufleute wie Pietro Bocco lassen sich nicht so schnell zu Boden werfen; sie sind zah und schiau, und wenn es um Gold und Dukaten und politische Macht geht, sind sie bereit, mit dem Teufel zu paktieren.
        Pietro schlief. Sein Kopf lag auf den Unterarmen, der Lichtschein fiel auf die grauen Haare. Es war kein beruhigender Schlaf; schon nach kurzer Zeit hob er den Kopf und sah benommen auf die Fensterscheibe. Er glaubte das Gesicht des Knaben, das ihm im Traum erschienen war, darin zu erblicken. Es war das Gesicht Marco Polos, seines Neffen, das er auf der dunkel schimmernden Scheibe sah. Argerlich wischte er sich mit der Hand uber die Augen, drehte sich um und ging im Zimmer auf und ab. Dann offnete er die Tur und rief den Wachposten. Eilig griff dieser nach seiner Pike und trat ins Zimmer.
        ëGeh, hol mir den Sdireiber Luigi!»
        ëJawohl, Herr!»
        Der Posten lief schnell den Flur entlang, ging im normalen Schritt die Treppe hinunter und tappte dann langsam uber den Hof, der Wohnung Luigis zu. Er murmelte argerliche Worte uber die Verrucktheit des Patrone, mitten in der Nacht einen armen Schreiber wecken zu lassen.
        Die Entscheidung war gefallen. Wenn alles nach dem Kopfe des Pietro Bocco ging, wurde er bald im Besitz des Vermogens von Nicolo Polo sein; und dann hatte er Geld genug, um den Wahlherrn seines Sestiers, den vornehmen Messer Morosini, zu veranlassen, ihn als Senator zu wahlen.
        Senator Pietro Bocco. - Nur Marco Polo, der Erbe seines Schwagers, war ihm noch im Wege. Mit der Heimkehr Nicolo Polos war ja nicht mehr zu rechnen. Und die Schiwester wurde den Schmerz uber den Verlust ihres Sohnes nicht uberleben.
        Pietro steckte seinen Kopf zum Fenster hinaus und sah die unzahligen Sterne am Himmel. Es war eine milde Nacht, ein leiser Wind fachelte Kuhlung. Im Wasser spiegelten sich die Sterne, unruhiger Schein von Fackeln huschte daruber hin. Vom Holzlagerplatz kam der wurzige Geruch des Buchen- und Tannenholzes, das von den Zimmerleuten zu Masten und Rudern verarbeitet werden sollte.
        Senator Pietro Bocco! Wenn er erst Senator ware und wieder Patrone dell'Arsenale wurde, brauchte er diesen entwurdigenden Nachtdienst nicht mehr zu leisten. Das bliebe den anderen drei Patroni vorbehalten, die nicht im Senat sa?en. Er hatte es dann auch nicht mehr notig, im Arsenal zu wohnen, sondern konnte sich drau?en frei bewegen und fande genugend Zeit, vorteilhafte Handelsgeschafte abzuschlie?en.
        Die Arsenalarbeiter nannten den Palast, den er im Arsenalgelande bewohnte, die ëHolle». Und sie hatten recht mit dieser Bezeichnung. Der Aufenthalt in diesem dusteren, ungemutlichen Bau war nicht angenehm. Der zweite Palast, in dem Paolo Fragipani wohnte, hie? ëFegefeuer» und war nicht gemutlicher als Pietro Boccos Behausung. Der Palast des dritten Patrone dell'Arsenale aber wurde ëParadies» genannt.
        Pietro Bocco erinnerte sich, da? er in dem geheimen Kampf um die beste Wohnung im Arsenal unterlegen war, weil er dem verantwortlichen Senator nicht so viel Dukaten bieten konnte wie die beiden anderen Bewerber. Alles hing vom Geld ab. Und Geld verdiente man, wenn man Schiffe ausrusten und in die Hafen von Byzanz und Alexandria, an die Kusten Frankreichs, Spaniens, Englands, Portugals, Nordafrikas und Kleinasiens entsenden konnte. Besonders der Handel mit den Waren aus dem Nahen und Fernen Osten brachte hohen Gewinn.
        Pietro Boccos Augen gluhten, wenn er daran dachte, wie Kaufmannsfamilien, vor Jahren noch unbedeutend, zu Reichtum gekommen waren. Mit dem Reichtum waren sie auch zu gro?em politischem Einflu? gelangt, waren entweder Mitglieder des Senats geworden oder hatten eintragliche Stellen als Gesandte an den fremden Hofen erhalten. Und er war auf dem besten Wege gewesen, einen ahnlichen Aufstieg zu nehmen, bis das mi?gluckte Handelsunternehmen seine ehrgeizigen Plane durchkreuzt hatte.
        Der Mann trat zuruck und schlo? das Fenster. Er wu?te, da? er vor diesen Gedanken keine Ruhe finden wurde. Sie zwangen ihn, immer und immer wieder daran zu denken, da? es nur diese einzige Moglichkeit fur ihn gab, schnell zu Geld zu kommen.
        Da horte er drau?en Schritte. Es klopfte; zogernd trat der Schreiber Luigi Farino ein und verbeugte sich. ëDa bin ich, Herr! Was wunscht Ihr?»
        Pietro Bocco hatte sich in seinem Sessel aufgerichtet. Durchdringend sah er den Schreiber an. Aber Luigi war keiner, dem man Furcht einflo?en konnte. Es war bekannt, da? ihn nichts aus der Fassung brachte. In seinem unbewegten Gesicht war nie abzulesen, ob er Schmerz oder Freude, feige Angst oder zornigen Mut spurte. Er hatte Pietro Bocco und anderen Herren mehrmals vertrauliche Dienste geleistet. Man wu?te seine Verschwiegenheit und kalte Ruhe zu schatzen.
        ëSetz dich, Luigi!» Der Patrone wies auf den Stuhl vor seinem Tisch. Er versuchte dem kalten Glanz in seinen Augen einen freundlichen Schimmer zu geben. Einen winzigen Augenblick dachte er sogar daran, von seinem Vorhaben abzusehen. Luigis glatte, unbeteiligte Miene behagte ihm nicht.
        Aber er befreite, sich schnell von diesem fluchtigen Gedanken und sagte plotzlich: ëEin Knabe mu? verschwinden, Luigi!»
        Der Schreiber blickte den Patrone unverwandt an. Sein Gesicht sah aus, als hatte ihm einer ëBuon giorno» gewunscht.
        Ein unangenehmer Bursche, dachte Pietro Bocco. Aber ich brauche ihn. Laut sagte er: ëNa, Luigi?» ëDas kommt darauf an, Herr, wievielÅ»
        Pietro Bocco winkte argerlich ab. ëDu wei?t, da? ich fur gute Dienste gutes Geld zahle!»
        ëVerschwinden soll der Knabe, Herr?» fragte Luigi. ëWie soll ich das verstehen?»
        ëGanz einfach», erwiderte der Patrone mit harter Stimme, ëer darf nie wieder in Venedig oder dort, wo Venezianer Einflu? haben, auftauchen!»
        ëJawohl, Herr!»
        Pietro Boccos schmales Gesicht mit den zusammengekniffenen Lippen und der edlen Stirn sah duster und entschlossen aus. Jetzt gab es kein Zuruck mehr. Er zog seine Geldborse heraus und zahlte funfundzwanzig Dukaten auf den Tisch. ëDie anderen funfundzwanzig bekommst du, wenn du meinen Auftrag erfullt hast.»
        Er beugte sich uber den Tisch und nannte leise den Namen des Knaben.
        Luigi strich gleichmutig das Geld ein und schlurfte hinaus.


        GIANNINA

        DAS DUNKLE, ZIERLICHE MADCHEN WOHNTE MIT seinen Eltern in einem Holzhaus, zu dem ein kleiner Garten gehorte. Es kam nicht oft vor, da? sie einen ganzen Nachmittag frei hatte, zu Hause gab es viel zu tun. Der Vater war Meister in der Glashutte und arbeitete bis zum Abend. Daheim sa? er grubelnd am Tisch und legte Proben von Spiegelglas vor sich hin, prufte sie im Dammerlicht und Kerzenschein, sah viele Male hinein und lie? die Gegenstande des Zimmers oder der Natur sich widerspiegeln. Er sann daruber nach, wie man die begehrten Spiegel von Murano, die selbst der byzantinische Kaiser lobte, noch schoner und vollkommener herstellen konne.
        Gianninas Vater betrachtete die einzelnen Spiegelarten, die ein anderer kaum voneinander unterscheiden konnte, mit geubten Augen. Fur ihn hatte jeder Spiegel eine Seele. Der eine war lugnerisch und falsch, der andere offen und wahrheitsliebend, der dritte hoffartig und kalt wie ein verwohnter Furstensohn. Sie waren vor allem durch die Art und Weise, wie sie die Linien und Farben des Gesichtes wiedergaben, voneinander verschieden. Der eine lobte und schmeichelte, der andere zeigte unbestechlich jede Runzel, der dritte schimmerte in au?erer Pracht, nahm aber jede menschliche Warme weg.
        Gianninas Vater wollte einen Spiegel schaffen, der nicht nur das Au?ere des menschlichen Antlitzes, sondern auch das, was das Leben hineingeschrieben hatte, wiedergab. Er war von Natur ein stiller, versonnener Mann, der nur wenig Worte machte. So lebte er neben seiner Tochter Giannina dahin und wu?te nichts von ihr. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, einem Spiegel menschliches Gefuhl einzuhauchen, und verga? daruber die nachsten Menschen, die mit ihm lebten.
        Vielleicht war das der Grund fur die Gefuhllosigkeit und den Kramergeist von Gianninas Mutter. Sie war fruher anders gewesen. Moglich auch, da? die Umgebung im Kloster sie bose gemacht hatte. Wenn sie von ihrer Arbeit aus dem Kloster oder von einem ihrer geheimnisvollen Botengange in das vornehme Rialtoviertel am Canal Grande nach Hause kam, fand sie fur die Tochter kein gutes Wort. Sie suchte nach einem Vorwand, um mit ihr schimpfen zu konnen; und wenn sie schlecht gelaunt war, schlug sie das Madchen. Haufig drohte sie, Giannina als Magd zu vermieten. Sie verlangte von ihrem Mann schon seit einem Jahr, da? er seine Zustimmung gabe. Aber er hatte sich bis jetzt geweigert.
        Giannina war nun zwolf Jahre alt geworden. Das freudlose Vaterhaus hatte ihr die kindliche Lust am Leben nicht nehmen konnen. Sie war temperamentvoll und ubermutig, wenn sie mit den Freunden durch die Insel streifte. Und Giovanni, der im Nachbarhaus wohnte, horte sie zu Hause bei der Arbeit singen. Es klang wie Vogelgezwitscher. Nachts aber, wenn sie auf ihrem Bett lag und vor den vielen ungeklarten Fragen, die sich vor ihr auftaten, nicht schlafen konnte, begann sie manchmal ohne einen besonderen Grund zu weinen. So war das Leben. Licht und Dunkel wohnten nebeneinander. Einmal bist du traurig, Giannina, dann lachst du wieder! Das kleine Menschenherz hat fur alles Platz, was es auf der Welt gibt, fur Sonne und Schatten, Gold und Bertlerlumpen.
        Schon waren die Stunden mit Giovanni und Marco gewesen. Acht Tage waren vergangen. Giannina freute sich schon auf die nachste Zusammenkunft. Aber Marco hatte Bescheid geben lassen, da? er erst Ende der nachsten Woche kommen konne. Also mu?te sie noch zehn Tage warten.
        An einem Abend nun kam die Mutter fruher nach Hause; sie war kaum ins Haus getreten, als sie schon mit freundlicher Stimme nach Giannina rief, die im Garten Aprikosen pfluckte.
        ëKomm, meine Tochter, stelle den Korb in die Ecke und setz dich! Ich will dir etwas sagen.»
        Verwundert sah Giannina ihre Mutter an. Was war geschehen? Hatte die Mutter einen besonders reichlichen Botenlohn erhalten, da? sie so guter Laune war? Der Vater war noch nicht zu Hause. Da standen die Aprikosen neben der Truhe und sahen aus wie kleine goldene Balle. Ihr lieblicher Duft erfullte das Zimmer. Die Mutter suchte nach Worten. Oder kam es Giannina nur so vor? Auf einmal hatte sie das Gefuhl, da? sie etwas Unangenehmes erfahren werde, etwas, das sie schon lange mit heimlicher Furcht erwartete.
        ëIch war beim Messer Celsi, meine Tochter. Eben komme ich vom Messer Celsi. Ein feiner, gro?zugiger Herr! Sieh, er hat mir gleich funf Zechinen Angeld gegeben.»
        Die Mutter legte die Geldstucke auf den Tisch und betrachtete sie mit gierigen Augen.
        ëEin feiner, gro?zugiger Herr», wiederholte sie noch einmal leise. ëDu wirst zu ihm als Magd gehen!» sagte sie plotzlich mit veranderter Stimme. ëKriegst ein feines Kleid, mein Tochterchen, der Messer Celsi meint es gut mit dir. Freust du dich gar nicht? Undankbare du! Deine Mutter rennt von fruh bis spat, um dich zu versorgen, und du sitzt da wie ein Steinklotz. Kannst du nicht reden?»
        Gianninas Mutter bewegte sich emsig in der Stube hin und her und vermied es, die Tochter anzusehen.
        Das Madchen sa? auf dem Stuhl und ruhrte sich nicht. Eben hatte sie noch Aprikosen gepfluckt und war froh gewesen, weil die Sonne schien, weil der Wind in den Baumen rauschte und alles im Garten so kraftig gedieh. Das Haus, der Garten, die vielen Spiegelglasproben, die uberall in den Zimmern herumlagen, Giovannis Gesang im Nachbargarten, die glucklichen Stunden mit den Freunden - das wurde bald nur eine schone Erinnerung sein.
        ëO Mama mia!» schluchzte das Madchen. ëWi?t Ihr nicht, da? Messer Celsi seine Magde schlagt? Messer Celsi ist ein boser Mann. Alle wissen es, Mama!»
        ëRed nicht solchen Unsinn, Madchen!» sagte die Mutter bose. ëMesser Celsi ist ab morgen dein Dienstherr. Hute dich, ihm Schlechtes nachzusagen.»
        Als der Vater nach Hause kam, gab es eine Auseinandersetzung zwischen ihm und seiner Frau. Aber die wahrte nur kurze Zeit, die Frau setzte ihren Willen durch.
        Er hatte einen Spiegel mitgebracht, der von zauberhafter Schonheit war, und glaubte, bald am Ziel seiner Wunsche zu sein. Mit einem besonderen Schleifverfahren wollte er ihm den feinen Schmelz verleihen, der notig war, um die zartesten Farben und Schattierungen widerspiegeln zu konnen.
        ëEinmal mu? das Madchen mit dem Arbeiten anfangen, je fruher, desto besser. Der Messer Celsi interessiert sich wirklich sehr fur sie. Ein feiner, gro?zugiger Herr. Ach, da stehen ja noch die Aprikosen. I?, Pietro, i?!»
        ëWo ist sie?» unterbrach er den Redeschwall seiner Frau. ëWo soll sie sein? Druben, beim Giovanni, die faule Dirne.»
        ëHol sie!»
        Gianninas Mutter horchte auf. Das klang wie ein Befehl. Schon lange hatte sie diesen Ton von Pietro nicht gehort. Sie lief in den Garten und rief ihre Tochter. ëGiannina, Giannina, wo bist du denn? Komm schnell, der Vater will dich sprechen.»
        ëSie kommt ja schon, Nachbarin!» Das gutmutige Gesicht des Steinbauers Ernesto tauchte uber der grunen Hecke auf, die die beiden Garten trennte. ëTreibt's nicht gar zu arg mit ihr, Elena!» sagte er ernst.
        ëKummert Euch um Eure Sachen!» erwiderte Gianninas Mutter spitz. ëSie hockt mir viel zu oft bei Giovanni druben. Ihr solltet besser darauf achten, Ernesto.»
        Giannina kroch durch die Hecke und kam zu ihrer Mutter. Sie hatte die Tranen abgetrocknet; alles war so schnell geschehen, da? sie es noch gar nicht richtig fassen konnte.
        Der Vater erwartete sie mit ruhigem Gesicht und sah sie prufend mit seinen versonnenen Augen an.
        ëDu hast geweint, Nini? Aber das ist doch alles nicht so schlimm. Einmal mu? man von seiner Kindheit Abschied nehmen.»
        Giannina umarmte ihren Vater und weinte zum Herzerbarmen. Er legte den Arm um sie und zog sie fest an sich. ëNicht weinen, Nini, nicht weinen!»
        Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, erzahlte er ihr von seiner eigenen Kindheit. ëIch mu?te in die Glashutte gehen, als ich zehn Jahre alt war. Schwer war die Arbeit, kleine Nini. Aber du wei?t, deine Gro?eltern waren arme Fischersleute, da kam es auf jeden Soldo an. Der arme Mensch mu? sich sein Brot schwer verdienen. So ist das nun einmal. Du bist doch schon ein gro?es Madchen, zwolf Jahre alt, und schon wie eine Rose. Hier, schau dich in diesem Spiegel an! Na, was sagst du dazu?» Giannina mu?te gegen ihren Willen lachen, als sie ihr verweintes Gesicht im Spiegel sah.
        ëDa lacht sie schon wieder, Elena», sagte Pietro zu seiner Frau. Die Mutter spurte, wie ihr das Herz warm wurde. ëDu mit deinen Spiegeln», sagte sie und wischte sich mit dem Handrucken uber die Augen, ëhast deine ganze Seele an die kalten Spiegel verschenkt.» Und zu Giannina: ëKannst ja immer noch deinen Giovanni besuchen, wenn du frei hast! Damit ich's nicht vergesse, die KuchenkrauterÅ» Sie eilte in den Garten hinaus. den Garten hinaus.


        ëDie Mama meint es nicht schlecht mit dir, Nini. Es wird schon alles gut werden.»
        Giannina hielt noch immer den Spiegel in der Hand. ëFein ist er, Papa. Wie das Quellwasser, wenn die Sonne daraufscheint.»
        Der Vater erhob sich und zundete eine Kerze an. ëJetzt geh ganz dicht heran mit deinem Gesicht und beobachte die Farben in deinen Augen!»
        Giannina betrachtete sie und sagte verwundert: ëGro?e Augen habe ich, Papa. Sie sehen mich wie fremde Augen an. Dunkel sind sie, und die Kerze steht darin, ganz klein, und Euer Gesicht. Aber die Farben kann ich nicht unterscheiden. Alles ist so dunkel, Papa. Wenn die Sonne schiene!»
        ëMan mu? die Farben auch beim Kerzenschein genau erkennen konnen», erwiderte der Vater.
        Er war mit den Gedanken schon wieder ganz bei seiner Arbeit.
        Messer Celsi war gro? und sehr hager. Eine pechschwarze Haarstrahne fiel ihm in die Stirn; er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, sie alle Augenblicke zuruckzustreichen, so da? man sich wundern mu?te, da? er daneben noch Zeit fand, seine umfangreichen Geschafte zu tatigen.
        Er besa? Viehweiden mit gutgenahrten Schafen, Kuhen und Ochsen, auf seinen Ackern reifte der goldene Weizen, in den Garten wurde Gemuse geerntet und jeden Morgen auf Kahnen nach den Gemusemarkten am Marcusplatz oder an der Ponte della moneta geschafft.
        Messer Celsi herrschte uber eine Schar von Knechten und Magden. Er war ein gestrenger Herr, der seine Nase in alles steckte und die Magde prugelte, wenn es ihm in den Sinn kam. Neben seinem Land und einem aus teuren Ziegeln auf einem Fundament lebendiger Steine erbauten Haus gehorte ihm eine Glashutte, in der Fenster- und Spiegelglas hergestellt wurde.
        Seine beiden Tochter, Giulietta und Angela, waren dick und schon und lebten in standiger Sorge, da? sie noch dicker werden wurden.
        Messer Celsi ging jeden Morgen zur Kirche und hatte schon viele Kerzen zu Ehren der Heiligen gestiftet.
        Es war ein ergotzliches Bild, wenn die Eheleute, gekleidet wie venezianische Patrizier, in einer Kutsche zur Kirche fuhren: er, aufgerichtet und steif wie ein Stock, die Signora rund und klein, mit einem Doppelkinn, das bis auf die Perlenkette hing.
        Eigentlich war es erstaunlich, da? Messer Celsi bei seiner uppigen Lebensweise so hager blieb. Er a? gern fette Kapaune und trank dazu franzosische, griechische oder spanische Weine. Der Kapaun mu?te auf eine besondere Art zubereitet sein, knusprig am Spie? gebraten, das Innere mit Zwiebeln und allerlei wurzigen Krautern gefullt. Und die Federn am Kopfe durften weder ausgerupft noch versengt sein.
        Giannina wu?te das nicht. Die Magd hatte ihr nichts davon gesagt. Wahrscheinlich war sie erbost, weil die Neue vom ersten Tage an in der Kuche arbeitete. Giannina hatte voll Eifer und in standiger Angst, etwas verkehrt zu machen, das Feuer geschurt, Wasser getragen, den Spie? gedreht und das Geflugel mit Fett ubergossen. Es duftete in der Kuche wie an einem Bratstand auf der Piazza. Der Rauch beizte ihr die Augen, so da? sie kaum etwas sehen konnte. Sie achtete nicht darauf, da? die Flammen die Kopffedern des Kapauns versengten, und war im Gegenteil bemuht, sie ganz zu entfernen.
        Die andere Kuchenmagd warf ab und zu einen Blick zum Feuer und bemerkte wohl, was Giannina anstellte. Nach einer Weile schlug sie ent setzt die Hande zusammen und sagte scheinheilig: ëO Giannina, was hast du getan? Den Federputz, die schonen Kopffedern! Der Herr wird bose sein. Ich mu? schnell Wasser holen!»
        Damit verschwand sie und lie? sich in der nachsten halben Stunde nicht wieder blicken.
        Giannina sah ihr kopfschuttelnd nach und hatte gar keine Zeit, sich uber das sonderbare Wesen der Magd zu wundern. In diesem Augenblick trat Messer Celsi in die Kuche und sagte wohlgelaunt: ëNa, was macht mein Kapaunchen?»
        Er schob die Haarstrahne zuruck und schnupperte mit geschlossenen Augen den feinen Bratgeruch. Dann trat er zu dem Bratspie?, und sogleich schlug seine gute Laune, ein Nachklang des vorteilhaften Geschaftes, das er eben mit dem Viehhandler abgeschlossen hatte, in wilde, kreischende Wut um.
        Giannina bemerkte mit angstlichem Erstaunen, wie seine Halsadern anschwollen und sein Gesicht sich rot farbte.
        ëWas hast du angerichtet?» schrie er sie an. ëO du Dirne, du Faule, du schwarzaugige Diebin, was hast du mit meinem Kapaunchen gemacht? Ich schlage dich tot, du -- ". Er keuchte, als bekame er keine Luft mehr. Furchtbares war geschehen! Diese dreckige Magd mutete ihm zu, sein Kapaunchen ohne Kopffedern zu verspeisen.
        Messer Celsi hob die Hand und schlug mit aller Gewalt in das erschrockene Madchengesicht.
        ëGeh mir aus den Augen, du Diebin. Raus aufs Feld!»
        Er war trotz seiner Hagerkeit ein kraftiger Mann. Vom Kapaunenessen, zumal wenn die gemasteten Tierchen mit Kopfschmuck aufgetragen werden, wird man stark.
        Giannina taumelte gegen den Tisch und hielt sich an der Kante fest. Der zweite Schlag schien ihr fast das Gehor zu rauben, den dritten Schlag und die Fu?tritte spurte sie kaum noch. Und das Kapaunchen briet am Spie? munter weiter, wurde tiefbraun und knusprig und roch nach wurzigen Krautern und gutem Ol. Ein feiner, gro?zugiger Herr, der Messer Celsi?
        Die dicke, schone Giulietta schaute in die Kuche hinein, sah den zornigen Vater und das am Boden liegende Madchen.
        ëWas Ihr Euch immer so aufregt, Vaterchen. Ach ja, mit den Magden hat man viel Arger!»
        Giannina hatte noch nie solchen Ha? im Herzen gespurt. Sie lie? den Kapaun am Spie?e stecken. Sollte er verbrennen und die Stuben mit ublem Geruch fullen. Wie gejagt lief sie aus dem Haus, antwortete auf keine Frage, lief nur immer weiter, irgendwohin, wo keine Menschen waren. Wie ein Tier hatte er sie geschlagen; ihr Gesicht brannte, die Lippen waren aufgesprungen, und die Ohren schmerzten. Am Rand! des Fischteiches lie? sie sich ins Gras fallen. Ihr Herz klopfte rasend schnell.
        Die von Tranen verschleierten Augen sahen durch das Blatterdach eines Baumes den Himmel und die wei?en Wolken.
        ëEinmal ist die Kindheit zu Ende», hatte der Vater gesagt.
        ëSchau in diesen Spiegel», flusterte eine Stimme, ëwas fur schone Augen du hast. Kannst du die Farben sehen? Sie sind wie eine dunkl» Zypresseninsel in einem silbernen See. Nini, du darfst doch nicht weinen. Einmal ist die Kindheit zu Ende.

        Es war Giovannis Stimme. Aber Giovanni war doch gar nicht hier. Benommen richtete sich Giannina auf, sah den Teich, das Gras, die Baume und spurte den Wind und die Warme.
        Jetzt erst wurde ihr klar, was geschehen war. Der Unmensch hatte sie geschlagen, und sie wu?te nicht einmal warum. Was hatte sie nur getan? Undeutlich erinnerte sie sich an das Gesicht von Giulietta. Giannina ri? vor plotzlich aufwallender Wut einige Buschel Gras aus der Erde.
        ëKapaunenfresser! Kapaunenfresser!» schrie sie uber den stillen Teich. Und noch einmal: ëKapaunenfresser!»
        Ein Frosch sprang erschreckt ins Wasser. Es roch nach Sumpf und Schilf und Fisch.
        ëDer Teufel soll Euch holen, Messer Celsi!» pre?te sie zwischen den Zahnen hervor, hielt aber gleich darauf erschreckt inne. Verfinsterte sich nicht der Himmel, oder offnete sich die Erde? Sie sah scheu um sich. Nichts geschah.
        Die Baume wiegten sich im Wind.
        Giannina war ganz allein mit ihrem Ha?.



        EIN BETTLER BRINGT EINEN BRIEF

        HELL KLANG DAS LAUTEN DER GLOCKE AUF DEM San-Marco-Turm durch den Morgen. La Trotteria rief die Ratsherren und Senatoren zur Sitzung des Gro?en Rats zusammen. Sie lautete eine halbe Stunde lang, und wenn ihr letzter Ton verhallte, wurden die Turen zum Sitzungssaal im Palast des Dogen geschlossen. Wer zu spat kam, fand keinen Einla? mehr. Der Gro?e Rat bestand in diesem Jahre nur aus 318 Mitgliedern; eigentlich waren nach der Verfassung 480 vorgesehen, die von zwolf Wahlherren aus den vornehmsten und machtigsten Familien der sechs Sestieri der Stadt zu wahlen waren. Diesmal hatten sie nur 318 gewahlt, weil sie geringere Familien fernhalten wollten.
        Das Volk hatte bei der Wahl der Regierung nicht mehr mitzureden. Der Doge, das Oberhaupt der Stadt, und der Senat, der die eigentliche Gewalt ausubte, wurden von den Mitgliedern des Gro?en Rats gewahlt. Siebenundzwanzig Familien hatten 242 Vertreter im Gro?en Rat, siebenundzwanzig Familien, an ihrer Spitze die Contarini, die Quirini und Dandolo, die Morosini, die Michieli und Falieri bestimmten uber die Geschicke der Stadt, siebenundzwanzig Familien bekampften sich gegenseitig, zettelten Verschworungen an, lie?en unbequeme Bewerber um einflu?reiche Staatsamter aus dem Wege raumen, siebenundzwanzig Familien strebten danach, ihre Vertreter in die Signoria zu entsenden, die aus dem Dogen, seinen sechs oberen Raten und den drei Vorsitzenden der Quarantia, der peinlichen Gerichtsbarkeit, bestand.
        Hell klang das Lauten der Glocke auf dem San-Marco-Turm durch den Morgen. Die Edelleute setzten sich auf ihre Maultiere und Pferde oder stiegen in die bereitstehenden, mehr oder minder prachtig geschmuckten Barken.
        Die Tore des Dogenpalastes waren weit geoffnet. Eine Schar von Bettlern hatte sich versammelt. Sie waren in Lumpen gekleidet und trugen ekelhafte Geschwure zur Schau. Kam ein Ratsherr uber die Piazzetta geschritten, umschwarmten sie ihn wie ein Rudel hungriger Tiere und wichen nicht eher, als bis er einige Geldstucke auf das Pflaster geworfen hatte. Dann entspann sich ein wilder Kampf, der manchmal dazu fuhrte, da? die Schwachsten jammernd liegenblieben. Keiner kummerte sich um sie. Hatten sie sich etwas erholt, krochen sie zum Kai und bettelten die Lasttrager und Schiffer um eine milde Gabe an. Tausende Bettler lebten in der machtigen, bluhenden Stadt Venedig, der Konigin der oberitalienischen Stadte.
        An der Ponte della paglia, neben dem Dogenpalast, standen die Reittiere der Edelleute und wurden von den Bediensteten betreut.
        Marco Polo verlie? sein Haus, gru?te einen Senator, der gerade voruberritt, warf einen fluchtigen Blick auf den Balkon und ging schnell davon. Er hatte gestern abend, als er in Begleitung des getreuen Paolo vom Bruder Lorenzo kam, auf merkwurdige Weise einen Brief erhalten. Ein Bettler, in bunte Lumpen aus Samt, Leinen und mit Goldfaden besticktem Tuch gekleidet, hatte sich geschickt an Marco herangeschlichen und ihm, unbemerkt von Paolo, den Brief in die Hande gespielt. In diesem Brief wurde Marco aufgefordert, am nachsten Tage in der Morgenstunde in eine kleine Taverne hinter der Piazza zu kommen. Er wurde dort eine wichtige Nachricht erhalten. Den Brief soll er keinem zeigen und auch niemanden als Begleitung mitbringen.
        Marco empfand ein unangenehmes Gefuhl, als er sich an das Gesicht des Bettlers erinnerte. Fast war er versucht umzukehren, um Paolo zu bitten, ihm in einigem Abstand zu folgen. Aber dann reizte ihn das Abenteuer, so da? er allein weiterging und sich vornahm, auf der Hut zu sein. Im stillen hoffte er, eine Nachricht uber seinen Vater und seinen Onkel zu erhalten.
        Die Taverne lag in einer der verwinkelten Gassen hinter der Piazza. Sie stand in keinem guten Ruf. Hier ubernachteten Gaukler und Wahrsager, Hausierer und heruntergekommene Komodianten, Bettler und Scholaren - Leute, die von Stadt zu Stadt wanderten, um ihre Kunste zu zeigen oder auf irgendeine andere Art einige Soldi fur ihr jammerliches Leben zu verdienen. Auch Seeleute, die von fremden Schiffen desertiert waren, hielten sich hier manchmal fur einige Nachte verborgen. Aber das waren noch die harmlosesten Gaste, die sich meist rechtschaffen durchs Leben schlugen; naturlich gab es auch unter ihnen welche, die einen Griff in eine gefullte Borse nicht scheuten und bereit waren, fur einige Silberlinge die ubelsten Auftrage auszufuhren.
        Es gab nun eine besondere Art von Mu?iggangern, Bulis genannt, die sich die Taverne als bevorzugten Treffpunkt ausgesucht hatten. Sie standen im Dienst hochstehender Personen, die fur ihren Unterhalt sorgten und dafur auf ihre Dienste zahlten. Die geheimen Machtkampfe der vornehmen Familien wurden mit allen Mitteln gefuhrt. Ein Wink ihrer Herren genugte, um die Bulis in Bewegung zu setzen.
        Die Schergen sahen dem Treiben in der Taverne meist tatenlos zu, wu?ten sie doch, da? ihre Vorgesetzten es nicht gern sahen, wenn allzu hart durchgegriffen wurde.
        Aber die Herberge kannte auch ehrbare Gaste, auf die der stammige Wirt sehr stolz war. So erschien von Zeit zu Zeit der ehrenwerte Schreiber vom Arsenal, Luigi Farino, um ein Glaschen Wein zu trinken oder mit dem Wirt im Hinterstubchen ein Gesprach zu fuhren. Erst vorgestern war er in der Taverne gewesen. Allerdings hatte er sich nicht lange aufgehalten, noch nicht einmal ein Glaschen Wein hatte er getrunken, nur einige Worte mit dem Wirt gewechselt, dann war er gleich wieder gegangen, sichtlich bemuht, nicht von allzu vielen gesehen zu werden.
        Der Klang der Trotteria verstummte, ohne da? Marco es im Larm der vielfaltigen Gerausche wahrnahm. Er wand sich geschickt durch den Trubel des Fischmarktes. Die Handler boten mit gro?em Stimmaufwand die ëfrutti di mare», die Meeresfruchte, feil: Tintenfische, Achtfu?ler, Langusten, Calamaretti, riesige Mengen Krebse, gro?e und kleine Fische von seltsamster Gestalt. Es roch nach Meer und Sumpf und Wasserpflanzen; Hunde wuhlten in dem Unrat hinter den Verkaufsstanden; die Magde, die fur ihre Dienstherren einkauften, stritten sich mit den Handlern um die Preise; ohne nach rechts oder links zu sehen, schritten zwei Franziskanermonche in groben braunen Kutten durdi das Gewuhl, ihre nackten Fu?e in den Sandalen waren grau vom Staub der Gassen und Stra?en.
        Marco war froh, als er uber die Ponte della paglia, vorbei an den Maultieren und Pferden der Ratsmitglieder, zur Piazzetta gelangte. Er verspurte plotzlich Hunger und kaufte sich von einem Kastanienbrater die braungerosteten, wohlschmeckenden Fruchte.
        Nicht weit entfernt lagen im Canal von San Marco einige Schiffe, sie warteten die Hut ab, um dann durch den Canal ins Meer hinauszufahren. An ihren Masten flatterten die stolzen Flaggen mit dem goldenen Lowen, der das sanfte Gesicht des heiligen Marcus trug. Wie ein roter Sarg lag zwischen ihnen die Verbrechergaleere, das Gefangnis der in Seediensten der venezianischen Republik stehenden Personen.
        Der Wind wehte frisch und blahte die grauen, braunen und gelben Segel der Fischer-, Zoll- und Schergenboote.
        Marco war ganz in den Anblick des Lebens auf dem Wasser versunken. Die Segel taumelten wie Vogelschwingen uber die gekrauselte, in matten Farben schillernde Wasserflache. Eine zitternde Stimme drang an sein Ohr: ëIch bin ein armer alter Mann, o Herr, gebt mir eine milde Gabe. Habe noch nichts gegessen, o edler Herr. Gebt, gebt, damit ich nicht Hungers sterbe!» Der zerlumpte Bettler streckte flehend und begehrlich seine Hande aus. Marco gab ihm die ubriggebliebenen Kastanien und erntete tausend Dank und Segenswunsche, die ihm ein langes Leben und den sicheren Eintritt in das himmlische Paradies versprachen.
        Es gab keine Stadt, die so wie Venedig war. Marco war noch nie weiter als bis Fusino, Mestre und Padua gekommen, aber tief in seinem Innersten fuhlte er, da? Venedig etwas Einmaliges, Wunderbares war, ein Diamant unter den Stadten, mit grellem, goldenem Licht und dusterem, drohendem Schatten, geliebt und gefurchtet, eine machtige, tuchtige, unendlich reiche und unendlich arme Stadt, an der das Meer nagte, wie ein Biber an einem Baumstamm, der das Meer diente, wie der Teufel, der Gold und Marmor und Kupfer und Glanz uber sie schuttet und dabei grinsend die Hande reibt, weil er wei?, da? aller Reichtum, der auf vielen hunderttausend Eichenpfahlen gebaut ist, in machtigen Gewolben und geheimen Fachern aus kostbarem Holz und Elfenbein ruht, eines Tages ein Opfer des stetig nagenden Wassers werden wird. Aber jetzt lebte Venedig, bluhte wie ein Jungling, der ins Mannesalter tritt und, mit den reichsten Gaben der Natur ausgestattet, Wunder an Schonheit und kraftvollem Leben vollbringt.
        Drei Mohren, Diener des jungen Messer Morosino, gingen an Marco vorbei. Ihre Livree war so reich und bunt wie die Mosaiken in der Kirche des San Marcus und im Palast des Dogen.
        Der Bettler, von dem Marco gestern den Brief erhalten hatte, war in bunte Lumpen gekleidet gewesen, mit Gold- und Silberfaden durchwirkt, arm und bunt wie das Leben auf den Gassen, Kanalen und Platzen.
        Paolo, Marcos getreuer Diener, war seinem Herrn unbemerkt gefolgt. Er verbarg sich unter den Arkaden des Dogenpalastes und beobachtete, wie der junge Herr aufs Wasser sah und sich nur schwer vom Anblick der Schiffe trennen konnte. Gerade als Marco weiterging, wurde Paolos Aufmerksamkeit durch einen Jungen abgelenkt, der hastig an ihm vorbeieilen wollte. War das nicht Giovanni, Marcos Freund aus Murano?
        ëGiovanni!» rief Paolo verwundert. ëGiovanni, wohin so schnell?» Der Junge blieb stehen. Als er Paolo gewahrte, lief er zu ihm und sagte aufgeregt: ëGut, Paolo, da? ich dich treffe!» Er war au?er Atem und mu?te sich erst beruhigen, bevor er weiterreden konnte.
        ëPaolo, mein guter Paolo, ich mu? sofort Marco sprechen. Sag mir, wo ist Marco? Ich war schon in seinem Haus und habe von Maria gehort, da? er weggegangen sei. Hor doch, Paolo, ich mu? sofort Marco sprechen. Wei?t du denn nicht, was geschehen ist?»
        Paolo legte seinen Arm um Giovanni: ëAber was ist denn? Warum bist du so aufgeregt? Sieh, da ist er doch, dein Freund Marco. Er darf nicht merken, da? ich ihm folgeÅ»
        Als Paolo jedoch auf den Platz wies, wo Marco eben noch gestanden hatte, bemerkte er, da? dieser leer war.
        ëWo ist er nur, Giovanni?» fragte er ratlos.
        ëDort, er biegt zum Krautermarkt ein. Komm, Paolo!»
        Sie eilten durch das Gewuhl der Handler, Bettler und Tagediebe auf der Piazzetta und lie?en sich durch kein Hindernis aufhalten. Giovanni schlupfte geschwind voraus und beobachtete, da? der Freund in eine schmale, dunkle Gasse einbog. Wohin wollte er nur gehen? Giovanni und Paolo sahen sich fragend an. Sie hatten auf einmal das bange Gefuhl, da? Marco eine Gefahr drohe; Giovanni verga?, warum er wie gehetzt von Murano nach der Rialtoinsel geeilt war.
        Als sie endlich den Eingang der schmalen Gasse erreichten, sahen sie zu ihrer gro?en Erleichterung Marco langsam auf- und abschlendern, als warte er auf jemand.
        Die Luft zwischen den armseligen mit Stroh gedeckten Holzhausern roch nach faulem Wasser und Mull, der in Haufen vor den Eingangen der linken Hauserreihe lag. Au?er Marco war keine Menschenseele zu sehen.
        Am Ende der Gasse stand ein mit Stroh gedecktes Steinhaus, das durch eine schmiedeeiserne Schlange als Taverne erkennbar war.
        ëIch bleibe hier stehen», sagte Paolo leise. ëDer Herr darf nicht wissen, da? ich ihm gefolgt bin.»
        Die Glocken lauteten die neunte Morgenstunde ein.
        Ein mittelgro?er, sehniger Mann trat aus der Taverne, sah sich ruhig nach allen Seiten um und ging mit katzenartigen Schritten auf Marco zu.
        Der Wirt steckte den Kopf zur Tur hinaus, zog ihn aber gleich wieder zuruck.
        ëKomm, Sohnchen», sagte er zu einem Betrunkenen, der sich neben ihm durch die Tur zwangen wollte, ëda drau?en ist jetzt nichts los.» Mit kraftigen Handen packte er ihn an beiden Armen und brachte ihn wie eine Puppe in den kellerartigen Schankraum zuruck.
        ëSetz dich nur, Sohnchen, kriegst noch ein Weinchen.» Die vier Zecher am Tisch neben dem gro?en Fa? stritten sich beim Wurfelspiel so heftig, da? keiner den Zwischenfall bemerkte, zumal der Betrunkene zufrieden war, weil der geizige Wirt ihn zum Trinken eingeladen hatte. ëMarco, Marco!» rief Giovanni. Mit schnellen Sprungen lief er zu seinem Freund.
        Der Mann verlangsamte seine Schritte. ëVerdammt», knirschte er, ëwas will der Bucklige hier.» Seine Hand umspannte den Dolch in der Tasche.
        ëGiannina ist verschwunden, Marco!» sagte Giovanni. ëSeit gestern ist sie fort. Kein Mensch wei?, was mit ihr geschehen ist.»
        ëGiannina verschwunden?» fragte Marco erstaunt.
        ëGeh aus dem Weg, bucklige Krote!» rief der Mann, der jetzt neben den beiden Knaben war, und stie? Giovanni vor die Brust, da? er gegen die Hauserwand flog.
        Marco stand wie gelahmt auf seinem Platz und starrte auf Giovanni, der mit schmerzverzerrtem Gesicht am Haus niedersank. Giannina verschwunden? Der Satz fullte sein ganzes Denken aus. In der Hand des Mannes blitzte ein Dolch.
        ëMarco!» schrie Giovanni und schnellte sich mit den Beinen von der Wand ab. Wie eine Katze sprang er dem Mann auf den Rucken und zog mit kraftigem Ruck dessen Kopf an den Haaren zuruck. Dadurch konnte Marco dem Dolchsto? ausweichen. Der Mann fiel vornuber, schuttelte Giovanni gewandt ab und sprang wieder auf die Beine.
        ëElender Hund», knirschte Paolo. Er war nur noch wenige Schritte entfernt. Giovannis Schrei hatte ihn herbeigerufen.
        Der Mann lie? den Dolch fallen, lief wie gejagt durch die Gasse und verschwand um die Ecke. Paolo verfolgte ihn.


        ëKomm», sagte Giovanni. ëDu mu?t schnell weg von hier.» Er zog Marco, der noch unschlussig stehenblieb, am Arm.
        ëPaolo braucht uns jetzt nicht», sagte er, ëer wird allein fertig mit dem Verbrecher. Du mu?t von hier verschwinden, Marco.»
        Giovanni hob den Dolch auf und zog den Freund mit sich fort. In der Nahe des Krautermarktes blieben sie stehen, um auf Paolo zu warten. Der Anblick der vielen Menschen beruhigte sie. Marco schien erst jetzt aus seiner Betaubung aufzuwachen.
        ëEin Gluck, da? du gekommen bist, Giovanni!» sagte er; und er erschauerte bei der Erinnerung an das wutverzerrte Gesicht des Mannes, der mit erhobenem Dolch auf ihn eingedrungen war. Beinahe ware alles ausgeloscht gewesen, er hatte nie wieder nach Murano fahren, nie wieder das lockende, in allen Himmelsfarben schimmernde Wasser sehen konnen. Steif und blutig hatte sein Korper im Schmutz der Gasse gelegen. Sein Freund Giovanni hatte ihn gerettet. Wie durch ein Wunder war er zur rechten Zeit aufgetaucht.
        ëGiovanni», sagte Marco, ëwie ein Pfeil bist du ihm an den Hals gefahren. Wirklich, wie ein Pfeil!»
        Giovannis Augen verdunkelten sich. Er schien die Worte des Freundes nicht zu horen. Bucklige Krote, hatte der Verbrecher gesagt. Plotzlich zog er den Dolch aus der Tasche.
        ëAber was ist denn mit Giannina?» fragte Marco. Er legte seine Hand auf die Schulter des Freundes. ëSag, Giovanni, was hast du da von Giannina erzahlt?»
        Giovanni sah ihn abwesend an. Auf einmal spurte er, wie die Angst um Paolo in ihm aufstieg. ëWir mussen Paolo helfen!» sagte er. ëSchnell, Marco!»
        Sie liefen den Weg zuruck. Als sie bei der Taverne um die Ecke biegen wollten, kam ihnen Paolo schon entgegen. Sein Atem ging schnell, das Gesicht glanzte von Schwei?.
        ëEr ist weg, der Schurke», stie? er hervor. ëIch habe ihn nicht mehr gesehen. Wie der Teufel ist er gerannt. La?t uns aus dieser Gegend verschwinden. Kommt!»
        ëGut, da? du wieder da bist, Paolo», sagte Marco und umarmte den breitschultrigen, kraftigen Diener.
        ëEinen todlichen Schrecken hatte ich bekommen, als der Elende auf euch eindrang.» Paolo wischte sich den Schwei? von der Stirn.
        Giovanni betastete vorsichtig seinen rechten Arm, mit dem er gegen die Hauswand geschlagen war.
        ëHast du dir weh getan?» fragte Marco besorgt. Giovanni schuttelte den Kopf. Sie setzten sich auf eine steinerne Bank. Am Kai beluden Lasttrager die Schiffe. Sie schleppten in einer langen Reihe Holzkisten mit venezianischen Glaswaren und Sacke mit Salz uber den schwankenden Laufsteg. Ein Schreiber notierte mit wichtiger Miene jedes Stuck, bevor es im Laderaum verschwand. Hinter den Masten und den aufgerollten Segeln waren die Hauser, Kirchen und Garten von San Giorgio zu sehen. Am Himmel stand ein wei?es Wolkengebirge; auf den Eichenpfahlen, die den Weg nach dem Canal von San Giorgio wiesen, sa?en wei?e Mowen.
        ëDas ist der Brief, der Euch in die verrufene Gegend rief?» fragte Paolo. ëMerkwurdig!» Er hielt das Papier in seinen gro?en Handen und betrachtete nachdenklich die sorgfaltig geschriebenen Buchstaben. Marco hatte den Text vorgelesen und erzahlt, wie der Brief in seine Hande gelangt war.
        Aber das alles war jetzt nicht mehr so wichtig. Die schreckliche Nachricht, da? Giannina verschwunden war, nahm ihre Gedanken gefangen. Das Erlebnis in der schmalen Gasse verbla?te, als lage es schon Wochen zuruck.
        ëWir mussen sie suchen», sagte Marco. ëSofort!»
        ëWo kann sie nur sein?» fragte Paolo und sah die beiden ratlos an.



        DER TANZBAR

        SEIT TAGEN WAR KEIN TROPFEN VOM HIMMEL gefallen. Die Landstra?e nach Padua lag wie ausgestorben im grellen Sonnenlicht. Eine Kutsche, von zwei schlankgliedrigen Pferden aus dem Marstall des Dogen gezogen, wirbelte Staubwolken auf, die sich nach rechts und links verteilten und auf das Gras niedersanken.
        Auf einer Anhohe, nahe der Stra?e, stand eine kleine Kapelle. Vor dem schmiedeeisernen Eingang sa? Giannina und sah mit glanzlosen Augen der Kutsche nach. Der Staub hullte sie ein, drang in Nasenlocher und Ohren, setzte sich in den Haaren fest, die ihr wirr ins Gesicht hingen, und bi? in die Augen.
        Sie hatte nachts in einem Heuschober geschlafen, war wie betaubt in den spaten Morgenstunden aufgewacht und hatte sich in einem kleinen Bach gewaschen. Dann war sie weitergewandert. Einige Bauersfrauen, die Gras zusammenharkten, gaben ihr Wein, Brot und Ziegenkase und wollten wissen, warum das Madchen so allein und gar nicht fur eine Reise gerustet uber die Landstra?e ginge. Sie sagte, da? sie nach Padua wolle, zu ihrem Onkel, und verriet nicht, da? sie weggelaufen war.
        Nie wieder wurde sie zum Messer Celsi zuruckgehen. Giannina lehnte sich an die hei?en Steine der Kapelle und wischte den Staub aus den Augen. Sie war mude geworden, am liebsten hatte sie sich ein wenig in den Schatten gelegt und geschlafen. Aber sie mu?te ja weiter, denn sie hatte sich vorgenommen, in einem Dorf nahe Padua um Obdach zu bitten und am nachsten Tag in die Stadt zu gehen.
        Ein Wagen, von zwei Ochsen gezogen, rollte langsam vorbei. Der Bauer sa? auf den Brettern, lie? die Beine herunterhangen und doste vor sich hin. In der Ferne lagen die Hauser eines Dorfes; dunkle schweigende Zypressen erinnerten Giannina an den Friedhof von San Michele. Ein feiner Schmerz zog in ihr Herz ein und breitete sich uber den ganzen Korper aus. Sie schlo? die Augen und gab sich der Wehmut hin. Wie im Traum stand sie auf und legte sich im Schatten der Mauer nieder. Sie wollte ein wenig schlafen und alles vergessen, was ihr weh tat. Bald atmete sie tief und gleichma?ig; nichts an ihrem au?eren Anblick verriet von den unruhigen Traumen, die von ihr Besitz ergriffen.
        Sie hat ihren Kopf auf den rechten Arm gebettet, die schwarzen Haare bedecken das Gesicht, die braunen Beine ragen uber den Mauerschatten hinaus und werden von der Sonne erwarmt.
        Giannina traumt. Sie hort, wie Giovanni singt. Die Flut hat die Steinstufen der Villa uberspult und steigt immer hoher. Der Himmel ist mit drohenden, jagenden Wolken bedeckt. Ein Sturm peitscht das Wasser, es reicht Giovanni schon bis zu den Knien, ringsum ist nur Wasser, dichter Regen fallt. Aber lauter als das Heulen des Sturms und das Toben der Wellen klingt Giovannis Gesang. Grenzenlose Furcht packt Giannina. ëDas Wasser! Giovanni!» Sie kann den Freund nicht mehr sehen, die Fluten schlagen uber ihm zusammenÅ ëHier, Giannina, sieh, einen Spiegel aus purem Silber schenke ich dir. Du hast nur getraumt. Die Sonne scheint doch, Giannina. Siehst du nicht, wie er glanzt?»Å ëWie gro? meine Augen sind, Papa?»Å Entsetzt schreit sie auf. Sie sieht im Spiegel das wutverzerrte Gesicht des Messer Celsi, er streicht mit einer heftigen Bewegung die Haarstrahne zuruck und schreit: ëWas hast du mit meinem Kapaunchen gemacht, du Diebin? Das Haus brennt ab. Hilfe, das Haus brennt abÅ» Giannina will den Spiegel wegwerfen, aber sie kann kein Glied ruhren. Die Finger des Messer Celsi fassen nach ihrem Hals und
pressen ihn zusammenÅ
        Auf der Landstra?e naherte sich eine seltsame Gesellschaft der steinernen Kapelle: Ein rustiger alter Mann mit tiefbraunem, runzligem Gesicht und schwarzem, von Silberfaden durchzogenem Bart. Er war armselig gekleidet und trug einen gelben Hut mit einer prachtigen Feder daran. Sein kuhnes Zigeunergesicht mit der gebogenen Nase verriet, da? er nicht italienischer Herkunft war. Auf seiner Schulter sa? ein kleines Affchen. Es hatte rote Samthoschen und ein gelbes Jackett an. Als es nach einem Schmetterling, der gerade voruberflog, haschen wollte, fiel es fast herunter; im letzten Augenblick klammerte es sich noch an den Hals seines Herrn.
        ëMach keine Dummheiten, Pippino», sagte der Alte. Er blieb stehen und schob den Hut zuruck.
        ëNa, Herkules, kannst du noch laufen?» fragte er und drehte sich um. ëHei? heute, alter Freund, was? Warte nur, dort an der Kapelle machen wir Rast.»
        Herkules, ein mannsgro?er brauner Bar mit traurigen Augen, schuttelte seinen dicken Kopf, als hatte er die Worte seines Herrn verstanden.
        Der Alte nahm die Deichsel des Wagens, den man eher als einen Kafig auf Radern bezeichnen konnte, wieder auf und zog an dem Strick, um den Baren zum Weitergehen zu notigen. Herkules trottete mude neben ihm her. Das Schlo? an den dicken Gitterstaben der hohen Kiste klapperte, Pippino jagte mit geschickten Fingern einem Floh nach.
        Zwei Studenten, die auf dem Wege zur Universitat nach Padua waren, riefen dem Alten einige Scherzworte zu und machten ihn darauf aufmerksam, da? es Zeit sei, Pippino trockenzulegen. Im Eifer des Flohfangens hatte Pippino sich na? gemacht. Er zeigte ein besturztes Gesicht, als sein Herr ihn ausschimpfte, und wu?te vor Scham nicht, wohin er sehen sollte.
        An der Kapelle blieb die kleine Karawane stehen. ëSo, Herkules, ich lasse dich jetzt ein wenig los. Bleib schon in der Nahe, gleich gibt's was zum Fressen. Und dir, Bruderchen, ziehn wir mal die Hosen aus. Du bleibst angebunden, sonst rennst du mir davon.»
        Pippino hupfte vor Freude, da? er die lastigen Kleider los war, auf und nieder. Wahrend der Alte den Kafig aufschlo?, um Futter zu holen, lief Herkules um die Kapelle herum und blieb uberrascht vor dem im Gras liegenden Madchen stehen.
        Der Bar war kaum ein Jahr alt gewesen, als er in die Gewalt der Menschen gekommen war. Er wu?te nichts mehr von den hohen Karpatenbergen mit den dunklen, schweigenden Waldern, die einst seine Heimat gewesen waren. Soweit er zuruckdenken konnte, war er von Menschen umgeben gewesen, die verlangten, da? er sich in den wunderlichsten Bewegungen nach dem Takt einer kleinen Trommel auf zwei Beinen drehen solle.
        Herkules hatte sich damit abgefunden, da? er mit einem Ring durch die Nase als Tanzbar von Land zu Land ziehen mu?te. Er war froh, in dem alten Zigeuner einen Herrn gefunden zu haben, der es nicht allzu bose mit ihm meinte.
        Die Menschen auf den Basaren des Orients und den Jahrmarkten und Messen Spaniens, Frankreichs, Deutschlands und Italiens waren oft schlecht zu ihm gewesen, wenn er mude war von dem anstrengenden Tanz nach dem Takt des unerbittlichen Tamburins. Herkules hatte in seinem langen Leben die Erfahrung gemacht, da? es am besten sei, alle Wunsche der Menschen zu erfullen.
        Er erinnerte sich an ein Erlebnis im Hafen von Alexandria. Damals gehorte er einem jungen, hei?blutigen Araber, der nur darauf bedacht war, recht viel Geld zu verdienen und ihn von fruh bis abends tanzen lie?. An einem Nachmittag mu?te er auf einem offentlichen Platz, umgeben von betrunkenen, schreienden Zuschauern, seine Kunste zeigen. Er war so erschopft, da? er sich nur noch mit au?erster Muhe aufrichten konnte. Die Sonne schien unerbittlich hei?. Immer wieder ri? ihn das Trommeln des Tamburins und das Rasseln der Schellen hoch und zwang ihn, sich im Tanz zu wiegen und zu drehen. Selbst die Mulis und Kamele, die am anderen Ende des Platzes standen, hatten Erbarmen mit ihm und stie?en klagende Schreie aus. Die Menschen aber wollten, da? er ihren Willen erfulle. Sein Herr ri? so heftig an dem Nasenring, da? er sich vor Schmerzen aufbaumte.
        Die Handler lie?en ihre Teppiche, Fruchte, Glasperlen, Topferwaren und feingeschliffenen Waffen aus den Augen, um sich das Schauspiel anzusehen. Einige schimpften uber die Grausamkeit, die anderen jedoch, gleichgultig gegen die Schmerzen des Tieres, machten den Barenfuhrer durch anfeuernde Zurufe noch wutender. Er bearbeitete Herkules mit Fu?tritten; als das nichts nutzte, zog er sein Messer und stach den Baren viermal in die Seite. Blut flo? uber das braune, verschmutzte Fell. ëTanze, du Satansbar», schrie der Araber und schlug wild auf das Tamburin.
        ëGleich wird er tanzen», rief einer aus der Mitte der Zuschauer und schlug sich, trunken lachend, auf die Schenkel.
        Herkules spurte keinen Schmerz und keine Erschopfung mehr, als er sich aufrichtete und mit einem einzigen Tatzenhieb seinen Peiniger niederstreckte. Das Tamburin flog in die Zuschauermenge, die entsetzt auseinanderstob. Herkules hatte alle Uberlegung verloren. Er lief hinter den schreienden Menschen her, ri? eine Holzbude mit Topferwaren um, brachte die Mulis und Kamele in Verwirrung, rannte durch menschenleere Gassen und fand, geleitet durch einen gutigen Stern, den Ausgang der Stadt.
        Herkules wu?te, da? er um sein Leben lief. Darum war er bemuht, aus der Nahe der Menschen zu kommen. In einem Dickicht lie? er sich nieder und verbrachte die Nacht. Tagelang irrte er durch das Land. Er fand nur wenig Nahrung; so entschlo? er sich schlie?lich, wieder Menschen aufzusuchen, und trottete in das nachste Dorf, das nur aus wenigen Hausern bestand. Willig lie? er sich einfangen und in einen alten Stall sperren. Er war so heruntergekommen, da? er fast zwei Tage und zwei Nachte schlief. Zwischendurch verschlang er alles, was man ihm in den Trog schuttete.
        Der Zufall wollte es, da? in dieser Zeit der alte Zigeuner mit seiner achtjahrigen Enkelin Zsusinka und dem Affchen durch das Dorf wanderte. Er kam aus Kairo und war auf dem Wege nach Jerusalem. Fur wenig Geld erwarb er den Baren und nahm ihn mit auf seinen weiten Reisen durch die Welt.
        Das Leben war nun besser geworden fur Herkules. Die kleine Zsusinka hatte den gro?en gutmutigen Burschen gern, sie sorgte dafur, da? er gut untergebracht wurde und gab ihm heimlich von den Su?igkeiten ab, die sie manchmal auf ihren Bettelgangen erhielt. Herkules wurde ihr Freund und Spielgefahrte.
        Leider wahrte diese lichte Zeit nur wenige Jahre. In Damaskus geschah es, da? Zsusinka die Aufmerksamkeit zweier Sklavenhandler erregte. Sie boten dem Alten eine fur seine Verhaltnisse hohe Summe und versprachen ihm mit vielen schonen Worten, das Madchen einem reichen Herrn zu geben, der sie wie eine Prinzessin behandeln wurde. Zsusinka war zwolf Jahre alt und von au?ergewohnlicher Schonheit. Die Zeiten waren schwer, und der Alte wu?te, da? er sie eines Tages hergeben mu?te. Lange uberlegte er, bis er schlie?lich seine Einwilligung gab.
        Traurig nahm er von Zsusinka Abschied und zog mit Herkules und Pippino weiter. Er trostete sich damit, da? nun fur Zsusinka das elende Landstreicherleben vorbei sei. Sicher wurde sie es jetzt besser haben, die beiden Handler hatten es ihm ja mit tausend Schwuren versichert und Allah als Zeugen angerufen.
        Herkules hatte von dem Abschied kaum etwas gemerkt, denn Zsusinka war sehr stolz gewesen und hatte ihren Schmerz zu verbergen gewu?t.
        Als Herkules jetzt das Madchen im Schatten der Kapelle liegen sah, spurte er ein sonderbar helles, frohes Gefuhl, das alle Mudigkeit verscheuchte. Er glaubte den Klang einer bekannten Stimme zu horen. Freudig brummend beugte er den Kopf uber Gianninas Gesicht und beschnuffelte es mit seiner nassen Schnauze. ëWas hast du denn, Herkules?» fragte der Alte.


        Giannina, so unvermutet aus ihrem Schlaf gerissen, offnete die Augen und sah das braune zottelige Gesicht verwundert an. Im ersten Augenblick glaubte sie, noch zu traumen; als sich aber Herkules zu seiner ganzen Gro?e aufrichtete und, einem inneren Drang gehorchend, ungeschickte Tanzbewegungen machte, als sie das Gras, die Blumen, den Himmel gewahrte und von der Landstra?e ein Gesprach vorbeigehender Leute horte, wu?te sie, da? sie nicht mehr schlief. Merkwurdigerweise empfand sie keine Angst vor dem riesigen Tier, sondern war eher belustigt uber seine Bewegungen.
        ëHerkules, was ist denn mit dir los? Du tanzt, ohne da? ich dich aufgefordert habe?» Der Alte stand an der Kapelle und schuttelte den Kopf. Aber dann sah er Giannina, die sich aufgesetzt hatte und die Haare aus dem Gesicht strich.
        ëSo ist das also, Herkules», rief der Alte aus. ëDu bist mir ja ein vornehmer Kavalier. Aber komm jetzt, das Fressen steht bereit. Und du, meine kleine Blume», wandte er sich an Giannina, ëschlafst hier ganz allein in den Tag hinein und hast gar keine Furcht vor meinem Herkules? Brauchst dich nicht zu furchten, er hat die kleinen Madchen gern.»
        Er setzte sich neben Giannina ins Gras; Herkules schnupperte in die Luft und verschwand um die Ecke, wo sein Fressen bereitstand.
        ëJa, ja», erzahlte der alte Zigeuner, ëHerkules ist ein kluges Tier. Meine Zsusinka hat ihn geliebt wie einen Bruder. Sie war so schon wieàder Mohn zwischen dem goldenen KornÅ» Der Alte sah versonnen vor sich hin.
        ëIhr hattet eine Tochter?» fragte Giannina neugierig. ëWo ist sie denn geblieben?»
        ëAch, mein Tochterchen, wenn ich dir das erzahlen konnte. Eine traurige Geschichte ist das. Seitdem Zsusinka von uns fort ist, hat uns das Gluck verlassen.» Der alte Zigeuner sah sie mit einem schnellen Seitenblick an.
        ëErzahlt es mir doch, Gro?vaterchen», bat Giannina. Sie hatte die Sorge um ihr eigenes Schicksal vergessen.
        ëZsusinka war eine kleine Zauberin, wenn sie das Tamburin schlug und sich in den Huften wiegte, wurden alle, die in ihren Zauberkreis gerieten, von der Tanzlust besessen. So war sie, meine Zsuska; die Hartherzigsten offneten ihre Borsen, wenn sie kassieren ging. Sie brauchte nur ein einziges Wort zu sagen, um Herkules zum Tanzen zu bringen. Selbst wenn er mude war, richtete er sich auf und drehte sich willig. Ich mu? oft mit ihm schimpfen, ehe er sich zum Tanzen bequemt, aber Zsusinka folgte er aufs WortÅ»
        Giannina horte gespannt auf die einschlafernde Stimme des alten Zigeuners, der von Zeit zu Zeit einen abschatzenden Blick auf das Madchen warf, als wolle er ergrunden, ob seine Worte auch die beabsichtigte Wirkung hatten.
        ëEines Tages kam ein reicher, vornehmer Herr, gekleidet wie ein Sultan, in seidenen gestickten Gewandern und sah meine Zsusinka tanzen. Er blieb stehen und schaute wie verzaubert zu. Oh, mein Tochterchen, wenn du Zsusinka gekannt hattest. Schon war sie in ihrem roten Kleidchen, wie eine Marchenprinzessin. Der Herr gab uns ein Goldstuck und streichelte Zsusinka freundlich die Wangen. Dann nahm er mich zur Seite und bot mir funfhundert gute Golddukaten fur meine ZsuskaÅ»
        ëIhr habt doch nicht etwa eingewilligt?» fragte Giannina und wagte kaum zu atmen.
        ëNicht fur tausend Dukaten hatte ich sie hingegeben», erwiderte der Alte. ëAber du wei?t doch, wie das ist, wenn sich ein vornehmer Herr etwas in den Kopf gesetzt hat. Eines Tages geht meine Zsusinka weg, um Futter und Wasser fur Herkules und Pippino zu besorgen, und kommt nicht wieder. Ich habe sie gesucht, bin wohl zehnmal zum Kadi gelaufen und habe den reichen Herrn angezeigt, bis sie mich schlie?lich aus der Stadt gejagt haben. Froh konnte ich sein, da? sie mir nicht noch funfzig Stockhiebe verabreichten. Wer fragt in der Welt nach einem armen, mutterlosen Zigeunermadchen?»


        Der Alte sah traurig vor sich hin. Er hatte diese Geschichte schon tausendmal erzahlt und sie mit immer neuen Einzelheiten ausgeschmuckt, bis er schlie?lich selbst daran glaubte, da? alles so geschehen ware, wie er berichtete.
        ëAber was machst du so allein auf der Landstra?e, meine Blume?» Er sah sie mit einem verschlagenen, listigen Ausdruck an. ëDu siehst aus, als hattest du Kummer?»
        Giannina, noch bewegt von der Geschichte des Zigeunermadchens, brauchte einige Augenblicke, bis sie sich wieder in die Wirklichkeit zuruckfand. Ein dunkles Gefuhl warnte sie, dem Alten von ihrem Schicksal zu erzahlen. Da kam der Bar wieder zuruck und schnuffelte freudig an ihrem Arm, als wolle er sie auffordern, ihn zu streicheln. Sie strich uber sein braunes Fell und freute sich uber sein vergnugtes Brummen.
        ëDu bist ein gutes Madchen», sagte der Alte. ëGehst du jetzt zu deinen Eltern?»
        Giannina verbarg ihren Kopf in Herkules' Fell. ëAber ich kann doch nicht nach Hause gehen», schluchzte sie, alle Vorsicht vergessend. ëNein, nein! Niemals wieder gehe ich nach Hause zuruck!»
        ëSo so! Dacht ich's mir doch, da? du Kummer hast, meine Blume. Schon bist du, wie meine Zsusinka. Weine nur nicht. Sieh, da ist auch noch der Pippino.»
        Er nahm das Madchen an die Hand und brachte es zu dem Karren.
        ëDas ist nun unsere ganze Familie. Auf den Pippino mu?t du aufpassen. Er sitzt dir mit einem Male auf dem Kopf und zaust in deinen Haaren herum. Flohe hat er auch wie Sand am Meer, aber wenn du ihn erst ein paar Tage gefuttert hast, wird er ganz zahmÅ Der Herkules folgt dir wie ein gehorsames HundchenÅ Nun setz dich, meine Tochter, und erzahle mir, warum du nicht nach Hause zuruckkehren kannst. Der alte Ferko wird schon einen Rat wissenÅ»
        Paolo hatte ein schlechtes Gewissen, weil er mit den beiden Knaben weggegangen war, ohne Marcos Mutter zu unterrichten. Aber jetzt war es zu spat. Sie befanden sich auf dem Wege nach Aquileja; ein Fischer aus Mestre hatte ihnen gestern gesagt, da? in diese Richtung ein Madchen gegangen ware, das nach der Beschreibung Giannina sein konnte.
        Die drei waren recht niedergeschlagen. Vor ihnen lag die endlose Stra?e mit den ungezahlten Wegkreuzungen, mit den Brucken, die sich uber Bache und Flusse schwangen; sie mundete in Dorfer und Stadte, wand sich geschickt durch die Hauser, kroch schlangengleich Anhohen und Berge hoch und hatte keinen Anfang und kein Ende. Die Rader der schwerbeladenen Kaufmannszuge knirschten durch die ausgefahrenen Rinnen, bewacht von gemieteten Kriegsknechten, die mit Hellebarden und Armbrusten bewaffnet waren. Aus der Grafschaft Tirol, von den Bergen des Erzbistums Salzburg, aus den Herzogtumern Karnten und Steiermark, von uberallher, mit den feinsten Verastelungen wie ein Spinnennetz uber die Walder, Acker, Gebirge, Viehweiden, Flusse und Hauser gebreitet, schienen die staubigen Stra?en alle nach Venedig zu fuhren und von dort, in die Kanale und das Meer mundend, auf unsichtbaren Schiffsstra?en nach den fernen Kusten zu greifen.
        Vor einem von zwei machtigen alten Baumen beschatteten Gasthaus blieben die Wanderer stehen. Marco ging hinein, um sich nach Giannina zu erkundigen. Der Wirt gab ihm freundlich Auskunft. Wieder war es vergebens. Seit Tagen war kein Madchen hier eingekehrt.
        ëWir hatten den alten Francesco fragen sollen», sagte Giovanni. ëEr wei? vieles, was anderen Menschen verborgen bleibt. Aber wir konnen doch jetzt nicht zuruckgehen?»
        ëSo viele Stra?en gibt es, wo wird die kleine Giannina sein?» Paolo sah die Freunde fragend an.
        ëWir mussen sie finden, und wenn wir bis ans Ende der Welt laufen sollen», erwiderte Marco. Insgeheim aber war er von tiefer Sorge um die Mutter erfullt, die ja nicht ahnen konnte, wohin er so plotzlich verschwunden war.
        Links und rechts der Stra?e rankten sich die Weinreben der Landschaft Friaul an den holzernen Staben empor. Kirchenglocken lauteten. Das Himmelsdach wolbte sich uber das Land, hier und da von wei?en Wolken bedeckt, deren Rander rosa ergluhten. Im Westen lag Venedig, vor ihnen, im Osten, offnete ein Wald seine Pforte und lie? die Stra?e ein.
        In wei?es Leinen gekleidete Bauern arbeiteten gebeugt zwischen den Weinreben oder schleppten auf ihren Rucken Holzbutten mit Erde auf eine Anhohe. Auf der anderen Stra?enseite pflugte eine Frau mit einem Ochsengespann die Stoppeln der ersten Ernte um. Still und unbeweglich und ohne Gesang war der hei?e Spatnachmittag; der Abend kundigte sich an.
        Der kuhle Atem des Waldes mit seinen unberuhrten, wurzigen Duften wehte um die Wanderer. Eine alte Frau, die Holz sammelte, floh in den tiefen Baumschatten, als sie die Schritte horte. Der Wald und das Land mit den Feldern und Weinbergen gehorte geistlichen Herren, die den kleinsten Holzdiebstahl streng bestraften.
        ëWir sind nun schon den zweiten Tag unterwegs», sagte Paolo. ëBald ist die Nacht da und nirgends eine Spur. La?t uns zuruckgehen, Herr. Die Signora wei? nicht, wo wir sind. Sie ist krank und wird sich Sorgen machen.» Marco erwiderte nichts.
        ëRecht hat Paolo. Es hat keinen Zweck, weiterzulaufen. Vielleicht ist sie gerade in die entgegengesetzte Richtung gegangen und entfernt sich immer mehr von uns. Komm, Marco», sagte Giovanni, ëwir gehen nach Venedig zuruck und sprechen mit Gianninas Eltern. Dann konnen wir noch einmal aufbrechenÅ»
        Marcos Gesicht war verschlossen und abweisend. Keiner sollte sehen, was ihn bewegte. Der Verstand sagte ihm, da? die beiden recht hatten; aber die Vorstellung, da? Giannina jetzt schutzlos uber die Landstra?e irre und wahrscheinlich nicht wisse, wo sie essen und schlafen solle, verdrangte noch alle vernunftigen Erwagungen. Viele Wunsche wohnen im Herzen der Menschen. Sie fallen wie Sterne hinein und erleuchten das Dunkel; dann verloschen sie oder glimmen weiter, um irgendwann wieder neu und starker aufzuflammen.
        Der Wald dampfte die Gerausche. Kaum drangen die Abendsonnenstrahlen durch das Blatterdach, grunlich und golden glanzten die erleuchteten Moosflecken, die Farnkrauter sahen wie seltsame, aus dem Boden wachsende Vogelflugel aus.
        Vielleicht hat Giovanni recht, uberlegte Marco. Wenn sie nun nach Padua geflohen ist? Dann fuhrt uns jeder Schritt weiter von ihr weg. Au?er in Mestre haben wir doch nirgends eine Spur gefunden. Im Gegenteil. Alles deutet darauf hin, da? sie diesen Weg nicht gegangen ist. Hat es da Zweck, bis Aquileja oder gar daruber hinaus zu laufen? Und die Mutter zu Hause? Wie wird sie sich uber mein Verschwinden gramen.
        In Marcos Herzen wurde es plotzlich unbarmherzig hell. Vielleicht drohte der Mutter sogar Gefahr? Warum hatte man ihn ermorden wollen? Und was bedeutete der geheimnisvolle Brief? Da? er das alles vergessen hatte!
        O Mama, meine Mama, flusterte es unhorbar in ihm. Die Baume standen wie unheimliche Riesen zu beiden Seiten. Marco sah den breiten Rucken Paolos, der sich im Takt der Schritte bewegte; daneben ging Giovanni und bemuhte sich, Schritt zu halten. Plotzlich blieb er stehen und wartete, bis Marco neben ihm war.
        ëWenn sie nun nach Padua gegangen ist?» fragte er.
        ëIch habe auch schon daran gedacht», erwiderte Marzo zogernd.
        ëDeine Mutter wird Angst um dich haben, Marco. Und auch mein Vater! Wir mussen erst einmal zuruckgehen. Wei?t du, ich habe das Gefuhl, da? wir Giannina noch finden werden. Vielleicht ist sie ganz in der Nahe, und wir sind irgendwo an ihr vorbeigelaufenÅ»
        ëEs wird auch bald Abend», warf Paolo ein.
        Marco straubte sich nur noch zum Schein. Als Giovanni und Paolo langsam denselben Weg, den sie gekommen waren, zuruckgingen, folgte er ihnen.
        So gingen sie wieder Venedig zu, traten aus dem Wald in das freie Land hinaus und spurten die warme abendliche Luft. Die Hoffnung, Giannina zu finden, beschleunigte ihre Schritte. Diese Hoffnung war mit einem Male so stark geworden, da? sie die Mudigkeit und den Hunger verga?en. Im Schatten des Waldes war ihnen die Suche nach dem Madchen hoffnungslos erschienen, jetzt aber, im goldenen Abendschein, verstarkte sich die Gewi?heit, da? sie Giannina finden wurden.
        Giovanni hatte das bestimmte Gefuhl, da? die Freundin in der Nahe sein musse, gerade, als hatte er von irgendwoher eine geheime Botschaft erhalten. Als er in der Ferne eine Menschengruppe erblickte, klopfte sein Herz wie ein Hammer gegen die Brust. Es waren, wie sich bald herausstellte, Bauersfrauen, die von den Feldern der Herren nach Hause zuruckkehrten.
        Um seine Enttauschung zu verbergen, sagte er mit fester Stimme: ëGanz bestimmt treffen wir sie noch. Ich glaube, wir sind jetzt auf dem richtigen Weg.»
        Ohne eine Antwort abzuwarten, lief er weiter, so da? die beiden Muhe hatten, ihm zu folgen.
        Die vielen Wegkreuzungen, die ihnen vor Stunden alle Zuversicht geraubt hatten, storten sie nicht mehr. Vor ihnen lagen die stillen Hauser eines Dorfes, beherrscht von einer Burg, die links auf der Anhohe lag. Zwei braun und wei? gefleckte Jagdhunde tummelten sich vor der heruntergelassenen Zugbrucke. Die Blicke der Wanderer wurden von den festgefugten Mauern angezogen, die rings die Wohngebaude und den gedrungenen Wachturm umgaben und wie eine drohende Faust auf der lieblichen Landschaft lasteten.
        Sie verga?en fur Augenblicke, die Stra?e zu beobachten. Paolo war wohl der erste, der sich von dem Anblick trennen konnte. Nachher wollte jeder zuerst die ihnen entgegenkommende Gruppe gesehen haben. Doch dieser kleine freundschaftliche Streit war ohne Bedeutung. Jeder sagte sich, da? er diese Ahnung schon in seinem Herzen getragen habe, nachdem sie den. dunklen Wald verlassen hatten.
        Paolo war es jedenfalls, der zuerst ausrief: ëWas fur eine komische Gesellschaft ist das? Ein Mann mit einem gelben Hut?» Er beschattete die Augen, weil ihn die Sonne blendete. ëUnd ein Madchen ist bei ihmÅ»
        ëGiannina?» fragte Marco, noch unglaubig.
        ëGiannina!» rief Giovanni und lief der Gruppe entgegen. Da setzten sich auch Marco und Paolo in Bewegung, so da? sie fast gleichzeitig bei Giannina anlangten. Ferko, der alte Zigeuner, legte die Wagendeichsel auf die Erde und begru?te die Herren, indem er seinen gelben Hut luftete. Man sah seinem Gesicht nicht an, wie unwillkommen diese Begegnung ihm war. Hatte er sich doch am gestrigen Abend gro?e Muhe gegeben, Giannina zum Mitgehen zu uberreden, nun schien alles vergeblich gewesen zu sein.
        ëDa bist du, Giannina», sagte Giovanni. ëWir haben dich gesucht, Giannina.» Er argerte sich uber diese alltaglichen Worte, aber was sollte er sagen, um alle Gefuhle zum Ausdruck zu bringen?
        ëGiovanni? Marco?» sagte das Madchen erstaunt, als seien ihr Geister begegnet und nicht lebendige Menschen, die sie seit Jahren kannte und die zu ihrem Leben gehorten wie das Wasser rings um Murano und wie der Aprikosenbaum im elterlichen Garten.
        ëWir haben dich gesucht, Giannina», sagte auch Marco. ëUberall haben wir nach dir gefragt, aber keiner hatte dich gesehen. Wie konntest du nur davonlaufen, ohne uns etwas zu sagen? Und auf einmal bist du wieder da. Gut, da? wir dich getroffen haben, Giannina. Jetzt gehen wir schnell nach Hause.»
        Ganz allmahlich, wie Wachskerzen, die von Menschenhand eine nach der anderen ausgeloscht werden, erlosch die Freude in Gianninas Herzen. Nach Hause zuruck, hatte Marco gesagt. Zum Messer Celsi?
        ëKomm, Herkules!» sagte der Zigeuner und offnete den Kafig. ëKannst dir noch ein wenig die Fu?e vertreten. Tanz, mein Alter, tanze fur unsere kleine Giannina.»
        Dumpf und hart trommelte die Faust auf das Tamburin, aufreizend rasselten die Schellen. Herkules tanzte.
        Pippino, der im Kafig bleiben mu?te, ruttelte an den Gitterstaben.
        Die Sonne vergluhte im Westen, breite goldene Lichtstra?en fuhrten von der Erde zu den roten, gelben, orangefarbenen und bla?violetten Wolkentupfen.
        ëHei, Herkules, tanze! Tanze fur deine kleine Freundin! Bald wirst du an Kaiser- und Konigshofen tanzen!» Das Tamburin tonte.
        ëUnsere Zsusinka ist wieder bei uns. Siehst du sie? Tanze, tanze, Herkules. Ihr Haar ist wie der bleiche Wustensand, aber wenn die Sonne scheint, ist es aus purem Gold!»
        Herkules tanzte! Seine schwermutigen Augen sahen unverwandt auf Giannina. Auch Marco, Giovanni und Paolo waren in den Bann des alten Zauberers geraten. Das Feuer des Sonnenballs loderte uber den ganzen Himmel hinweg. Herkules' Fell glanzte. Die Augen des alten Zigeuners gluhten, seine Lippen murmelten Worte, die sich zu lauten Ausrufen steigerten und auf eine sonderbar erregende Weise den Takt des Tamburins begleiteten.
        ëTanze, Herkules! Zsusinka ist wieder da, schwarz wie die Nacht sind ihre Haare geworden. Sie ist traurig. Ihre Wangen sind wie Milch. Das Gesicht weint! Tanze, Herkules! Bald wirst du vor Grafen und Furstensohnen tanzen!»
        ëHort auf, Alter!» sagte Paolo mit rauher Stimme. ëMacht das Madchen nicht verruckt, es geht mit uns zuruck!» Er kniete vor Giannina nieder und zog sie an sich. ëSieh mich an, Giannina. Fuhle meine Arme. Diese Arme werden dich schutzen. Keiner darf dir etwas zuleide tun.»
        Das Tamburin verstummte jah. Herkules setzte die Vorderfu?e auf die Erde; Pippino sprang wutend im Kafig umher.
        Ein Herr und eine Dame ritten uber die Zugbrucke und naherten sich. Aus dem Weg, Zigeuner!» rief der Herr. Ferko, der mitten auf der Stra?e stand, trat mit eiliger Verbeugung zuruck.
        Die Dame sagte ihrem Begleiter einige leise Worte. Dieser nickte zustimmend. ëGeh in den Burghof, Zigeuner. Sag, der Herr hatte dich geschickt. Kannst dir ein paar Soldi verdienen!»
        Ferko verbeugte sich wohl zehnmal und schwenkte mit weiter Armbewegung den Hut. ëIn den Kafig, Herkules! Hast du's gehort? Zur Burg sollen wir kommen.»
        ëGeschlagen hat mich der Messer Celsi, mit den Fu?en getreten und mit der Faust ins Gesicht geschlagen», sagte Giannina. ëWas habe ich denn nur getan?»
        Ihre Augen wurden dunkel vor Schmerz und Ha?.
        ëDu gehst nie mehr zu ihm zuruck.» Uber Marcos Gesicht huschte plotzlich ein freudiges Leuchten. ëIch werde mit meiner Mutter sprechen, Giannina. Sie ist krank und braucht Pflege. Du kommst zu uns, Giannina. Dann ist alles gut.»
        ëDu gehst nie mehr zum Messer Celsi», sagte auch Giovanni. ëIch habe jetzt einen Dolch, eine Vogelfeder kannst du im Fluge damit zerschneiden. Sieh ihn dir an, Giannina! Du brauchst nun wirklich keine Angst mehr zu habenÅ Dein Vater war ganz wei? im Gesicht, als er erfuhr, da? man dich geschlagen hat», erzahlte er nach einer Pause weiter. ëEine Magd, die dich aus der Kuche rennen sah, hat es ihm gesagt. Er hat einen Spiegel auf den Boden geworfen; mit dem Fu? hat er ihn zerstampft. Wenn deine Mutter ihn nicht zuruckgehalten hatte, ware er gleich zum Messer Celsi gelaufenÅ Wei?t du schon, da? man Marco ermorden wollte?»
        Giannina hatte sich aus Paolos Armen gelost. So viele Eindrucke waren auf sie eingesturmt, da? nur der letzte Satz in ihrem Gedachtnis blieb. ëErmorden wollte man dich, Marco? Ist das wahr?»
        ëGiovanni und Paolo haben mich gerettet», erwiderte Marco.
        ëHier, mit diesem Dolch wollte er Marco toten.» Giovanni hielt ihr den Dolch hin. Sie nahm ihn und legte ihn auf die flache Hand.
        ëMein Vater hat einen Spiegel zerstampft?» fragte sie zusammenhanglos.
        Herkules kam ein letztes Mal zu ihr und rieb den Kopf an ihrer Schulter. Dann lie? er sich gehorsam in den Kafig sperren.
        ëLebt wohl, Gro?vaterchen! Lebt wohl, Herkules und Pippino, ich kann nicht mehr mit euch kommen.»
        ëLeb wohl, meine Blume», sagte der alte Zigeuner. ëGott schenke dir Gesundheit und Reichtum. Ich ziehe nun weiter, meine Zsusinka suchenÅ»
        Er nahm die Deichsel vom Boden und legte das Zugseil um. Die Rader setzten sich knarrend in Bewegung.
        Der Sonnenball lag feurig uber den dunklen Waldwipfeln. ëDachte schon, da? ich sie gefunden hatte, meine Zsusinka», sprach der Alte vor sich hin, ëaber der alte Ferko hat kein Gluck mehrÅ»
        Der Kafig schwankte ungeschickt hin und her. Die Rader rollten in den ausgefahrenen Rinnen.
        In der Ferne klafften die Hunde.



        TOD UND WURFELSPIEL

        DIE NACHT WEHTE ZUM FENSTER HEREIN. Signora Polo lag ruhelos in ihrem Bett und starrte auf die Kerzen. Seit dem fruhen Morgen regnete es. Der Herbst kundigte sich an. Venedig glich zu dieser Zeit einem gro?en, verlassenen Schiff, auf dem hier und da trube Lichter schwanken.
        Die Luft war feucht und ungesund, aber die Kranke verlangte, da? die Fenster und Laden geoffnet blieben. Neben ihrem Bett hing eine seidene Schnur, mit der eine Glocke in Schwingungen gebracht werden konnte. Signora Polo benutzte sie selten. Sie liebte die Einsamkeit, und sie furchtete sie. Die stille Hoffnung, da? ihr Gatte mit seinem Bruder wiederkehren wurde, war in den einsamen Nachtstunden am starksten. Am starksten waren aber auch die Zweifel. Tausend und aber tausendmal hatte sie die Gedanken zuruckgewiesen, die ihr einflustern wollten, da? er nicht mehr am Leben sei. Diese teuflischen, qualenden Gedanken kleideten sich in den Mantel der Vernunft; wie kann er noch am Leben sein, flusterten sie, vor vierzehn Jahren ist er weggereist, und nie hat er ein Lebenszeichen gegeben. Er war doch ein kuhner Mann und hat die Gefahren nicht gescheut. Viele Schiffe ruhen auf dem Grund des MeeresÅ
        Die Nacht brachte aber auch die Erinnerung an die glucklichen Stunden mit Nicolo. So sehnte sie die Dunkelheit herbei und hatte Furcht vor ihr. Bleich und durchsichtig waren ihre Wangen geworden. Die Rote der Gesundheit hatte sie vor Jahren schon verlassen. Nur wenn Marco bei ihr war, belebte sich ihr Gesicht. Wenn er neben ihrem Bett sa?, wenn sie ihm von Andrea Polo da San Felice, dem Gro?vater, und von Nicolo Polo, dem Vater, erzahlen konnte, erlebte sie noch einmal die Vergangenheit und bildete sich fur Minuten ein, da? alles frohe Gegenwart sei. ëEuer Korper ist nicht krank, Signora», hatte der Arzt gesagt. ëEure Seele ist krank und raubt Euch den Willen zum Leben.»
        Der flackernde Kerzenschein erleuchtete die roten Teppiche an den Wanden. Plotzlich befiel sie wieder die Angst; sie baumte sich auf, als habe ein korperlicher Schmerz sie getroffen, die Hand griff nach der Schnur. Laut tonte die Glocke durch die Stille. Eilige Schritte nahten, Giannina trat ein.
        ëWas ist geschehen, Signora?» fragte sie. ëEure Augen glanzen. Habt Ihr Fieber? Ich werde den Arzt holen.»
        ëNein, nein!» rief die Kranke. ëKeinen Arzt. Wo ist Marco? Sag mir, wo Marco ist.» Sie griff nach Gianninas Hand. ëSag mir schnell, ist Marco im Hause?»
        Der feine Regen und das sternenlose Dunkel wallten wie Trauerschleier vor den Fenstern.
        Die Signora war so schwach nach dieser Anstrengung, da? sie nur mit Muhe die Hande auf der Bettdecke bewegen konnte. Giannina, mit braunem, gesundem Gesicht, beugte sich nieder und sagte, gutig wieeine kleine Mutter: ëMarco ist doch im Hause, Signora. Er schlaft so fest, da? er nicht einmal die Glocke gehort hat.» ëIst Paolo bei ihm?»
        ëJa, Signora, Paolo schlaft in seinem Zimmer, wie Sie es angeordnet haben.»
        ëGib acht auf ihn, Giannina», flusterte die Kranke, ëMarco darf nie wieder weggehen! Horst du! Er ist wie sein Vater, ich habe Angst, da? er eines Tages aufs Meer hinausfahrt. Ich hasse das Meer!»
        Sie dachte die gesprochenen Worte weiter: Wenn Nicolo zuruckkommt, werde ich ihn bitten, von Venedig weg aufs feste Land zu ziehen. Ich kann kein Wasser mehr sehen, es lockt die Menschen hinaus und gibt sie nie mehr zuruck, Uberall an den Kusten des Meeres, angezogen durch seine geheime Kraft, sind Siedlungen und Stadte entstanden. Venedig aber liegt inmitten des tuckischen Wassers. Die Familien gehoren nicht mehr sich selbst; das Meer teilt sie. Auf der einen Seite stehen Frau und Kinder, auf der anderen, unsichtbaren, handelt der Mann mit Gold, Diamanten, Fellen, Ziegenhauten, Getreide und Teppichen, Ambra und Moschus, Jagdfalken und Gewurzen. Jedes Jahr opfert der Doge dem Meer einen goldenen Ring, vermahlt Venedig mit dem Meer. Ein heidnischer, teuflischer Brauch!
        ëIch habe Angst, Giannina!» sagte sie. ëSchneuze die Kerzen, da? sie nicht verloschenÅ Was ist das?» Sie richtete sich muhsam auf. ëDie Turklinke bewegt sich, Giannina!» Marco trat leise ein. ëIch bin es doch, Mama. Fuhlt Ihr Euch nicht wohl?»
        Giannina ging aus dem Zimmer.
        Setz dich, mein Sohn. Es ist gut, da? du gekommen bist. Schlie?e die Fenster. Ich will allein mit dir sein.»
        Marco sah seine Mutter verwundert an. Er schlo? die Fenster und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Das Gesicht der Mutter war wei? wie die Kirschbluten im blaulichen Mondenschein.
        Gelbes Licht fiel auf rote Teppiche und bunte Fensterscheiben. Auf dem Tisch, der auf geschnitzten Lowentatzen ruhte, stand ein kleiner, aus Elfenbein geschnitzter Elefant. Die Mobel waren dunkel. ëSchlaft Paolo bei dir?» fragte die Mutter.
        Marco hatte diese Frage gefurchtet. Seitdem er auf der Suche nach Giannina drei Tage aus dem Hause gewesen war, hatte der getreue Paolo in seinem Zimmer geschlafen. Zwar wu?te die Mutter nichts von dem Mordanschlag, der auf ihn verubt worden war, aber die dumpfe Furcht, die uberall Gefahr fur den Sohn sah, war durch die Ereignisse der vergangenen Wochen noch starker geworden.
        Heute nun hatte Paolo ihn um Urlaub gebeten, weil er glaubte, eine Spur gefunden zu haben. Was sollte er der Mutter antworten? Jede Aufregung war gefahrlich fur sie. Der Arzt hatte ihn gebeten, alles Bose und alles Freudige vor ihr fernzuhalten. Aber er konnte doch nicht lugen, wenn die Mutter ihn fragte. Er konnte doch nicht in diese angstvoll auf ihn gerichteten Augen hineinlugen.
        ëIhr mu?t Eure Medizin einnehmen, Mama. Eure Hand ist so hei?.»
        ëSchlaft Paolo bei dir?»
        ëNein, Mama», sagte er leise, ëich habe ihn heute fortgeschickt.»
        ëIch kann den linken Arm nicht mehr bewegen. Es ist gerade so, als ob eine Nadel in mein Herz stecheÅ Du verbirgst mir etwas, MarcoÅ Sag, freust du dich, da? Giannina hier ist?»
        ëJa, Mama. Aber sie gehort zu Giovanni. Sein Vater ist verungluckt, nun hat Giovanni keine Zeit zum Singen mehrÅ»
        ëBring ihn zu mir, Marco. Ich mochte ihn noch einmal singen horenÅ» Alles ist so traurig, Mama, dachte Marco. Giannina hatte ihm vom Schicksal Zsusinkas, der Enkelin des alten Zigeuners, erzahlt. Gab es denn nur Trauriges in der Welt? Die Welt war doch weit und schon; die Erde, das Wasser und der Himmel gehorten zu ihr. Irgendwo lebte Zsusinka. Wer sagt denn, da? sie unglucklich ist? Schade, da? er mit der Mutter nicht daruber reden konnte.
        ëIch gehe ein wenig auf und ab, Mama. Paolo wird bald zuruckkommen. Ich bleibe solange bei Euch. Wenn Ihr wollt, kann ich bei Euch schlafen, hier auf dem Teppich, das macht mir nichts aus. Ich will nur bei Euch sein, wenn Ihr mich braucht.»
        ëSetz dich, mein Sohn, dein Wesen ist voller Unruhe wie bei deinem VaterÅ Aber du brauchst um mich keine Sorge zu haben, das geht schon vorbeiÅ Es ist doch hell im Zimmer. Die Kerzen sind wie Sterne. Sie leuchten uberall. Setz dich, mein Sohn, ich kann dich nicht mehr sehenÅ»
        ëWas habt Ihr denn, Mama?» Marco beugte sich uber das Gesicht der Mutter. Es war wachsbleich, ihre linke Hand lag steif ausgestreckt auf der blauseidenen Decke. Die Augen waren unnaturlich gro? und gaben das Licht wie ein toter Spiegel wieder.
        Marco lief zur Tur. ëGiannina», rief er. ëGiannina! Was ist denn nur mit MamaÅ Wir mussen ihr helfen.»
        Giannina kam mit einer Waschschussel und einem Tuch. ëMussen wir den Priester holen, Giannina?» fragte Marco angsterfullt.
        ëEs wird schon vorubergehenÅ Mach die Fenster auf!» Sie legte der Kranken das feuchte, kalte Tuch auf die Stirn. Der Atem ging regelma?iger, und die Augen schlossen sich. Es schien fast, als erschiene ein Lacheln auf ihrem Gesicht.
        Die Luft stromte in das Zimmer. Es war die Luft von Venedig, die heimatliche Luft mit ihrem Geruch nach Schlamm, Fischen, Meer, Holz, Hanf, Himmel und Sonne, nach Weihrauch, Myrrhe und heiligem Kerzenschimmer.
        Dunkel flo? der schmale Kanal voruber, zwei Barken glitten dicht aneinander vorbei.
        Die Nacht war von leiser, dunkler Musik erfullt.
        Signora Polo schlug die Augen auf. ëDa seid ihr ja», sagte sie. ëWo bin ich nur gewesen? Und die Fenster sind weit offen. Ich atme, mein Herz ist ganz ruhig. Danke, Giannina.»
        ëJetzt kann ich gehen», sagte das Madchen zu Marco. ëWenn du mich brauchst, rufe nur leise. Ich komme dann schon.»
        Marco setzte sich wieder neben das Bett. ëIhr durft jetzt kein Wort mehr sagen, Mama», sagte er. ëIch bleibe bei Euch, bis alles wieder gut ist.»


        ëDas Sprechen macht mir keine Beschwerden, Marco. Es ist so hell in mirÅ Sie sagen, Venedig sei die Konigin des Meeres. Glaube ihnen nicht, die Sklavin des Meeres ist sieÅ Gestern war dein Onkel Pietro Bocco bei mir. Er ist ein guter Mann. Ween irgend etwas geschieht, kannst du dich ihm anvertrauenÅ»
        ëAber was soll denn geschehen? Pietro Bocco gefallt mir nicht, Mama, er ist freundlich, aber seine Augen blicken so kalt. Wir brauchen ihn doch nicht. Ich bleibe bei Euch, solange Ihr wollt. Nie gehe ich von Euch fort. Und dann sind meine Freunde noch da: Giannina, Giovanni - und Paolo. Paolo sorgt sich um mich wie ein Bruder. Ich habe ihn gernÅ Mama, glaubt Ihr denn nicht, da? mein Vater wiederkehrt?»
        ëIch wei? nichtÅ» Sie sprach so leise, da? Marco sein Ohr an ihre Lippen neigen mu?te. ëScheint die Sonne drau?en?à- Ich mochte - jetzt - viele - Menschen - sehen. Nicht mehr einsam sein! Nicolo!»
        Lagune und Himmel waren von gleicher Farbung. Der Regen verwischte die Begrenzungen. Die Kuppeln der Kirche San Marco mit den durch goldene Kugeln verzierten Kreuzen schwebten wie funf heidnische Tempel uber den Hausern. Die Stra?en und Platze waren fast menschenleer. Bettler und Obdachlose suchten Schutz in den Saulengangen der Piazza, wurden aber von den Sbirren immer wieder mit Schlagen vertrieben und verkrochen sich irgendwo unter alten Holzschuppen, Bruckenbogen, Hauseingangen oder umgestulpten Fischerkahnen.
        Nur sparliche Lichter erhellten die Nacht.
        Auf den Kanalen war der Verkehr lebhafter. Barken glitten uber das schweigende Wasser. Damen und Herren lie?en sich in Klubs und Kasinos fahren, wo sie die Nachte beim Glucksspiel und in angenehmer Unterhaltung verbrachten.
        Paolo sa? zu dieser Stunde in der Taverne hinter dem Gemusemarkt. Er war seit Wochen hier standiger Gast und hatte sich mit dem Wirt bereits angefreundet.
        Vor einigen Tagen war ein Mann erschienen, dessen linkes Auge durch eine schwarze Binde verdeckt war. Der Wirt nannte ihn vertraulich beim Vornamen. Giorgio hie? er. Meistens sa? er allein in einer Ecke und trank ein Glas Wein nach dem anderen, ohne jedoch betrunken zu werden. Paolo glaubte in ihm den Mann zu erkennen, der Marco uberfallen hatte. Er hatte mehrmals versucht, mit ihm in ein Gesprach zu kommen, hatte aber auf seine harmlosen Fragen nur murrische, nichtssagende Antworten erhalten, die einer Unterhaltung keine Nahrung boten.
        Der Wirt hielt sehr viel von ihm. ëDer schwarze Giorgio ist ein schweigsamer Geselle», erklarte er Paolo, ëden kannst du totschlagen, ehe er ein Wort verrat.»
        Die Gleichgultigkeit, mit der Giorgio ihn betrachtete, zeigte Paolo, da? dieser ihn nicht erkannt hatte.
        Der Wirt hatte heute alle Hande voll zu tun. Das Regenwetter zog auch Handwerker und Handler in die Taverne, die sonst ihre Waren auf den offentlichen Platzen feilboten. So befand sich eine gemischte Gesellschaft in dem Kellergewolbe, das von Weindunst, derben Scherzen und wutenden oder freudigen Ausrufen der Spieler erfullt war.
        An Paolos Tisch sa?en ein Rudermacher, ein Terrazzoschlager, ein Huhnerverkaufer und ein Kuchleinbacker. Die Handler schimpften auf den Regen, weil er ihnen das Geschaft verdarb; die beiden Handwerker sahen ihre Zechbruder spottisch an und meinten, da? sie gern mit ihnen tauschen wurden. Der Handel bringe doch so viel ein, da? ihnen das bi?chen Regen gar nichts ausmachen durfe. Der Huhnerverkaufer erging sich in langes und breites Lamentieren uber die hohen Abgaben, die die Regierung verlange, und erklarte, da? viele Handler kaum das Salz fur ihre Speisen verdienten.
        ëEine schlechte Zeit, eine schlechte Zeit. Stimmt's, Bruder», wandte er sich an den Kuchleinbacker. Dieser nickte mit sorgenvollem Gesicht. Dem au?eren Anschein nach aber konnte es den beiden nicht allzu schlecht gehen. Besonders der fa?dicke Huhnerverkaufer strahlte unverkennbar Wohlhabenheit und Zufriedenheit aus, so gern er es auch verborgen hatte.
        Der Terrazzoschlager hatte Mitleid mit den beiden Handlern. ëWirt, bringt zwei Wein ohne Wasser fur unsere armen Freunde hier, sonst verdursten sie noch!»
        Die beiden wehrten zuerst entrustet ab, als aber der rote funkelnde Wein vor ihnen stand, lie?en sie sich nicht lange notigen. Bald packte der wohlgenahrte Huhnerverkaufer ein gro?es Paket aus und gab jedem ein Huhnchen. ëGern teile ich mein Abendbrot mit euch, Bruder», sagte er mit weinseliger Stimme.
        Paolo, der sich wenig an der Unterhaltung beteiligt hatte, erhielt ebenfalls ein knuspriges Huhnchen.
        Die Tische waren dicht besetzt. Der Wirt und eine Magd liefen geschaftig zwischen Fassern, Banken und Tischen hin und her; roter, gelber und wei?er Wein flo? aus den holzernen Zapfen in die Karaffen. Die Ollampe spendete mattes Licht und milderte das lebhafte Mienenspiel in den Gesichtern.
        Paolo wurde plotzlich aufmerksam. Knarrend bewegte sich die schwere Tur in den Angeln. Der schwarze Giorgio, das Gesicht immer noch durch die Binde entstellt, trat ein, uberflog mit einem schnellen Blick die Taverne und stieg die Steinstufen hinunter. Er begru?te fluchtig den Wirt und setzte sich auf einen einzelnen Stuhl neben dem gro?en Fa?.
        Paolo war jetzt ganz sicher, da? Giorgio es gewesen war, der den jungen Herrn uberfallen hatte. Er erinnerte sich an die geschmeidigen, katzenartigen Bewegungen, an die buschigen braunen Augenbrauen und den Haaransatz, der nur wenige Zentimeter Stirn freigab.
        ëA la vostre salute!» schrie der Huhnerverkaufer, der immer mehr in Stimmung kam, und hob das Glas. ëWenn ich den Huhnchen den Hals umdrehe, tut's mir ja in der Seele weh», erzahlte er. ëAber was soll ich machen, Bruder? Ich mu? doch leben. Einmal brachte mir der Diener einer vornehmen Familie zweihundert Nachtigallen. Ein gutes Geschaft war das. Flink bin ich wie eine Eidechse. Man sieht's mir nicht an. Eins - zwei - drei habe ich ihnen die Kopfe abgerissen und wie ein gelehrter Doktor die Zungen herausgetrennt. Zur Hochzeit der schonen Isabella gab es Nachtigallenzungen. Ein Leckerbissen, eines Kaisers wurdigÅ A la vostre salute, Bruder!»
        Paolo spurte, wie der Wein in sein Blut flo? und die Gedanken schneller arbeiten lie?. Wie fluchtig vorbeihuschende Schatten tauchten Erinnerungen und Traume auf. Er horte nicht mehr auf das Gesprach am Tisch, murmelte eine Entschuldigung und stand auf, um zum schwarzen Giorgio zu gehen. Er wu?te selbst noch nicht, was er eigentlich sagen wollte. Vielleicht wurde er ihn einfach an dem Kragen packen und das hohnische Gesicht hin- und herschutteln; bis sich der verschlossene Mund offnete.
        Es war ein Gluck fur Paolo, da? in diesem Moment ein schwarz gekleideter Mann mit unbewegtem, wei?em Gesicht und glatt zuruckgekammten Haaren durch die Taverne schritt; er steuerte auf den Wirt zu, begru?te ihn herablassend und nahm neben dem schwarzen Giorgio Platz. Der ehrenwerte Schreiber vom Arsenal, Luigi Farino, war gekommen.
        Nichts in seinen Mienen verriet die Aufregung und die Wut, die ihm seit dem mi?gluckten Anschlag auf Marco keine Ruhe mehr lie?en. Sein Herr, Messer Pietro Bocco, hatte kein Wort mehr mit ihm gesprochen, sondern ihn nur unheildrohend angesehen. Luigi wu?te, da? die edlen Herren gefahrliche Mitwisser ihrer Plane durch eine Handbewegung beseitigen lie?en. Obwohl er von Natur nicht angstlich war, wurde er ein unangenehmes Gefuhl nicht los.
        Starker als diese dunkle Furcht aber war seine Geldgier. Er war heute gekommen, um dem schwarzen Giorgio mindestens drei Dukaten von den funf, die dieser erhalten hatte, abzujagen oder zu verlangen, da? er endlich seinen Auftrag ausfuhre. Der schwarze Giorgio aber hatte eine aberglaubische Scheu davor, eine Sache, die einmal mi?gluckt war, zum zweiten Mal anzufassen. Im ubrigen hatte er seinen Lohn schon eingesteckt und zum gro?ten Teil in der Taverne gelassen, so da? er beim besten Willen nichts wieder herausgeben konnte. Der Schreiber fiel ihm auf die Nerven.
        Ein Weinchen gefallig, Herr?» fragte der Wirt. Luigi nickte. ëWie steht es, Giorgio?» fragte der Schreiber und gab seiner Stimme einen drohenden Klang.
        Ihr sollt mich in Frieden lassen», antwortete der schwarze Giorgio gereizt.
        Dann gib mir das Geld zuruck, funf Dukaten hast du erhalten, du Tolpel!»
        ëHalt's Maul, Fischgesicht», knurrte Giorgio wutend. ëKomm mit mir, drau?en kriegst du Dukaten, soviel du brauchst.» Er warf dem Wirt, der eilig gekommen war, einige Soldi zu und stand auf. Dann beugte er sich zum Schreiber und sagte: ëWenn du mich noch mal belastigst, Schreiber, wird man dich bald aus dem Kanal fischen konnen.»
        Der schwarze Giorgio ging hinaus, ohne sich umzusehen.
        ëNoch ein Weinchen gefallig, Herr?» fragte der Wirt.
        ëDer Teufel soll ihn holen», sagte Luigi. ëBringt mir Wein, Wirt.»
        ëEr ist ein ungehobelter Klotz», flusterte der Wirt. ëAm besten ist's, Ihr la?t die Finger von ihm.»
        Paolo hatte die Szene voller Spannung beobachtet. Er sah den Schreiber vom Arsenal zum erstenmal in der Taverne und ahnte, da? dieser mit dem Mordanschlag etwas zu tun hatte. Auf jeden Fall wurde es gut sein, sich mit ihm bekannt zu machen. So ging er, etwas schwankend, auf ihn zu und lie? sich neben ihm auf den Stuhl fallen.
        ëIhr seid so einsam, Herr», sagte er und sah ihn mit lustigen Augen an. ëGestattet, da? ich mich ein wenig zu Euch setze.»
        ëWer seid Ihr?» fragte Luigi kalt.
        ëEin Lasttrager, Herr. Hab diese Woche gut verdient. Kann das Geschwatz von dem Huhnerverkaufer nicht mehr vertragen. Schlagt's mir nicht ab, ein Weinchen zusammen zu trinken. Bringt uns zwei Wein, Wirt!»
        Der Schreiber war nicht abgeneigt, das treuherzig-harmlose Wesen des muskulosen Lasttragers flo?te ihm Vertrauen ein.
        Paolo, der von seinem Herrn fur die Nachforschungen gut versorgt worden war, lie? das Geld in seiner Tasche klimpern und bestellte, kaum waren die Glaser geleert, schon die nachsten. Dabei horchte er auf jedes Wort des Schreibers. Er erfuhr zunachst nicht allzuviel; Luigi verstand es, seine Gedanken zusammenzunehmen. Paolo erfuhr nur, da? der Zechbruder Schreiber im Arsenal war und in den Diensten des Pietro Bocco stand. Das machte ihn allerdings sehr hellhorig und verstarkte seine Ahnung, da? der Schreiber seine Hand im Spiel hatte.
        ëTrinkt, Schreiber», rief er mit drohnender Stimme. ëDas Blut ist zu dick. Gie?t einen Schluck Wein hinein, und es wird lebendig wie die kleinen Fischlein im Wasser. Heute kommt's mir nicht drauf an, bringt Wein, Wirt!»
        Luigi lachelte nur mit dem Mund. Wangen, Nase und Augen blieben unbewegt wie starrer Stein. Der Wein vermochte nicht, die Maske, die zu Luigis zweiter Natur geworden war, zu beleben. Aber er tropfte in seine Gedanken und loste die Zunge zu sparlichen Bemerkungen.
        Der gute Piccolit aus den Weingarten Friauls wirkte auch auf Paolo. Er dankte im stillen dem Huhnerverkaufer fur das gespendete Abendbrot. Mit einem Huhnchen im Magen konnte man den Lockungen und Verwirrungen des Weins besser widerstehen.
        ëIhr seid ein kraftiger Geselle, Lasttrager, konntet Euch leicht Geld nebenbei verdienen», sagte Luigi mit schwerer Zunge.
        ëWarum nicht, Schreiber? Fur Geld hole ich Euch den Mond herunter!»
        ëDen Mond, den Mond!» affte er Paolo nach. ëDafur kriegst du keinen roten Heller.»
        ëGrinse nicht, Bruder», sagte Paolo und legte Daumen und Zeigefinger wie eine geoffnete Zange um den wei?en Hals. ëWenn ich zudrucke, sagst du keinen Pieps mehr, wie ein Vogelchen zerquetsche ich dich.»
        ëMag sein!» erwiderte Luigi unberuhrt. ëSo gefallst mir schon besser, Lasttrager. Aber deine Augen sind mir zu ehrlich fur solche GeschafteÅ Konntest dir leicht ein paar Dukaten verdienenÅ Meinen Hals la? in Ruhe, dafur gibt dir keiner was. Wanderst hochstens ins Gefangnis oder kommst auf die Galeere. Kannst dann rudern dein Leben lang. Ich mu? jetzt gehen. Aus mir kriegst du nichts heraus, LasttragerÅ Deine Augen gefallen mir nichtÅ»
        ëBringt Wein, Wirt!» schrie Paolo.
        Die Magd beschnitt den Lampendocht. Es wurde dunkel und wieder hell. Der Geruch des verbrannten, olgetrankten Dochtes mischte sich mit Weindunst und, Menschenschwei?. Gelbes Licht fiel auf Banke und Tische, auf wei?en und roten Wein, auf blonde und schwarze Haare, uber verwegene Gesichter. Schmierige Karten flogen auf den Tisch, uber Wurfel mit schwarzen Punkten klangen in Lederbechern gegeneinander und rollten, von gierigen Augen verfolgt, auf den Tisch. Zwei Schiffer sangen ein trauriges Lied vom Meer. Keiner horte zu. Es wurde gesprochen, gestikuliert, gelacht und mit den Fausten auf die Tische geschlagen.
        Luigi sa? mit glasernen Augen fremd auf dem Stuhl.
        Paolo hatte die Gewalt uber seine Gedanken verloren. ëKennt Ihr Marco, den Sohn des Nicolo Polo?» fragte er und konnte die Wut in seinen Augen nicht mehr verbergen.
        Die Worte weckten die eingeschlaferten Sinne des Schreibers. ëSeid wohl ein Spitzel des Messer Bocco, Lasttrager», lallte er. ëGeht weg!» schrie er dann plotzlich. Irre Angst sa? in seinen Augen. ëWeg von mir!» Er stutzte den Arm auf die Stuhllehne, stand schwer auf und ging mit unsicheren Schritten zur Tur. Der Wirt sprang eilig herbei und offnete sie. Feuchte Luft drang ein.
        Paolo zahlte die Zeche und lief dem Schreiber nach. ëWo seid Ihr?» rief er in die Nacht hinein. ëHe, schwarzer Totengraber, wartet doch. Ich bin's, Euer Freund, der Lasttrager!»
        Er taumelte in der frischen Luft und wu?te kaum, wohin er lief. Die Gasse mundete in einen kleinen Kanal. An der Hauswand lehnte bewegungslos der Schreiber. Paolo sah das wei?e Gesicht. ëHab ich dich endlich!»
        ëVon mir erfahrt Ihr nichts!» sagte der Schreiber mit trunkener Stimme.
        Paolo packte ihn an den Armen und pre?te sie zusammen. ëWas habt Ihr mit Marco Polo vor? Wer hat Euch den Auftrag gegeben, ihn zu ermorden?»
        Der Regen hullte sie ein. Die Stra?e war schlupfrig wie Sumpfboden. Verloren flo? der Kanal vorbei, irgendwo brannte ein Licht. Der Schreiber winselte vor Schmerz. ëVon mir erfahrt Ihr nichts!» beharrte er.
        Da umfa?te Paolo die sehnige, sich vergeblich wehrende Gestalt, hob sie vom Boden hoch, trug sie zum Ufer und warf sie mit einem Schwung ins Wasser.
        Es klatschte, als sei ein gro?er Stein hineingefallen. Der Hut trieb auf den Wellen, kaum zu erkennen in der Dunkelheit.


        ëHilfe!» schrie der Schreiber. Das Haar hing in Strahnen in seinem Gesicht. ëLa?t mich in Ruh, LasttragerÅ Zu Hilfe!»
        Regen und dumpfe Enge verschluckten die Schreie.
        Der Schreiber arbeitete sich an das Ufer heran. Er hatte schon Grund und konnte die Pfahle fassen. Wie eine gro?e Ratte kroch er die Boschung hoch.
        Paolo stand breitbeinig am Ufer. ëWagt es nicht mehr, etwas gegen den Jungen zu unternehmen», sagte er mit kalter Wut. ëDas nachste Mal schlage ich Euch tot.»
        Er drehte sich um und ging davon. Die Luft und das Erlebnis hatten ihn wieder nuchtern gemacht. ëNehmt Euch vor Messer Pietro Bocco in acht, junger Herr», sagte er leise vor sich hin. ëKeine Sorge, Signora Polo, ich werde schon aufpassen.»


        In dieser dunklen, regnerischen Nacht aber, als die Herbstblumen in den Garten Venedigs zaghaft ihre Bluten offneten, als sich die Blatter an den Baumen zu farben begannen, als die ewigen Wellen des Meeres gegen den schutzenden Damm schlugen, in dieser Nacht ohne Sterne und Mondenschein, hatte Signora Polo Abschied von der Welt genommen.
        Der getreue Paolo konnte ihr nichts mehr sagen. Sie ruhte still unter der seidenen Decke, die Augen waren geschlossen. Neben ihrer leblosen Hand lag der kleine, aus Elfenbein geschnitzte Elefant, das letzte Geschenk von Nicolo, ihrem Gatten. Ihr Gesicht ruhte aus vom Schmerz des einsamen Lebens.
        Die Kerzen brannten, der Priester kniete vor dem Bett und murmelte das letzte Gebet fur die stille Frau.
        Das Warten mit all seiner Hoffnung und all seinem Leid war nun vorbei fur sie, vorbei war auch die kranke Furcht um den Sohn, das Zittern um jeden Schritt, um jeden Gedanken in ihm, der der Sehnsucht nach dem Meer und der Ferne gehorte.
        Der Priester entfernte sich lautlos.
        Marco dachte einfache Worte: Die Mutter ist tot. Ich mu? ein wenig die Fenster offnen, damit frische Luft um ihr Gesicht wehen kann. Aber sie spurt das ja nicht mehr. Sie schweigt. Sie wird kein Wort mehr zu mir sagen.
        Marco war allein in dem Zimmer. ëOder schlafst du nur, Mama?» Vielleicht schlaft sie nur?
        Er beugte sich uber ihr Gesicht. Da sah er, da? der Tod es gezeichnet hatte.
        Das Licht schien auf das Bett, auf dem bleichen Gesicht lag ein unsichtbarer Schatten.
        Und da dachte Marco, da? er keinen Menschen mehr auf der Welt hatte, da? alles um ihn gestorben war.
        Und da weinte er.
        Der Tod eines geliebten Menschen bedeutet viel im Leben der Zuruckbleibenden. In der Taverne aber, wo trube die Lampe brannte und der Wein aus den Fassern flo?, wo zwei Schiffer Lieder sangen, wo die Augen beim Wurfelspiel gluhten vor Leidenschaft, in der Taverne, wo gro?e und kleine Gedanken in den Kopfen der Zecher lebten und starben und neugeboren wurden, spurte niemand die Schwingen des Todes, die das Haus in San Giovanni Chrisostomo gestreift hatten. Die Lederbecher wurden hart auf den Tisch gestulpt, die Wurfel rollten uber die weingetrankten Adern des rohen Holztisches. Und das Gluck der Welt und das Ungluck der Welt lag fur manchen in der Anzahl der schwarzen Punkte auf den wei?en Wurfeln.
        Das Meer rauschte mit unverminderter Kraft gegen den aus Balken, Gestrupp und Sand gebauten Damm auf dem Lido, die Nachtwachen beobachteten die ansturmenden Wellen und hullten sich fester in ihre Mantel.
        Der Senat war zu einer geheimen Nachtsitzung zusammengekommen. Zwei Knaben zogen goldene Balle aus einem Behalter. In ihren Handen ruhten Entscheidungen uber Dukaten, Schiffe, Staatsamter; Entscheidungen, ob dieser oder jener Herr in den Senat gewahlt wurde.
        Der Tod eines geliebten Menschen bedeutet wenig im Treiben der Welt. Ein Staubchen wird in die Unendlichkeit geweht.
        Der Regen netzte Blumen, Hauser, Schiffsplanken, Kirchenkuppeln, Strohdacher, Marmorsaulen und Holzschuppen.
        In dieser dunklen, regenschweren Nacht begann ein neuer Abschnitt im Leben Marco Polos.
        Paolo war der erste, der ins Zimmer trat. Seine Kleider rochen nach Wein und Feuchtigkeit.
        ëDarf ich ein wenig bei Euch bleiben, Herr?» Er wagte nur einen fluchtigen Blick auf die Tote zu werfen.
        Marco nickte schweigend.
        ëEuer Vater hat mich aus dem Waisenhaus geholt. Da wart Ihr noch nicht auf der Welt, Herr.» Schwer formten Paolos Lippen die Worte. ëIch habe Vater und Mutter nicht gekannt. So ist das, Herr. Wenn Ihr mich nicht fortschickt, bleibe ich immer bei EuchÅ Die Signora hat nun keine Schmerzen mehr.» Er kniete vor dem Bett nieder und senkte den Kopf.
        ëDanke, Paolo», sagte Marco.
        Giannina uberwand ihre Angst und kam in das Zimmer, weil sie glaubte, da? Marco jetzt nicht allein sein durfe. Sie versuchte die Tranen zuruckzuhalten, strich mit der Hand uber den Tisch und streifte Marco, der neben dem Bett sa?, mit einem scheuen Blick.
        ëGiannina!»
        ëJa?»
        ëSie wollte Giovanni noch einmal singen horen. Aber jetzt hort sie nichts mehr. Ob der Vater spurt, da? sie gestorben ist?»
        Marcos Gedanken entfernten sich aus dem Sterbezimmer. Er dachte an den Vater, als wisse er bestimmt, da? er noch am Leben sei. Die Mutter hatte so viel von ihm erzahlt, da? er glaubte, ihn genau zu kennen - die strengen Augen, die gro?e, aufrechte Gestalt und - in seltenen Augenblicken - das frohe Auflachen und die schnelle Erwiderung auf eine unverhoffte Frage.
        Morgen gehe ich zu Giovanni», sagte Giannina. ëEs wird nun alles anders werden», erwiderte Marco gedankenvoll.



        BRUDER LORENZO

        DER TOD DER MUTTER HATTE EINE TIEFE SPUR IN Marcos Seele hinterlassen. Manchmal glaubte er noch, ihre leisen Schritte in dem stillen Haus zu horen; und der Schmerz verdunkelte seine Augen. Aber bald spurte er, da? es eine Kraft im Menschenleben gibt, die alle Wunden heilt.
        Der Herbstwind wehte uber Meer und Lagune. Die Sonnenblumen in Venedigs Garten welkten; taumelnd fielen gelbe und braune Blatter in die Kanale und schaukelten auf den Wellen.
        Marco achtete nicht auf das Heulen des Windes. Er sa? in seiner Stube uber eine Handschrift gebeugt, die ihm sein Lehrer, der Bruder Lorenzo, gegeben hatte. Sie berichtete, wie der blinde Doge Enrico Dandolo, ein hochgewachsener, wei?haariger Greis von 93 Jahren, an der Spitze eines Kreuzritterheeres Byzanz, die von machtigen Mauern geschutzte Hauptstadt des Ostromischen Kaiserreiches, erobert hatte.
        Noch lebten Manner in Venedig, die an diesem Kriegszug, der unerme?liche Beute und viele Handelsvorteile fur die venezianischen Kaufleute brachte, teilgenommen hatten. Einer von ihnen war Bruder Lorenzo. Er war damals, im Jahre 1204, achtzehn Jahre alt gewesen und gehorte zu den ersten Angreifern, die von den hohen venezianischen Schiffen mit Hilfe von Holzbrucken auf die Festungsmauern gestiegen waren und die griechischen Verteidiger nach hartem, erbarmungslosem Kampf zuruckgetrieben hatten. Allen voran, die Soldaten durch seinen Mut anfeuernd, war Enrico Dandolo, mit dem wei?en Kreuz auf dem prachtigen Purpurmantel, in die Stadt eingedrungen.
        Marco las die Handschrift, die ein Monch in der Einsamkeit seiner Zelle geschrieben hatte, mit atemloser Spannung. Er empfand eine sonderbare Genugtuung, als er die Berichte uber die Eroberung von Byzanz studierte. Seine Phantasie wurde durch die Schilderung des Kampfes so angeregt, da? er wahrend des Lesens plotzlich aufsprang, zu einem eingebildeten Schwert griff und mit geschlossenen Augen auf die feindlichen Soldaten eindrang, wie es der greise Doge getan hatte. Unversehen hatte sich die Stube in einen Kampfplatz verwandelt. Marco legte den linken Unterarm auf den Rucken und streckte mit einem furchtbaren seiner Rechten den Gegner nieder.
        Drau?en vertrieb der Wind das graue Gewolk und offnete einen Spalt durch den die Sonnenstrahlen, zaghaft erst, dann immer starker und heller, Wasser, Steine, Acker und Garten mit goldenem Licht ubergossen.
        Doch Marco sah nicht, da? die Sonne schien. Er war der blinde Doge Enrico Dandolo, ein Riese an Energie und kampfte, mit dem Rucken an die Mauer der Festung gelehnt, die Soldaten durch wilde Zurufe an feuernd, gegen die Ubermacht des Feindes.
        Das Kampfgetummel wurde starker. ëAvanti amigi!» schrie Marco und sturmte mit erhobenem Schwert vorwarts.
        Die Fensterladen klapperten; Marco rannte mit dem Knie gegen einen schweren Eichenstuhl. Er spurte keinen Schmerz, wurde aber durch das polternde Gerausch aus seiner vorgestellten Welt in die Wirklichkeit zuruckgebracht. Erschopft hielt er inne, lie? das unsichtbare Schwert sinken und offnete die Augen.
        Marco sah sich nach allen Seiten um, angstlich, da? jemand seine gewaltigen Kriegstaten bemerkt haben konnte. Er war allein im Zimmer. Vor ihm lag der umgesturzte Eichenstuhl. Ein breiter Sonnenstreifen zeichnete sich auf dem Teppich ab. Im welkenden Laub des Kastanienbaumes, der einsam auf dem viereckigen Hof stand, rauschte der Wind.
        Byzanz lag weit, Byzanz mit seinen Palasten und Kirchen aus wei?em Marmor, mit den vergoldeten Kuppeln griechischer Tempel, die sich im Blau des sonnenbeschienenen Marmarameeres spiegelten.
        Auf dem Tisch lag die Handschrift, jeder Buchstabe mit Liebe und weiser Geduld geschrieben, zu Worten und Satzen sich fugend, die eine wunderbare Kraft ausstromten, eine Kraft, die in Marco wirkte und ihn gezwungen hatte, zum Schwert zu greifen und mit der Kniescheibe einen schweren Eichenstuhl umzusto?en.
        Marco lachelte, als er den Schmerz jetzt spurte.
        Byzanz war so nah, da? man es mit den Handen greifen konnte. Er brauchte nur die Augen zu schlie?en, um die Bilder lebendig werden zu lassen.
        Marco stellte den Eichenstuhl wieder auf die Fu?e und ging zum Fenster. Der gewohnte Anblick des gepflasterten Hofes mit dem Kastanienbaum und dem gegenuberliegenden Haus vermittelte ein Gefuhl der Ruhe und Geborgenheit, auch wenn der Herbstwind sich sturmisch gebardete und die jagenden Meereswogen der Adria ahnen lie?.
        Marco hatte erst nach dem Tode seiner Mutter begonnen, sich tiefer mit den Wissenschaften zu befassen. Fruher hatte er den Unterricht nicht recht ernst genommen. Lieber war er mit Giovanni und Giannina durch die Insel Murano gestreift, hatte im Schilf verborgen auf den Brettern des alten Fischerkahns gesessen und mit den Freunden romantischen Traumen nachgehangen. Das Lernen war ihm nicht schwergefallen, schnell hatte er sich die Regeln der Grammatik und die Grundgesetze der Mathematik eingepragt, ohne Stocken konnte er Stellen aus der Heiligen Schrift oder die verlangten Psalter hersagen.
        Jetzt aber war es, als hatte eine starke Hand ihn ins Leben gesto?en: da, schau! Alles, was du siehst, ist lebendig. Die Kirchen, Palaste und Denkmaler sind keine toten Gegenstande, sie haben ihre Geschichte und sind ein Teil der Geschichte Venedigs; aber auch die Fischerdorfer, die Werkstatten der Handwerker, die Glashutten auf Rialto und Murano, die Kriegs- und Handelsschiffe, die Stapelplatze an den fernen Kusten gehoren zur Geschichte Venedigs. Das Meer gehort dazu, die Kanale gehoren dazu und die ungezahlten Arbeitshande, die Damme bauen, Flussen neue Betten graben und Eichenpfosten in den schlammigen Grund rammen, damit neue Hauser, neue Palaste, neue Kirchen entstehen konnenÅ
        Bruder Lorenzo war uber das steigende Interesse seines Zoglings an den Wissenschaften sehr erfreut und schatzte seine Beobachtungsgabe. Auch Pietro Bocco, der nach dem Tode der Mutter als Vermogensverwalter und Vormund eingesetzt worden war, sah es gern, wenn sich Marco in seine Stube vergrub und lernte. ëWirst mal ein studierter Mann werden», hatte er mit wohlwollendem Lacheln zu seinem Neffen gesagt. ëVenedig braucht solche klugen Kopfe.» Wahrend Marco zum Fenster hinaussah, erinnerte er sich an die Warnung des getreuen Paolo: ëNehmt Euch vor Messer Pietro Bocco in acht, Herr. Ich kann Euch nichts Genaueres sagen, aber ich fuhle, da? Ihr auf der Hut sein mu?t.»
        Viele Gedanken wohnten in Marcos Kopf und hielten ihn in standiger Unruhe. Diese Unruhe hatte nichts Qualendes, sie half ihm, das zuruckliegende Schwere zu vergessen und dem Gegenwartigen und Kommenden nachzuspuren.
        Die Tur wurde geoffnet; Paolo trat ein.
        ëEs ist Zeit, Herr, zum Bruder Lorenzo zu gehen. Ich sollte Euch erinnern, da? Ihr die Handschrift mitnehmt.»
        Marco trat vom Fenster zuruck und machte sich zum Ausgehen fertig.
        ëWir mu?ten bald wieder nach Murano fahren», sagte er aus seinen Gedanken heraus.
        ëMesser Pietro Bocco sieht es nicht gern», erwiderte Paolo mit einem schnellen Blick auf seinen Herrn.
        Marcos Gesicht rotete sich vor Zorn, die Schlafenadern zuckten im Takt des schnellen Herzschlages.
        ëIch mache, was ich will!»
        Uber Paolos Gesicht ging ein zufriedenes Leuchten.
        ëVielleicht verbietet er mir noch, das Grab der Mutter auf San Michele zu besuchen», sagte Marco, noch immer zornig.
        ëIch mu? Euch etwas sagen, Herr.» Paolo schaute sich um, als befurchte er einen Lauscher. Marco sah ihn fragend an und hielt in seinen Bewegungen inne, als er den ungewohnlichen Ernst im Gesicht des Dieners sah.
        ëWas gibt es denn, Paolo?»
        ëHeute morgen hat man die Leiche des Schreibers Luigi Farino aus dem Kanal gefischt. Mit einem Dolch im Rucken.»
        Marco trat dicht an Paolo heran und fa?te ihn an den Schultern: ëIst das der Schreiber, von dem du mir erzahlt hast?» Er schuttelte Paolo. ëHast du es getan, Paolo? Sag schnell, hast du es meinetwegen getan?» Marcos Blicke ruhten in Ernst und Sorge auf dem gro?en, guten Gesicht des Dieners.
        ëEin anderer hat ihn aus dem Wege geraumt. Vielleicht wu?te er zuviel. Die Herren zogern nicht, wenn es gilt, einen unbequemen Mitwisser zu beseitigen.»
        ëGott sei Dank, PaoloÅ Ich hatte Angst um dich.»
        ëIch passe schon auf», murmelte der Diener, ëTag und Nacht passe ich auf.» Und laut sagte er: ëIch begleite Euch zum Bruder Lorenzo, Herr!»
        Sie verlie?en das Haus zu Fu?. Der Wind hatte die Stra?en getrocknet, so da? man gut gehen konnte. Marco trug die Handschrift in seiner Tasche und achtete darauf, da? sie nicht beschadigt wurde.
        Vor einem kleinen Haus, in der Nahe der vor vier Jahren erbauten Ponte della moneta, die uber den Canal Grande zum Alten Rialto fuhrte, verabschiedete er sich von Paolo.
        Bruder Lorenzo sa? auf dem lederbezogenen Stuhl; vor ihm, auf dem Pult, lag ein aufgeschlagenes Buch. Ein kleiner wei?er Pudel sprang freudig bellend an Marco empor.
        ëSchweig, Tiberius!» sagte der Alte mit lustigem Augenblinzeln. Aber Tiberius merkte, da? die Ermahnung nicht ernst gemeint war, und bellte noch lauter, bis Marco ein kleines Paket aus der Tasche zog und ihm die begehrten Knochen zuwarf.
        In der Gelehrtenstube fiel alles von Marco ab, was ihn eben noch beschaftigt hatte.
        ëDu verga?est den Gru?, den ich dich lehrte», sagte Bruder Lorenzo, ëdaran ist wohl Tiberius schuld?»
        Marco wurde rot. ëFriede diesem Hause!» sagte er. ëAmen!» erwiderte Bruder Lorenzo. ëNun setz dich!à- Und du, Tiberius, wirst uns nicht mehr storen!»
        Tiberius zerbi? krachend einen Knochen.
        ëEr hat mit dem Kopf genickt, Bruder Lorenzo», wagte Marco einen Scherz.
        Der Alte lachelte. Er war von mittlerer Gestalt und trotz seines Alters noch schlank. Mit seinem wei?en Kopf- und Barthaar und der braunen Kutte ohne Kapuze sah er wie einer jener Apostel auf den Kirchengemalden aus. Nur sein Gesicht war nicht so kindlich gutmutig, sondern zeigte eher leidenschaftliche, listig-verschlagene Zuge, die durch eine weise Abgeklartheit gemildert wurden. Die Augen waren flink und klein und schienen bis auf den Grund der Seele sehen zu konnen.
        Gestern hatte Bruder Lorenzo hohen Besuch empfangen. Messer Pietro Bocco war bei ihm gewesen und hatte sich nach den Fortschritten seines Neffen beim Studium der geistlichen Wissenschaft erkundigt. Er lie? durchblicken, da? er es gern sahe, wenn Marco sich unter Bruder Lorenzos Einflu? entschlie?en wurde, Monch zu werden. Als er sich mit freundlichem Nicken verabschiedete, legte er einen Beutel auf den Tisch, der, wie Bruder Lorenzo gleich darauf feststellte, 25 Zechinen enthielt.
        Nun hie? es im 4. Kapitel der ëRegel der Minderbruder», da? kein Bruder, weder er selbst noch durch eine Mittelsperson, Geld irgendwelcher Art annehmen durfe. Das brachte den Bruder Lorenzo, wie des ofteren, in arge Gewissenspein. Aber er sagte sich auch diesmal, da? er als Franziskanermonch auf seinen weiten Pilgerfahrten genugend Armut und Hunger kennengelernt habe und keine allzu gro?e Sunde begehe, wenn er die 25 Zechinen einstecke, um den Abend seines Lebens durch ein Glaschen Wein und ein gebratenes Huhnchen zu verschonern. Der Messer Pietro Bocco verlangte ja nichts Schlechtes, im Gegenteil etwas Gottwohlgefalliges von ihm. Er sollte diesen klugen, aufgeweckten Knaben in den Scho? der Kirche fuhren.
        Naturlich ahnte Bruder Lorenzo, da? der kuhl rechnende Kaufmann nach dem Vermogen der Familie Polo trachtete. Er war sich noch nicht klar, auf wessen Seite er sich schlagen sollte; denn er spurte zu dem Knaben eine vaterliche Zuneigung.
        Marco, der von diesen Gedanken nichts ahnte, sah erwartungsvoll in die von zahllosen Faltchen umgebenen, erfahrenen Augen seines Lehrers.
        ëDu hast die Handschrift mitgebracht? Das ist gut. Wie hat sie dir gefallen, mein Sohn?»
        ëBruder Lorenzo, erzahl mir von Enrico Dandolo. Ihr habt ihn doch mit eigenen Augen gesehen.»
        Uber Marcos Gesicht flog ein Schein freudiger Erwartung. Der Pudel Tiberius kam gesattigt aus seiner Ecke und legte sich zu Fu?en seines Herrn nieder; er schaute Marco an, als verstande er alles, was um ihn vorging.
        Bruder Lorenzos wei?e Augenbrauen zogen sich sinnend zusammen. Hinter dem Stuhl mit den bequemen Armlehnen standen Vasen mit bunter Malerei und kleine Bronzefiguren. Unter dem Muttergottesbild brannte ein Lampchen. An der Wand, dem Alten gegenuber, hing ein Bild des heiligen Franz von Assisi, des Begrunders des Franziskanerordens.
        ëMir ist kalt, bring mir das Kohlebecken!» befahl der Alte. Marco holte das Becken und blies in die aus aufrecht stehenden schmiedeeisernen Eichenblattern gebildete Schale. Bruder Lorenzo hielt die Hande daruber und blickte in die glimmenden Holzkohlen. Die Warme belebte seine Erinnerung.
        ëDu kommst zu einer guten Stunde, mein Sohn. Es gibt Augenblicke im Leben alter Menschen, da scheint die Gegenwart gestorben zu sein, und nur das Vergangene lebt.



        Ein warmer Glanz verjungte seine Augen, als er zu erzahlen begann: ëDu willst von gro?en Kriegstaten horen, von der Eroberung Byzanz' oder von den Kampfen gegen die GenuesenÅ Nicht davon will ich dir heute erzahlen.
        Etwas anderes ist in meinem Herzen lebendig; nicht minder interessant ist es, du wirst es bestatigen, wenn du es gehort hast.»
        Der Alte bannte mit einem Blick den Unwillen, der sich in Marcos Miene andeutete.
        ëSieh dich um», fuhr er fort, ëda ist das Bild des Bruders Franz. Schau ihn dir an. Im Jahre 1221, heute vor 47 Jahren genau, habe ich den seligen Franz zum erstenmal gesehen. Es war auf dem Generalkapitel bei der heiligen Maria von Portiuncula. Wohl dreitausend Bruder sa?en am Abhang des sanften Berges; der Wind hatte sich gelegt, und die Sonne schien wie an einem hei?en Sommertag. Der heilige Franz war schon gebrechlich, so da? an seiner Statt Bruder Elias sprachÅ»
        ëIhr wart einer der dreitausend Bruder», unterbrach ihn Marco, ëund habt den heiligen Franz gesehen? Sagt, Bruder Lorenzo, wie sah er aus? Hatte er einen Heiligenschein um den Kopf?»
        ëEs ist nur wenigen Sterblichen vergonnt, die Attribute der Heiligkeit auf Erden zu erblicken. Ein Mensch war er, mit langlichem, kindlich gutigem Gesicht, der den Kaufmannsberuf aufgegeben und sein gesamtes I lab und Gut der Kirche geweiht hatteÅ Ein einfacher, guter MenschÅ»
        Bruder Lorenzo machte eine Pause. Er sprach nicht, weil es im Sinne Messer Pietro Boccos lag, sondern war ganz der Erinnerung hingegeben und uberhorte, wie Marco sagte: ëEin Kaufmann war er - und wurde ein Monch?»
        Bruder Lorenzo neigte sich vor. An seinem geistigen Auge zog das Bild voruber: die herbstlichen Baume, die stille Kirche mit dem Friedhof und die Kutten der Monche, die wie braune, reglose Feldsteine dasa?en.
        Er stutzte den Kopf in die Hand und erzahlte weiter: ëGegen Schlu? des Kapitels zupfte Bruder Franz Elias an der Tunika. Dieser neigte sich zu ihm und vernahm, was Franz wollte. Dann richtete sich Elias auf und sprach: 'Bruder, also spricht der Bruder: Es gibt eine Gegend, Deutschland genannt. Dort leben Menschen, die sind Christen und fromm. Wie ihr wi?t, kommen sie haufig mit ihren langen Staben und weiten Stiefeln in unser Land; sie singen dabei das Lob Gottes und seiner Heiligen, wandern in Schwei? und Sonnenbrand dahin und besuchen die Schwellen der Heiligen. Und weil die Bruder, die man einigemal hingeschickt hat, bos zugerichtet zuruckkamen, so zwingt der Bruder niemand, zu ihnen zu gehen. Wer aber aus Eifer zu Gott und den Seelen hinziehen will, dem gibt er einen ebenso bedeutenden Gehorsamsauftrag, ja noch einen gro?eren, als wenn er uber das Meer reisen wurde. Wer also hingehen will, erhebe sich und trete zur SeiteÅ' Also sprach Elias im Auftrag des Bruder FranzÅ»
        Der Alte hielt inne in seiner Schilderung. Marco hatte gespannt zugehort.
        ëDann seid Ihr nach Deutschland gekommen?» fragte er.
        ëWie ist es Euch ergangen? Dort soll es Berge geben, die bis in die Wolken reichen und ewig mit Schnee und Eis bedeckt sind. Ist es so, Bruder Lorenzo?»
        Marco neigte sich begierig vor und starrte in das Gesicht seines Lehrers, als finde er dort die Antwort.
        In Bruder Lorenzo, angeregt durch die Anteilnahme, wurden die Erlebnisse lebendig, als waren sie erst gestern geschehen.
        ëHor zu, mein Sohn», sagte er, ëich will dir getreulich schildern, wie es gewesen ist. Mein Herz war unruhig zur damaligen Zeit, ich hatte keine Angst vor den drohenden Gefahren und war einer der ersten, die sich meldeten. Neunzig Bruder wurden ausgewahlt. In Gruppen zu dritt oder viert zogen wir los. Zum Feste des heiligen Michael waren wir in Trient und wurden freundlich aufgenommen. Auch in Bozen und Brixen litten wir keine Not. Von Brixen aus reisten wir ins Bergland und kamen zu der Zeit des Mittagsmahls nach Sterzing. Die Leute hatten gerade kein Brot zur Hand. Wir waren der deutschen Sprache nicht machtig und verstanden nicht zu betteln. Da ging es uns schlimm. Der Magen knurrte, als wir uns in einem Strohhaufen zur Nacht niederlegten. Mit zwei Bissen Brot und drei Ruben versuchten wir unseren Hunger zu stillen.
        Am anderen Morgen erhoben wir uns hungrig und leer. Als wir eine halbe Meile gegangen waren,bekamen wir Schwindel, die Beine versagten, und die Knie wurden uns schwach. In unserer Hungerspein pfluckten wir von den Dornenstrauchern und von verschiedenen Baumen Fruchte, die wir am Weg fanden. So kamen wir endlich nach Mittenwald, und als wir den Ort betraten, fanden sich zwei gastfreundliche Manner, die uns fur zwei Denare Brot verkauften. Wir bettelten uns noch Ruben dazu und erganzten damit, was uns an Brot fehlte. Weiter zogen wir des Weges, an Stadten, Burgen und Klostern vorbei nach Augsburg, wo wir von dem Bischof liebreich aufgenommen wurdenÅ»
        Bruder Lorenzo legte die Hande auf das Buch. Die Rufe vorbeifahrender Ruderer klangen gedampft ins Zimmer. Tiberius lag noch immer bewegungslos, mit wachen Augen, auf seinem Platz. Marco sa? auf dem Podest und erwartete ohne sonderliche Spannung die Fortsetzung der Erzahlung.
        ëSo waren wir also nach Deutschland gekommen und konnten durch die Gnade Gottes unseren Orden dort grunden. Bruder Casar wurde der erste Minister des Ordens in Deutschland. Ich war mit meinen Brudern nach Salzburg gekommen. Einmal nun rief uns Bruder Casar zu sich nach Worms. Wir zogen zu zweit und zweit durch die Stadte und Dorfer. Ich ging mit Bruder Michael in einen Ort, um Speisen zu bekommen. Wir hatten es noch immer schwer, uns verstandlich zu machen, und erhielten meist die gleiche Antwort: "Gott berate", was "Gott wird fur euch sorgen" bedeutete. Da uns aber zu diesen Worten nichts gegeben wurde, so sagte Bruder Michael, der ein Spa?vogel war, zu mir: "Dieses Gott berate wird uns heute noch umbringen."
        Ich fing nun an, lateinisch zu betteln. Die Deutschen aber antworteten: 'Wir verstehen kein Latein, sprich deutsch zu uns.' Ich sagte: 'Nichts deutsch.' Jene sagten: 'Das ist doch seltsam, da? du uns deutsch sagst, da? du nicht deutsch kannst', und fugten noch bei: 'Gott berateÅ' Ja, mein Sohn, so war das mit den Deutschen, sie sind gar lustige und derbe Leute, und die Berge reichen bis in den Himmel, und die Bache in den Gebirgsschluchten sind durchsichtig wie grunes Glas; wenn du die Wellen mit den wei?en Kronen uber die Steine springen siehst, kommen sie dir wie ubermutige Waisenkinder vor. Der Mann und die Frau, die vor uns standen und uns freundlich lachend 'Gott berate' auf unsere Bitte nach Brot entgegnet hatten, brachten mich schier zur Verzweiflung. Ich wu?te mir keinen Rat mehr, lachte aus lauter Verzweiflung, setzte mich auf eine Bank und blieb sitzen. Der Mann und die Frau sahen sich an, lachten ebenfalls und gaben mir wegen meiner Unverschamtheit Brot, Eier und Milch. Als ich sah, da? diese Verstellung uns nutzlich sei, ging ich auf ahnliche Weise durch zwolf Hauser und bettelte so
viel zusammen, da? es fur sieben Bruder reichteÅ»
        Die letzten Satze waren an Marcos Ohr vorubergerauscht; nur fluchtig hatte sich ihr Sinn ihm mitgeteilt. Die Schilderung des Monchs hatte ihn nicht zu fesseln vermocht. Er dachte an den alten Zigeuner, glaubte dessen Gesicht zu sehen und die sonderbar erregenden Worte zum Takt des Tamburins zu horen: 'Tanze, Herkules! Bald wirst du an Konigsund Furstenhofen tanzen!' Und dann war da das Meer, in vielen Farben schillernd und machtige Wellen gegen das Land spulend; eine Riesenhand strich daruber hinweg und glattete es, da? es wie ein Spiegel glanzte. Das Gesicht Gianninas schimmerte darin. Ein Sonnenstrahl huschte uber das Wasser und trug in das bekannte Madchengesicht auf eigenartige Weise die Zuge des alten Zigeuners hinein, ohne es etwa absto?end und ha?lich zu machen. Zsusinka, dachte Marco. Und mit dem Namen verband sich seine Sehnsucht nach dem Meer, nach dem Leben auf den Segelschiffen, nach Wanderungen auf unbekannten Stra?en und nach dem Gewinn eines marchenhaften, an Gold und blitzenden Diamanten reichen Schatzes.
        Bruder Lorenzo warf einen prufenden Blick auf Marcos Gesicht.
        ëMeine Schilderung scheint dich nicht zu interessieren», sagte er mit leichtem Arger in der Stimme.
        Marco erwachte aus seinen Traumen.
        ëDoch, Bruder Lorenzo», erwiderte er hoflich. ëIhr habt sehr gut erzahlt. Nur war ich auf einmal mit meinen Gedanken ganz woanders.»
        ëMochtest wohl ein Eroberer werden, wie der blinde Enrico Dandolo?»
        ëIch liebe das Meer und die Schiffe, Bruder Lorenzo.»
        ëSo so», nickte der Alte. Ich habe mein moglichstes versucht, Messer Pietro Bocco, dachte er und empfand insgeheim Genugtuung, da? Marco Polo nicht auf die Wunsche seines Oheims einging; denn Bruder Lorenzo trug in seinem alten Herzen noch ein Stuck seiner abenteuerlichen Jugend, die ihn unruhevoll von Stadt zu Stadt, von Land zu Land getrieben hatte, sei es auch nur als Bettelmonch uber die Stra?en Deutschlands, Frankreichs und Ungarns.
        Einen fluchtigen Augenblick dachte er sogar daran, den Knaben vor den Rankespielen seines Oheims zu warnen. Aber dann sagte er sich, da? es fur ihn vorteilhafter sei, in diesen weltlichen Streit nicht einzugreifen. Seine flinken, listigen Augen gluhten im Vorgefuhl des Weines, den er sich, wenn sein Schuler gegangen war, von den gro?mutig gespendeten Zechinen Pietro Boccos leisten wollte. ëDu kannst fur heute gehen, mein Sohn. Ich mu? ein wenig ruhen.» Der Alte erhob sich und schlug das Buch auf dem Pult zu. Eine Staubwolke tanzte zur Erde nieder. Tiberius sprang auf und geleitete Marco schweifwedelnd zur Tur. ëFriede diesem Hause!» verabschiedete sich Marco. ëAmen!» erwiderte Bruder Lorenzo. Tiberius bellte.



        HOLZERNE PERLEN

        AN EINEM ABEND, ALS DIE LAGUNE IM WESTEN wie ein Feuermeer ergluhte, stand Giovanni nach langer Zeit wieder auf den Steinstufen der alten Villa und lauschte dem Herzschlag des Wassers. Ein Fischerboot ruhte auf den Wellen, die kraftigen Farben des Himmels wurden blasser, bis sie jegliche Tonung verloren und im einformigen Grau der Dammerung verschwanden. Matt schimmerte die Mondsichel, vereinzelt blitzten Sterne auf.
        Die wei?en Marmorsaulen strebten wie schlanke versteinerte Baumstamme empor. Die Luft war von einem fernen Brausen erfullt, als tobe uber der Adria ein Meeressturm, der Schiffe wie Kinderspielzeug auf die Schaumkamme haushoher Wogen hob und im nachsten Moment in einen brullenden Abgrund sturzte.
        Die Lagune aber schwang in sanfter, weiter Bewegung aus, kleine Wellen umspulten Giovannis Fu?e, und das Wasser ubte, wie immer im geheimnisvollen Dammerlicht, seine magische Kraft aus.
        Seitdem der Vater beim Bau des Palastes am Canal Grande verungluckt war, hatte Giovanni nicht mehr gesungen, er war noch nicht einmal der Aufforderung des Priesters gefolgt, im Knabenchor der San-Marco-Kirche zum Fest des heiligen Theodoras mitzusingen. Die Musik, die tief in seiner Seele schlummerte und in glucklichen Tagen durch eine besonders schone Farbung des Wassers, durch Gianninas dunkle, fragende Augen oder durch einen bluhenden Baum geweckt worden war, schien fur immer verstummt zu sein.
        Die Natur war wie eine schweigende Glocke.
        Nacht und Tag ohne Musik. Wasser, Boote, Schiffe, die mit geblahten Segeln, stolz wie riesige Pfaue, davonschwammen - ohne Musik.
        Ein Stein hatte Ernestos rechtes Bein zertrummert; ein Stein, der langst wieder in den Bau des Palastes des Grafen Este eingefugt worden war. Von dem glatten carrarischen Marmor war kein Eckchen abgesplittert, Ernestos Heisch und Knochen hatten verhindert, da? der kostbare Marmor beschadigt wurde.
        Die Maurer, Steinbauer und Zimmerer hatten zuerst hilflos vor dem am Boden liegenden, leise stohnenden Ernesto gestanden. Sie liebten ihn alle, und er hie? ëder gute Ernesto», weil es kaum einen hilfsbereiteren Menschen gab als ihn. Keiner konnte sich erinnern, jemals Streit mit ihm gehabt zu haben. Mittelgro?, breit in den Schultern, und mit Armen, die fur drei schafften, wenn es darauf ankam, hatte er mit seinen ruhigen, abgemessenen Bewegungen die schwersten Arbeiten verrichtet.
        Das morsche Tau am Hebebaum war gerissen und der Stein aus funf Meter Hohe herabgesaust. Die warnenden Rufe lie?en Ernesto im letzten Augenblick zur Seite springen, sonst ware er erschlagen worden. Er sturzte, und der Stein zerschmetterte ihm das rechte Bein.
        Solche Unfalle geschahen ofter. Aber da? es gerade dem bedachtsamen Ernesto passieren mu?te!
        Agniello fa?te sich zuerst, er packte den zunachst Stehenden am Arm und zog ihn mit sich fort, um eine Krankentrage zu holen. Die anderen bildeten einen Kreis um den Verungluckten, zwei beugten sich nieder und bemuhten sich um ihn.
        Der gute Ernesto wurde in das Hospital des heiligen Petrus und Paulus gebracht, das zur Beherbergung der Pilgrime diente, die nach Palastina wallfahrten, und in seltenen Fallen auch Kranke und Verwundete aufnahm.
        Giovanni erinnerte sich an den Nachmittag, als zwei Maurer in ihrer Arbeitskleidung mit gezogenen Kappen in das kleine Haus Ernestos getreten waren und die Nachricht von dem Ungluck, das den Vater getroffen hatte, uberbrachten. Fast verlegen standen die zwei Manner vor dem Knaben; Giovanni kannte sie, es waren ja Freunde des Vaters, gute Freunde, die Ernesto manchmal zu einem Schoppen im Weinhaus abgeholt und mit dem Jungen freundlich gescherzt hatten.
        Ihre Gesichter wirkten so fremd, und auch ihre Stimmen klangen, als gehorten sie nicht ihnen.
        Was hatten sie gesagt? 'Ernesto verungluckt - dein Vater - das Bein zerschlagenÅ?' Das konnte doch nicht wahr sein. Aber warum war der Vater nicht mit ihnen gekommen? Was wollten sie von ihm? Es war plotzlich leer in seinem Gehirn, als hatten die wenigen Worte alle Gedanken entfernt.
        ëVater ist verungluckt?» fragte er nach einer Weile unglaubig und erwartete, da? sie ihn mit ihren rissigen Kalkhanden am Kragen nehmen und freundschaftlich schutteln wurden: ëDa ist er doch, dein Vater. Komm herein, Ernesto, sieh dir einmal an, was fur Angst wir deinem Jungen eingejagt haben.»
        Aber die Manner blieben schweigend stehen und blickten scheu zur Seite, als sich das tiefe Erschrecken und der zuckende Schmerz in das junge, ernste Gesicht eingruben.
        Giovanni weinte nicht. Der Vater lebte ja. Vielleicht war alles gar nicht so schlimm? Ohne Zogern lief er zum Hospital. Er konnte spater nicht sagen, welchen Weg er genommen hatte. Nur so viel wu?te er, da? er bei der Kathedrale San Donato stolperte und in den Stra?enschlamm fiel, sich aber sofort wieder aufraffte und uber und uber beschmutzt schlie?lich vor der gro?en Pforte des Hospitals anlangte. Ein Bruder, gekleidet in eine schwarze Kutte, mit einem runden, wei?en Gesicht unter der Kapuze, empfing ihn und fuhrte ihn in einen Warteraum, der einem dusteren Gewolbe glich und nur ein einziges kleines Fenster nach der Wasserseite hatte. Die Mauern des Hospitals waren fast funf Fu? stark.
        Giovanni war es, als musse er stundenlang warten. Endlich kam der Bruder zuruck, setzte sich umstandlich auf einen Schemel und erklarte Giovanni, da? er den Vater nicht sehen konne. Der Arzt sei gerade bei ihm, wahrscheinlich musse er dem Verungluckten das Bein abnehmen. Giovanni solle sich in Geduld fassen und zu Gott beten, da? alles gut abgehe.
        Die Pforte bewegte sich knarrend in den Angeln, offnete sich, schlo? sich wieder. Giovanni stand auf der Stra?e.
        Hinter dem gro?en schwarzen Tor lag der Vater. Der Arzt war gerade bei ihm.
        Giovanni ging wie im Traum zuruck und zog zum zweitenmal an dem Glockengriff. Wieder bewegte sich die Pforte knarrend in den Angeln. Das Gerausch schmerzte.
        ëWas willst du schon wieder?» fragte der Bruder mit dem runden, wei?en Gesicht, ein wenig unwillig, wie es schien. ëDu kannst doch jetzt nicht zu ihmÅ»
        Giovanni sah ihn mit seinen hellen Augen an; die Stirn des Bruders glattete sich.
        ëSagt Ihr dem Vater, da? ich hiergewesen bin?» fragte Giovanni ernst. Und als er das Nicken sah, fugte er eifrig hinzu: ëSagt ihm auch, da? ich alles in Ordnung halte, das Haus und den Garten. Er braucht sich keine Sorgen zu machenÅ» ëIch werde es ihm sagen. Aber nun geh nach Hause!» Elena und Pietro, Gianninas Eltern aus dem Nachbarhaus, erwarteten ihn schon.
        ëGut, da? du da bist! Wie geht es ihm? Ach, mein armer Junge», sagte die Frau mit Tranen in den Augen. ëHier, i? erst einmal! Morgen gehe ich zu Giannina und erzahle ihr, was geschehen ist. Aber sprich doch, wie geht es ihm denn? Der arme Ernesto!»
        ëSei doch ruhig, Frau», sagte Pietro leise, ësiehst du nicht, da? er noch ganz verstort ist?»
        ëDer Arzt ist gerade bei ihm», sagte Giovanni mit abwesendem Blick, ëer wird ihm wahrscheinlich das Bein abnehmen mussen.»
        ëHier auf dem Tisch liegt Geld, Giovanni», sagte Pietro und schob seine Frau, die in lautes Wehklagen ausgebrochen war, hinter sich. ëDie Maurer, Zimmerleute und Steintrager haben es gebracht. Versuche jetzt zu schlafen, oder komm zu uns heruberÅ»
        Giovanni durfte den Vater nach funf Tagen zum erstenmal besuchen. Er verbarg seine Erschutterung, als er das eingefallene, graue Gesicht auf dem wei?en Laken sah, und sagte ganz frohlich: ëJetzt ist ja alles gut, Papa. Ihr werdet staunen, wie schon der Garten geworden ist, wenn Ihr nach Hause kommt. Gestern war Agniello da, vorgestern Giorgio, jeden Abend kommt ein anderer und fragt, wie es Euch gehe und ob er; mir helfen solle.»
        ëDas Bein ist hin, Giovanni», erwiderte Ernesto mit trauriger Stimme. ëNiemals werde ich wieder auf dem Bau arbeiten konnenÅ»
        ëDas macht nichts, Papa», unterbrach ihn Giovanni, ëich bin doch bald vierzehn Jahre altÅ» Er beugte sich zum Gesicht seines Vaters und sagte fast feierlich: ëSeit gestern bin ich beim Meister Benedetto in der Lehre. Ich werde Bootsbauer, Papa, ein beruhmter Bootsbauer, wie der Meister Benedetto. Er hat mir schon viele Kniffe beigebracht.»
        ëSo, hat er dir schon viele Kniffe beigebracht», der Vater schmunzelte. Und Giovanni war so froh, als er das Lacheln auf dem grauen Gesicht sah. ëSie sind alle so freundlich zu mir, PapaÅ»
        ëDa? dich Meister Benedetto aufgenommen hatÅ», sagte Ernesto verwundert. ëDa bist du wahrhaftig in guten Handen. Lerne nur tuchtig; Benedetto ist einer der besten Bootsbauer in Venedig.»
        Die Krankenluft in dem Saal mit den sechzehn Betten roch dumpf. Lautlos huschte ein Monch von Bett zu Bett, hier und da wurde ein Stohnen horbar. Selbst am hellen Tage, wenn drau?en die Sonne schien, herrschte in dem Raum mit der gewolbten Decke die Dammerung. Jedesmal, wenn Giovanni den Vater besuchte, verspurte er das gleiche beklemmende Gefuhl.
        ëSingst du noch, Giovanni?» fragte Ernesto eines Tages. Sein Gesicht war wieder voller geworden, und er konnte schon uber die Schmerzen, die er im rechten gro?en Zeh zu spuren vermeinte, einen Scherz machen.
        ëIch singe nicht mehr, Papa.» Als Giovanni bemerkte, da? der Vater mit dieser Antwort nicht zufrieden war, setzte er stolz hinzu: ëIch baue jetzt Boote und Schiffe. Das ist eine gro?e Kunst.»
        ëWirst auch wieder singen, GiovanniÅ»
        An diese Worte dachte Giovanni jetzt. Mehr und mehr senkte sich die Dunkelheit hernieder. Das Brausen des fernen Windes klang wie Muschelton, und die Lagune verharrte in schweigender Unbewegtheit. Viele Sterne hatten am Himmel ihr Licht entzundet, und die Mondsichel schien mit schimmernden Diamanten eingefa?t.
        Ich habe einen Hocker, und mein Vater hat ein Holzbein. Eine schone Familie! Die ha?lichen Gedanken nisteten sich wie Wuhlmause in seinem Gehirn ein.
        ëWas ist Venedig ohne unsere Kunst, Boote und Schiffe zu bauen?» horte Giovanni die Stimme Meister Benedettos, mit dem immer zu Spott geneigten Unterton. ëEin armseliges, nach Fisch und Maultiermist stinkendes Labyrinth von Holz- und Steinhausern! Wir machen Venedig zur Konigin mit den Schiffen und Barken, die wir bauen, unsere Kopfe erfinden den schonsten SchmuckÅ Holzerne Perlen sind die Schiffe, merke dir das, mein Junge, sonst wirst du nie ein vernunftiger Bootsbauer werden, holzerne PerlenÅ»
        Giovanni glaubte das Lachen Meister Benedettos uber diesen seltsamen Vergleich zu vernehmen.
        Auf San Michele flammte ein Feuer.
        Ein Musikant hatte sich an eine einsame Stelle gesetzt und spielte auf dem Fagotto ein Lied. Weit klangen die klagenden Tone uber Land und Wasser.
        Es war die siebente Abendstunde. Giovanni wurde unruhig. Er spahte angestrengt in die Dunkelheit und lauschte auf jedes Gerausch. Ein Boot naherte sich, aber es kam nicht von Venedig, sondern aus der entgegengesetzten Richtung. Ein Fischer ruderte dicht an Giovanni vorbei, ohne ihn zu bemerken. Tropfen fielen vom Ruderblatt zuruck, es horte sich an, als wurden Steinchen ins Wasser geworfen.
        Auf dem Friedhof von San Michele, dort, wo das Feuer brannte, ruhte Marco Polos Mutter.
        Giovannis Vater sa? auf der Bank vor seinem kleinen Haus, die Krucken neben sich, und sann daruber nach, da? es bald Zeit sei, irgendeine Arbeit anzunehmen. Er konnte nicht langer untatig zu Hause sitzen und von den Almosen der Freunde leben.
        Vieles hatte sich in den vergangenen Wochen geandert. Aber eines war geblieben, war in den schweren Stunden sogar noch starker geworden: die Freundschaft Giovannis zu Marco und Giannina. Sie sahen sich seltener als fruher, doch wenn sie zusammenkamen, spurten sie ohne viele Worte, wie die Freundschaft gewachsen war.
        Die beiden Jungen empfanden aber auch, da? das Leben begann, ihre Wege auseinanderzufuhren.
        Marco liebte das Meer und die Schiffe; alles zog ihn in die Ferne, und der kindliche Wunsch, in fremden Landern nach verborgenen Schatzen zu suchen, war nichts anderes als ein Widerschein des Strebens venezianischer Kaufleute nach einem gewinnbringenden Handel und all den Abenteuern, die damit verbunden waren.
        Giovanni aber wandte seine Sehnsucht immer mehr der Kunst des Meisters Benedetto zu. Er suchte das Gluck nicht in der Ferne, sondern verfolgte mit der ihm eigenen Beharrlichkeit das Ziel, auf Murano ein angesehener Bootsbauer zu werden, um hier, auf der von Wasser und spiegelnden Lichtreflexen umgebenen Laguneninsel, mit dem Blick auf das farbenprachtige, lebenspruhende Venedig, ein geruhsames Leben mit seinem Vater und Giannina fuhren zu konnen. Giannina gehorte zu ihm; solange er zuruckdenken konnte, hatte er mit ihr alle Freuden und alle Angste geteilt. Seitdem sie in Venedig war, glaubte er manchmal etwas Fremdes in ihren Augen zu finden, das ihn beunruhigte.
        Heute abend wollten Marco und Giannina nach Murano kommen. Deshalb stand Giovanni seit geraumer Zeit auf dem vereinbarten Treffpunkt und wartete.
        Und in der Ungeduld des Wartens brachen wie ungebardige Fohlen die Gedanken hervor, die schon langere Zeit im Hintergrund gelauert hatten: Vielleicht kommen sie gar nicht? Ich stehe hier und warte, wer sagt mir denn, da? sich Giannina so sehr auf den Besuch Muranos freut? In Venedig ist Karneval. Die Piazzetta und der Marcusplatz, die Kanale und Brucken wimmeln von bunten Masken.
        Mude wehrte Giovanni die finsteren, mi?trauischen Gedanken ab.
        Es war eine Herbstnacht mit tausend Sternen, ein Nachklang des vergangenen Sommers, der hei? und von grellem Licht erfullt gewesen war.
        Kam nicht ein leises Madchenlachen von San Michele heruber und mischte sich mit den Tonen des Fagotto und der fernen Musik des Meerwindes? ëGiovanni! Giovanni!» rief eine Madchenstimme.
        Da begann die unsichtbare Glocke wieder voll und rein zu klingen.
        Er legte die Hande an den Mund und rief mit einer Stimme, die wie tonendes Erz uber das Wasser klang:
        ëGiannina!» Und noch einmal, jede Silbe betonend: ëGian - ni - na!» Dann kraftig und schmetternd wie Fanfaren: ëMarco! Marco!» ëWirst auch wieder singen», hatte der Vater gesagt.
        Das Boot tauchte wie ein gro?er plumper Fisch im Dunkel auf und steuerte auf Giovanni zu.
        ëHast du das Feuer auf San Michele gesehen, Giovanni?» fragte Marco, noch ehe er ausgestiegen war. ëGiannina hat es angezundet, du solltest daran erkennen, da? wir bald kommen. Auf die verrucktesten Ideen kommt sie manchmal, deine Seerauberbraut.

        Er lachte laut und herzlich. Wenn er den Fu? auf Murano setzte, war er unbeschwert wie ein Vogel, der am blauen Himmel schwebt.
        ëDa sind wir endlich einmal wieder zusammen», sagte Giannina in leichter Verlegenheit. ëWie geht es dem Vater?»
        ëAch, er schmiedet Plane. Sitzt vor dem Haus und glaubt, da? er schon wieder Baume ausrei?en konnte.»
        Paolo befestigte das Boot an einem Pfahl, der im Wasser stand. Es war ausgemacht worden, da? Marco, Giannina und Paolo die Nacht auf Murano verbringen sollten, um am nachsten Morgen erst nach Venedig zuruckzukehren.
        ëMesser Pietro Bocco wird bose sein, wenn er davon erfahrt», hatte Paolo gewarnt. ëEr konnte es als Anla? benutzen, mich aus Euren Diensten zu entfernen.»
        Marco hatte ihn beruhigt. ëNie werde ich das zulassen, Paolo. Mach dir keine Sorgen. Du kannst bei mir bleiben, solange du willst. Und wenn ich einmal auf Reisen gehe, nehme ich dich mit.»
        Paolo war in die Gemeinschaft der drei aufgenommen worden, so da? sie ohne Scheu vor ihm sprachen. Er gehorte zu ihnen wie ein gro?er Bruder, der seine schutzende Hand uber sie halt. ëSchon ist der Abend», sagte Marco. ëImmer ist es schon auf Murano.»
        Sie setzten sich auf die Steine nieder und blickten uber das Wasser. Nicht weit von ihnen zog eine gro?ere Barke, von kraftigen Ruderschlagen bewegt, voruber. Die Tone des Fagotto waren verklungen.
        ëDa hast du also das Feuer angezundet», sagte Giovanni. ëIch dachte mir beinahe, da? es ein Zeichen von euch sei.»
        ëSiehst du, Marco», rief Giannina und klatschte vor Vergnugen in die Hande.à- ëWas fur ein Unsinn, ein Feuer anzuzunden», ahmte sie Marcos Stimme nach, ëwie kann Giovanni ahnen, da? es fur ihn bestimmt ist. -Du brauchst jetzt nicht zu lachen», sagte sie mit gespielter Emporung, ëargerst dich nur, weil ich recht hatte!»
        Marco aber war in Wirklichkeit gar nicht zum Lachen aufgelegt. Die unbefangene Freude Gianninas, die sich in ihren Bewegungen, ihrem Mienenspiel und ihren schnellen Worten ausdruckte, rief eine Traurigkeit in Marco hervor, die ihm sonst fremd war. Sie legte sich wie ein Schleier uber seine Gefuhle und dampfte sie zu einem angenehmen Mitleid mit sich selbst.
        ëIch lache eben», sagte er fast bose. Und er lachte noch einmal. Es war ein Lachen, das die Stimmung der Herbstnacht storte. Gleich darauf argerte er sich selbst daruber.
        Doch Giannina verscheuchte die Verstimmung; plotzlich fand sie begeisterte Worte fur den Mond am dunklen, sternenbesaten Himmel, dann glaubte sie ein Gluhwurmchen zu entdecken, sprang auf, jagte ihm nach und kam mit der aufgeregten Mitteilung zuruck, da? sie sich beinahe an einem Glassplitter verletzt hatte.
        ëGlas», sagte sie, ëuberall liegt Glas herum auf Murano. Wenn es wenigstens ein Diamant gewesen ware!»
        Paolo sa? mit leisem Schmunzeln abseits und spielte mit einer Rute, die er von einem Weidenbaum abgeschnitten hatte.
        Die schweigende Nacht, das leise Gesprach und die tanzenden Lichter auf der Lagune verliehen den Wunschen die Flugel der Phantasie.
        Uber Giovannis Zuge flog ein froher Schein, der die feinen und doch kraftigen Linien seines ernster gewordenen Gesichts hervorhob. Meister Benedettos Worte kamen ihm in den Sinn: ëDie Arbeit bekommt dir. Bist breit in den Schultern wie Ernesto, dein Vater, und hast seinen ruhigen SinnÅ»
        ëDie Arbeit bekommt mir gut», sagte er und reckte sich stolz.
        ëHast ordentlich Arbeitshande bekommen», meinte Giannina und strich neugierig mit dem Finger uber seinen Handteller.
        ëIch mu? jetzt oft an Zsusinka denken», sagte Marco. ëWie mag es ihr wohl ergangen sein? Manchmal hatte ich Lust, nach Damaskus zu fahren, um sie zu suchen.»
        Sie hatten sich schon mehrmals uber Ferko, den alten Zigeuner, der irgendwo mit Herkules und Pippino durch Stadte und Dorfer zog, unterhalten. Und Zsusinka, das unbekannte Zigeunermadchen, war ihnen vertraut wie eine Schwester geworden; ihr unbestimmtes Schicksal, das an ein Marchen erinnerte, gab immer wieder Anla? zum Nachdenken und Traumen. Auch heute, im zarten Dunkel der Sternennacht, erfanden sie Geschichten, in denen sie sich ausmalten, wie es Zsusinka wohl ergangen sein konnte.
        Fur Giovanni und Giannina war es eigentlich mehr ein Spiel mit dem feinen Gewebe der Phantasie, wahrend aus Marcos Worten der Glaube sprach, da? er eines Tages Naheres uber Zsusinka erfahren oder ihr gar von Angesicht zu Angesicht gegenuberstehen werde. Er stellte sich vor, da? sie Giannina ahnlich sahe, mit vollen roten Lippen und Augen wie gluhende Kohlen.
        Vom Wasser kam ein kuhler Hauch. Giovanni, der keine Strumpfe anhatte, zog frostelnd die Schultern ein.
        Ein leiser Wind wehte vom Land her und trug den Rauch aus dem Schornstein des nahen Glasofens mit sich.
        Die Glasofen Muranos durften auch in der Nacht nicht verloschen.
        Die Wolken am Himmelsgewolbe kamen in Bewegung. Der Wind hatte sich aufgemacht und trieb sein Spiel mit ihnen, schob sie vor die Mondsichel, blies sie wieder auseinander und setzte sie erneut zu Wolkengebirgen und bizarren Gestalten zusammen.
        Ernesto sa? indes auf der kleinen, selbstgezimmerten Bank vor seinem Haus. Elena, die Nachbarin, war bei ihm gewesen und hatte ihm einige Scheiben geraucherter Wurst gebracht. Sie hatte sich gleich wieder verabschiedet, weil sie fur Pietro, der diese Nacht arbeiten ging, das Essen zubereiten mu?te. Es war Ernesto auch recht, allein zu sein - allein mit seinen Krucken und seinen Sorgen, die ihn mehr denn je bedruckten.
        Er dachte uber den merkwurdigen Besuch nach, den er heute morgen empfangen hatte. Giovanni wu?te noch gar nichts davon. Messer Celsi war bei ihm gewesen und hatte sich nach Ernestos Befinden erkundigt.
        Ernesto bewegte seine linke Fu?spitze unruhig hin und her; sein Beinstumpf schmerzte wieder. Leise raschelte der Wind in den Baumen und Strauchern.
        Ein Gluck war es, da? Meister Benedetto den Jungen aufgenommen hatte, ohne das ubliche Lehrgeld zu verlangen. Aber Giovanni besa? nicht einmal Strumpfe und lief wie ein Landstreicher umher. An sich selbst dachte Ernesto nicht. Er gab sich mit dem zufrieden, was gerade im Hause war. Sein Essen bestand hauptsachlich aus Polenta, einem dicken Brei aus Kornmehl und Wasser, der in hei?er Asche gebacken wurde. Polenta gab es zum Fruhstuck, zum Mittag und zum Abend. Manchmal a? er sogar eine gesalzene Sardelle oder ein Stuck gesalzenen Kase dazu.
        Messer Celsi war sehr freundlich gewesen und hatte mit Ernesto wie mit seinesgleichen gesprochen. ëDu bist jetzt in Not, Ernesto. Aber schau, ich will dir helfen, bin gar nicht so schlecht, wie die Leute mich hinstellen. Die Dirne», er wies auf das Nachbarhaus, ëhatte nicht so empfindlich zu sein brauchen. Aber ich nehme ja nichts krumm, bin ein Gemutsmensch. Ist sie weg? Gut! Es gibt genugend Magde, die gern bei mir arbeiten, oder meinst du nicht?»

        Ernesto gab ihm keine Antwort und unterdruckte den Unwillen, der in ihm aufstieg.
        ëWie gesagt, Ernesto», sprach Messer Celsi weiter, ëich will dir helfen, kann doch einen so tuchtigen Landsmann nicht im Stich lassen. Wenn du Geld brauchst, bitte, der Celsi gibt es dir. Da setzen wir ein Papierchen auf, da? du es mir in drei Jahren zuruckzahlstÅ»
        So ungefahr hatte Messer Celsi gesprochen. Ernesto konne auf der Stelle zweihundert Zechinen oder auch mehr bekommen, die Zinsen seien nicht der Rede wert, da wurde man schon einig werden.
        ëWo nur die Kinder bleiben?» schrie Elena hinuber. ëGeh ins Haus, Ernesto, es wird kuhlÅ»
        Ernesto spielte gedankenverloren mit den Krucken, die er sich selbst angefertigt hatte. Er wu?te naturlich genau, da? Messer Celsi sein Angebot nicht aus Menschenfreundlichkeit gemacht hatte, sondern auf diese Weise versuchte, in den Besitz von Ernestos Haus zu gelangen.
        ëKannst du nicht zahlen, gut, nehmen wir dein Haus. Hier auf diesem Papier steht, da? du mir zweihundert Zechinen schuldest.» Von dieser Art war Messer Celsi. Uberall, wo es etwas zu holen gab, tauchte der nimmersatte Celsi mit seinem Geiergesicht und der schwarzen Haarstrahne auf und sprach freundliche, hilfsbereite Worte.
        Was sollte Ernesto machen? Seine Kollegen hatten ihm bis jetzt geholfen, und auch die Nachbarsleute taten alles mogliche, um ihm sein Los zu erleichtern. Aber sie waren ja selbst arme Teufel, die sich recht und schlecht durchs Leben schlugen.
        Das Herz tat ihm weh, wenn er seinen Jungen in der zerschlissenen Kleidung herumrennen sah.
        Zweihundert Zechinen! Damit konnte er sich ein Fischerboot kaufen, und auch fur Giovanni bliebe noch etwas ubrig. Doch wurde er in der Lage sein, Messer Celsi die Summe zum festgesetzten Zeitpunkt zuruckzuzahlen? Das Fischen brachte nicht viel ein. Ernesto wu?te, da? die Fischer froh waren, wenn sie fur ihre Familien das notwendige Geld fur das Essen und die armliche Kleidung verdienten. Und es war ja auch unmoglich, allein hinauszufahren. Er brauchte einen kundigen Begleiter. Rudern wollte er schon, er besa? ja noch kraftige Arme. Beim Rudern machte es nichts aus, wenn ein Bein fehlte. Und einen Begleiter wurde er sicher finden, wenn er erst ein Boot hatte.
        Ernesto schmiedete Plane. Er war neununddrei?ig Jahre alt, seine Haare an den Schlafen waren schon grau. Auf Krucken mu?te er sich nun herumschleppen. Seit dreizehn Jahren lebte er allein mit Giovanni in dem kleinen Haus, das er einst fur Marietta gebaut hatte. Er konnte nach so langer Zeit ohne Schmerz an seine Frau denken, sie war eine ferne, gute Erinnerung.
        Das Haus ist ein kleines Schmuckkastchen. Die meisten Hauser auf Murano und auch in Venedig sind aus Holz gebaut. Es gibt nur wenig Ziegelbrennofen in der Republik von San Marco. Ziegel sind teuer. Noch teurer sind die naturlichen Steine aus den Bergen oder die Blocke aus den carrarischen Marmorbruchen. Der Transport nach Venedig ist beschwerlich. Und plotzlich wunschen die reichen Herren, da? ihre Wohnhauser und Palaste aus Stein gebaut werden. Sie konnen es sich leisten; Steine sind kostbar wie Salz, aber Menschenleben und Arbeitskrafte sind billig. Je teurer die Steine, desto billiger die Arbeitskrafte. In Venedig sind in letzter Zeit viele Handwerker zugewandert, die glaubten, in dieser Stadt mehr verdienen zu konnen als in ihrer Heimat. Die reichen Herren konnen auswahlen. ëIst dir der Lohn zu niedrig, geh nach Hause, es gibt genugend andere.»
        Ernestos Haus aber ist ein Steinbau, fest gefugt, fur Jahrhunderte gebaut. Er hat die Steine unter Lebensgefahr aus einer Ruine auf einer entfernten Insel herausgebrochen und nachts mit dem Boot nach Murano gebracht. Bei Wind und Wellengang! Nacht fur Nacht! Marietta, seine Frau, stand an der Landungsstelle mit einem Wagen bereit; und wahrend Ernesto zum zweiten Male in die Nacht hinausfuhr, belud sie den Wagen, zog ihn uber die schlechten, bei Regen verschlammten Wege quer durch die Insel und lud die Steine an der Stelle ab, wo spater das Haus gebaut werden sollte.
        Sie trug damals schon das Kind unter dem Herzen. Das Haus wuchs. Ernesto magerte ab. Marietta reichte ihm mit zusammengebissenen Zahnen die Steine zu. Sie lie? sich nicht vom Arbeitsplatz vertreiben.
        Als Giovanni geboren wurde, fehlte nur noch das Dach. Aber Marietta konnte nicht mehr von ihrem Krankenlager aufstehen. Die Blumen bluhten auf den Fensterbrettern, als sie starb.
        Ernesto liebte jeden Stein dieses Hauses.
        Giovanni trug die Zuge der Mutter und rannte wie ein Bettler umher.
        Zweihundert Zechinen!
        Der Himmel hatte sich immer mehr bezogen.
        Ernesto griff nach den Krucken und wollte sich eben erheben, als die Gartentur geoffnet wurde und ein junges Madchen mit einem Korb am Arm eintrat.
        ëDa seid Ihr ja, Ernesto. Gut, da? ich Euch noch drau?en treffe!» ëWas willst du bei mir?» fragte Ernesto verwundert. ëMesser Celsi schickt mich. Ich bringe einen gebratenen Kapaun. Ihr sollt ihn Euch schmecken lassen.»
        Der Messer Celsi schickte ihm einen Kapaun.
        Ernesto erhob sich muhsam. Wegen eines Kapauns war Giannina unmenschlich geprugelt worden. Die Zornesadern schwollen auf Ernestos Stirn.
        ëSind auch die Kopffedern nicht abgebrannt?» fragte er mit unterdruckter Wut in der Stimme. ëIch esse nur Kapaune mit Kopfputz, sage das dem edlen Messer Celsi!»
        Die Magd sah ihn mit erschrockenen Augen an. Aber Ernesto war schon wieder ruhiger geworden. ëGeh, bring ihn zuruck! Sag, ich will ihn nicht haben!»
        Ernesto humpelte ins Haus.
        Das Madchen ging kopfschuttelnd davon, und die Angst regte sich in ihm, wenn es daran dachte, da? es Messer Celsi den Kapaun zuruckbringen mu?te.
        ëAber du frierst ja, Giovanni», sagte Giannina. ëWir werden schnell nach Hause gehen. Man wird schon auf uns warten.»
        Paolo holte den Korb mit dem Essen und befestigte das Boot. Eine sturmische Nacht kundigte sich an.
        Heulend pfiff der Wind uber das Wasser, zerrte an den Kleidern, fegte uber Wiesen und Stoppelfelder und trieb trockenes Laub vor sich her.
        Sie mu?ten schreien, wenn sie sich verstandigen wollten. Die Wolken verdeckten den Mond, kaum waren noch Sterne am Himmel zu sehen. Als sie an der Glashutte vorbeigingen, wurde das Tor geoffnet. Ein breiter Lichtstreifen fiel uber den Weg und beleuchtete die riesengro? erscheinende Silhouette eines Glasmachers, der tief atmend im Torweg stand.
        Giannina und Giovanni traten aus dem Dunkel ins Licht und gingen wieder in das Dunkel hinein. Sie stemmten die Schultern gegen den Wind und pre?ten die Lippen zusammen. Dieses schweigende Nebeneinandergehen auf der winddurchwehten heimatlichen Insel erfullte sie mit einem Gefuhl, das hell und unbeschreiblich schon war.
        Marco, der einige Schritte zuruckgeblieben war, hatte im Lichtschein die armliche, dunne Kleidung des Freundes gesehen. Er beeilte sich, wieder an Gianninas Seite zu kommen. Vor ihnen ging Paolo und bahnte mit seiner gro?en Gestalt den Weg. ëBald sind wir da!» schrie Giovanni.
        Das nachste Mal bringe ich ihm Kleider mit, dachte Marco. Und er nahm sich vor, mit Giannina einen Feldzugsplan auszuarbeiten; denn er wu?te, wie empfindlich der Freund war. 'Ich habe hier ein paar Kleider, die mir zu klein geworden sind. Sie liegen unnutz in der Truhe. Konntest du sie vielleicht gebrauchen, Giovanni? Ich mochte sie nicht langer herumliegen lassenÅ' Marco legte sich geschickte Reden zurecht, mit denen er Giovanni bewegen wollte, das Geschenk anzunehmen.
        Jetzt standen sie vor dem Kanal, der Murano teilte. ëVater Andrea!» rief Giovanni zum anderen Ufer hinuber. Der Wind nahm ihm die Worte von den Lippen und trug sie geschwind davon.
        Sie mu?ten mehrmals rufen, bis sie Antwort erhielten. Nach einer geraumen Weile kam der Fahrmann mit seinem Boot. Er schimpfte, weil man ihn zu so spater Stunde aus seiner Bretterbude geholt hatte. Als er aber Giovanni sah, legte sich sein Arger.
        ëDu bist's», brummte er, ësteigt nur ein!» Dann erkannte er auch Giannina. ëBist du auch wieder mal da?» fragte er.
        Er stie? das Boot ab und ruderte gegen die Wellen an. Der Wind zerzauste sein Haar. ëTeufelssturm!» knurrte er und machte mit bedachtigen Bewegungen das Boot am anderen Ufer fest.
        Die Baume in den beiden Vorgartchen trugen nur noch wenig Laub, hinter Asten und Zweigen schimmerten die Fenster.
        ëWir gehen zu uns!» ordnete Giannina an. Doch Giovanni strebte schon nach der anderen Seite. ëIch komme gleich», rief er.
        Als Giovanni in die Stube trat, sa? Ernesto vor dem Kamin und blickte in die Flammen. Auf dem Tisch stand ein Teller mit den geraucherten Wurstscheiben, die Gianninas Mutter gebracht hatte.
        ëDa bist du ja!» sagte Ernesto und hob den Kopf. ëSetz dich nur und i?, wirst sicher tuchtigen Hunger habenÅ Es ist wohl recht sturmisch drau?en?»
        Die flackernden Flammen beleuchteten Ernestos Gesicht. Giovanni setzte sich neben ihn und streckte die Hande gegen den Kamin.
        ëWill mich erst ein wenig warmen», sagte er. ëHabt Ihr denn schon gegessen, Papa?»
        Ernesto nickte. Seine Beine sind blau vor Kalte, dachte er. ëWarme dich nur, mein Junge!»
        ëIch wei? gar nicht, warum ich heute so froh bin?» sagte Giovanni und konnte den Blick nicht von dem Spiel der Flammen losen. Der Vater lachelte. ëDas ist manchmal so», erwiderte er. ëIch mu? schnell zu Giannina hinubergehen», erinnerte sich Giovanni. ëSie warten schon auf mich. Marco schlaft ja heute bei uns.»
        Wahrend Giovanni redete, dachte der Vater mit Sorgen daran, was Messer Celsi wohl zu dem verschmahten Kapaun sagen wurde. Er hatte sich inzwischen entschlossen, die zweihundert Zechinen anzunehmen. Gleich am nachsten Morgen wollte er zum Messer Celsi gehen. Oder war es nicht besser, zu warten, bis der reiche Landmann sein Angebot wiederholte? ëWas habt Ihr denn gegessen, Papa?» ëBeinahe einen Kapaun», sagte Ernesto und lachelte bitter. Giovanni sah ihn fragend an.
        ëI? nur, damit du stark wirst und gro?e Schiffe bauen kannst.» Er griff unter die Bank und warf einen Holzkloben ins Feuer. Gierig beleckten ihn die Flammen. Das Wasser in den Poren verdampfte und sprengte knisternd die engen Hullen.
        ëIhr kommt doch mit, Papa?» fragte Giovanni, mit vollen Backen kauend. ëWie gut die Wurst schmeckt! Wenn ich erst Geld verdiene, werden wir oft Wurst essenÅ»
        ëIch will noch ein wenig allein sein. Geh nur, mein Junge!»
        Der Herbststurm tobte die ganze Nacht hindurch. Am anderen Morgen aber brach die Sonne durch das graue Gewolk und schmuckte den Himmel in den schonsten Farben.
        Marco hatte bei Giovanni geschlafen, lange hatten sich die Freunde noch unterhalten. Es war so schon, im Bett zu liegen, wenn der Wind ums Haus heulte und an den Fensterladen ruttelte.
        Nun lag die Insel still im ersten Morgenschein und hielt stumme Zwiesprache mit den flusternden Wellen.
        Ernesto, der seit seinem Unfall wenig Schlaf fand, war schon aufgestanden und hantierte in der Kuche. Er machte Feuer an und hangte den mit Wasser gefullten Kupferkessel uber die Flammen. Bald kam Paolo aus dem Nachbarhaus, um Marco zu wecken. Sie wollten so fruh wie moglich zuruckfahren, damit Pietro Bocco von dem nachtlichen Ausbleiben nichts merkte. ëIch komme bald wieder», sagte Marco zum Abschied.
        Giovanni blickte den beiden nach. Marco, schlank und biegsam, war nur einen halben Kopf kleiner als der Diener.
        Auch Giannina war fruh aufgestanden. Sie blieb noch einen Tag in Murano, um ihrer Mutter, die sich nicht wohl fuhlte, bei der Wasche zu helfen. Als sie in den Garten hinausging, sah sie in der Ferne den Freund mit dem Diener.
        ëIhr geht schon», rief sie ihnen nach, ëund habt euch noch nicht einmal verabschiedet?»
        Marco winkte und schrie etwas, seine Worte waren nicht mehr zu verstehen.
        Wei?e Wolkenberge umgaben in einem Halbkreis schutzend die Sonne. Giannina stutzte sich mit den Handen auf einen Holzpfosten, legte das Kinn darauf und sah, ein wenig vertraumt, den Freunden nach.
        Giovanni stand unbemerkt an der Gartentur. Er wollte rufen, brachte aber kein Wort heraus.
        Wie lange hatte er Giannina nicht gesehen? Vier Wochen waren es wohl gewesen. Im hellen Licht des Morgens bemerkte er plotzlich, da? sie sich irgendwie verandert hatte. Ihr Gesicht schien neue Linien und Farben bekommen zu haben. Es war ganz ungewohnlich, die lebhafte Giannina so still und versonnen zu sehen. Woran dachte sie?
        Ein feiner Schmerz, dessen Ursache er nicht deuten konnte, kundigte sich an.
        Marco und Paolo waren langst nicht mehr zu sehen. Gianninas Gesicht war weich und traumerisch, vor ihren Augen schimmerte ein goldener Sonnenschleier. Eine angenehme Mudigkeit breitete sich uber ihren Korper aus.
        Sie glaubt ihn noch immer zu sehen, dachte Giovanni. Wie kann es auch anders sein? Er ist schlank und tragt schone KleiderÅ
        Wagenrader drehten sich uber Sand und Steine. Das Gerausch naherte sich. Rufe tonten durch den Morgen. Giovanni wandte den Kopf.
        ëLauf, mein Bockchen, lauf!» Der alte Francesco kam und trieb mit munteren Rufen den Ziegenbock an, den er wie ein Pferdchen vor seinen Handwagen gespannt hatte. ëLauf, mein Bockchen, lauf!» Das Bockchen senkte den Kopf und legte sich in die Zugel.
        Giannina erwachte aus ihren Traumen, lief gru?end an Francesco vorbei und stand nun unerwartet vor Giovanni.
        ëAch, Giovanni», sagte sie und breitete die Arme aus, ëich bin ja so froh, da? ich hier bin!»
        ëMarco ist nun weg», erwiderte er mit abwesendem Gesichtsausdruck. Er konnte die traumerisch in die Ferne gerichteten Augen Gianninas, die ihn jetzt lebhaft und forschend ansahen, nicht vergessen.
        ëIch mu? zum Meister Benedetto», sagte er und wollte ins Haus hineingehen. Doch Giannina hielt ihn zuruck. ëWas hast du nur, Giovanni?» fragte sie.
        Er senkte die Augen und empfand mit einemmal ein unbehagliches Schuldgefuhl. ëIch wollte dich nicht storen», begann er stockend. Er hatte sich selbst ohrfeigen konnen uber diese Worte, die gegen seinen Willen uber die Lippen geschlupft waren.
        ëIch verstehe dich nicht», rief Giannina aus. ëDu stehst da, steif wie ein Stock, und redest so merkwurdig.»
        Der Arger in Gianninas Stimme steigerte seine Verwirrung, so da? er keinen Rat mehr wu?te, als sich umzudrehen und schweigend ins Haus zu gehen.
        Nach einer Weile kam er mit einem Bundel, in dem sich sein Werkzeug befand, wieder heraus. Seine Hoffnung, Giannina im Garten zu treffen, erfullte sich nicht. Er wu?te wohl, da? er sich wie ein Esel benommen hatte, brachte es aber nicht fertig, einfach in das Nachbarhaus zu gehen, um mit einigen Worten das herzliche Verhaltnis wiederherzustellen.
        Der Weg fuhrte einen Hugel hinan. Von der Anhohe hatte man einen weiten Blick auf die silbern schimmernde Lagune. Giovanni sah das Wasser, ohne von seiner Schonheit beruhrt zu werden.
        Zwei schlanke Pappeln standen vor der kleinen Brucke, die uber einen schmalen Nebenarm des Kanals fuhrte. Das Laub zitterte. Zwischen den hohen Baumen, mitten auf dem Weg, wartete Giannina. Sie war nachdenklich vorausgegangen. Erst hatte sie ins Haus gehen wollen, aber dann war ihr mit einemmal klargeworden, da? sie Giovanni nicht bose sein durfte.
        Als er jetzt auf sie zukam, klopfte ihr Herz; es war, als dringe die Sonne in ihre Gedanken und Gefuhle ein. Sie stand zwischen den Pappeln, das Gesicht dem Freund zugewandt, der nur noch wenige Schritte entfernt war.
        Giovanni blickte auf und blieb uberrascht stehen. Er nahm sein Bundel von einer Hand in die andere und beobachtete einen Spatz, der wie ein Federball auf dem Bruckengelander herumhupfte. Vor ihm stand Giannina und sagte:
        ëIch stehe hier schon eine ganze Weile und warte auf dich. Wenn du willst, begleite ich dich ein wenig.»
        Der Spatz flog auf und verschwand im Laub der Pappeln. ëVorhin habe ich daran gedacht, wie schon es ware, wenn ich immer hierbleiben konnte», sagte Giannina.
        Giovannis Gesicht war brennend rot geworden. Er sah an Giannina vorbei und pragte sich, ohne da? er es wollte, nebensachliche Einzelheiten ein: Das Gelander der Brucke war an einer Stelle beschadigt, der Pfahl, der es stutzte, hing schrag uber dem Wasser und spiegelte sich darin. Ein Fisch sprang platschernd uber die Oberflache und verursachte kreisformige Kringel, die uber das Wasser huschten und wie eine sterbende Melodie verebbten.
        Giovanni hustelte.
        ëDer Wind ist ja nun vorbei», sagte er endlich.
        Das Madchen beugte sich nieder und pfluckte eine rote Herbstblume. ëMeister Benedetto wird warten», sagte sie.
        Giovanni spurte am Klang ihrer Stimme die leise Ungeduld und suchte angestrengt nach den richtigen Worten, um die aufsteigende Verstimmung zu verscheuchen. Das Nachdenken faltelte seine Stirn und gab dem Gesicht ein ernstes Aussehen.


        Giannina hatte sich die Begegnung mit dem Freund anders vorgestellt. Sie glaubte Kalte und Abweisung in seinen Zugen zu lesen. Was war nur in den vergangenen vier Wochen geschehen? Warum hatte Giovanni sich so verandert? Angst, Scham, ein feiner, ziehender Schmerz und Zorn kampften in ihr und drangten die Worte auf ihre Lippen:
        ëIch werde dich nicht langer storen. Kannst es mir ja sagen, wenn du nichts mehr von mir wissen willst!»
        Plotzlich traten ihr die Tranen in die Augen. Doch Giovanni sollte ihren Schmerz nicht sehen. Sie drehte sich um und lief davon, als verfolge sie ein boser Geist.
        ëGiannina!» rief Giovanni mit angsterfullter Stimme. ëWarte doch!» Er warf sein Werkzeugbundel ins Gras und jagte hinter dem Madchen her. Alle Unsicherheit war mit einemmal verschwunden; wahrend er rannte, kamen ihm schon die ersten Worte in den Sinn. Und als er Giannina eingeholt hatte und am Arm festhielt, sagte er, noch ganz au?er Atem: ëDas ist doch alles ganz anders, Giannina. Ich freue mich so!»
        Sie verbarg ihr tranenuberstromtes Gesicht und sagte schluchzend: ëIch weine, und du freust dich!»
        ëSo meine ich das doch nicht», sagte Giovanni, dem auf einmal die Worte zustromten. ëIch freue mich, da? du hier bist. Wirklich, Giannina. Ich dachte nur, da? es dir hier nicht mehr so richtig gefalltÅ Nun komm nur. Da habe ich doch einfach mein Werkzeug ins Gras geworfen. Wenn das Meister Benedetto wu?te!»
        Er nahm ihre Hande vom Gesicht. ëLachst ja schon wieder», sagte er froh.



        SALZ

        FAST ZUR GLEICHEN STUNDE, DA DER DOGE Reniero Zeno nach fast sechzehnjahriger Regierungszeit eines naturlichen Todes starb, war die Amtsperiode Pietro Boccos als Patrone dell'Arsenale abgelaufen. Er war zweiunddrei?ig Monate, wie das Gesetz es vorschrieb, im Amt gewesen und am 17. Juli 1268 abgelost worden.
        Messer Pietro Bocco wohnte nun nicht mehr in der ëHolle», dem dusteren Palast innerhalb der dicken Mauern des Arsenals, sondern hatte sein Haus an einem Nebenarm des Canal Grande bezogen. Er fuhlte sich wieder freier und begann seine Krafte zu regen. Der Tod der Signora Polo und seine Einsetzung als Vormund und Vermogensverwalter waren ihm sehr gelegen gekommen.
        Er hatte den Schreiber Luigi Farino, der ihm mit unbequemen Worten auf den Leib geruckt war, beseitigen lassen und war auch fernerhin bereit, alle Hindernisse mit List und Gewalt aus dem Wege zu raumen. Seinen Neffen Marco Polo glaubte er beim Bruder Lorenzo in den richtigen Handen.
        Er hatte die Absicht, sich demnachst Paolo naher anzusehen, der nach seiner Ansicht zu vertrauten Umgang mit dem Knaben hatte. Der Diener gefiel ihm nicht. Zwar besa? Pietro Bocco keinen Beweis, der seinen unbestimmten Verdacht, den er gegen Paolo hegte, bestatigte, aber rein aus dem Gefuhl heraus spurte er, da? der Diener mehr wu?te, als ihm zutraglich war. Im Augenblick jedoch beschaftigte ihn eine andere Sache so stark, da? alles, was nicht unmittelbar damit verbunden war, dahinter zurucktrat.
        Pietro Bocco hatte eben seinen Secretario, der eine Liste eingekaufter Waren vorgelegt hatte, weggeschickt und ging nun im Zimmer auf und ab. In seinem langschadeligen Kopf arbeiteten die Gedanken. Unmerklich bewegten sich die Falten auf seiner hohen Stirn, und die zusammengezogenen Augenbrauen wolbten sich wie ein gewitterdrohendes Wolkendach uber der senkrechten Nasenkerbe. Er dachte an die funfzehn prall gefullten Salzsacke, die in seinem Lager ruhten, und an eine mit verwegenen Mannern besetzte Barke, die nachts ungesehen den Ring der Schergenboote passierte.
        Ein gefahrliches Unternehmen, das Gefangnis und Verbannung, aber auch tausend Dukaten Gewinn einbringen konnte.
        Der weiche Teppich mit dem orientalischen Muster schluckte den Laut der Schritte des rastlos auf und ab gehenden Mannes.
        Furcht, Pietro Bocco? fragte er sich. Sein Mund verzog sich zu einem verachtlich-spottischen Lachen. Die Furcht ware ein schlechter Berater fur seine hochfliegenden Plane. Aber sie war doch vorhanden, auch wenn er sie vor sich selbst verbarg. Wie ein kleines Raubtier hockte sie in einer Gedankenhohle und versuchte seine Krafte zu lahmen. Oder war es sein Gewissen, das an verschlossene Turen klopfte?
        Wieder erschien auf dem Gesicht des Mannes das lautlose Lachen und entstellte seine regelma?igen Zuge.
        Gewissen? Was taugte in dieser Zeit, wo der Dukatenstrom die Herzen verschlo?, das Gewissen?
        Verbannung und Gefangnis drohten, wenn das Unternehmen mi?gluckte.
        Tausend Dukaten lockten!
        Pietro Bocco war sich langst daruber klar, da? er sich dieses Geschaft nicht entgehen lassen wurde. Ein Narr ware er!
        Gewaltsam befreite er sich von den unbequemen Gedanken. Er besa? neben seinem ungebardigen Ehrgeiz eine reiche Vorstellungskraft, die ihm schon oft uber kleinmutige Augenblicke hinweggeholfen hatte.
        Die Sonne warf den Schatten des Fensterkreuzes auf Tisch und Teppich.
        Pietro Bocco bemerkte es nicht.
        Der Wind strich heulend an den Mauern vorbei, das gewohnte Gerausch kleiner Wellen und menschlicher Rufe tonte in den Ohren. Pietro Bocco horte es nicht.
        Messer Pietro Bocco traumte davon, zum hochsten Amt, das die Republik an einen Mann von burgerlicher Herkunft zu vergeben hatte, aufzusteigen.
        Er geht in Purpur gekleidet, wie der Doge und seine Rate, und genie?t alle Vorrechte des Adels. Die goldene Stola hebt sich prachtig von seinem Gewand ab, Himmel und Wasser vereinen sich zu einer Symphonie von Farbe und Licht, blumengeschmuckte Boote schwimmen auf den Kanalen, die Piazza ist von festlich gekleideten Menschen belebt - ein buntes, larmendes Gewimmel, ubertont vom Klang der Glocken auf dem Campanile!
        Rufe kommen aus der vieltausendkopfigen Menge: ëEs lebe Pietro Bocco!»
        ëEs lebe der Gro?kanzler Pietro Bocco!»
        Er ist auf Lebenszeit gewahlt und Kavalier von San Marco geworden. Er bekommt den Titel Exzellenz und hat den Vortritt vor allen Senatoren und Gerichtsbeamten der Stadt, ausgenommen die Rate des Dogen und die Prokuratoren von San Marco. Er ist im Besitz des gro?en Siegels der Republik und hat teil an allen Staatsgeheimnissen. Er - er - er! Der Gro?kanzler Pietro Bocco! ëSeht, wie stolz er schreitet!» ëWirkt er nicht vornehmer als selbst der Doge?» Die Flagge der Republik mit dem goldenen Lowen weht am Dogenpalast und an den anderen offentlichen Gebauden.
        Dieses ist die hochste Stufe, die ein Sterblicher vom Stande Pietro Boccos erklimmen kann. Sein Amt ist das eintraglichste in der ganzen Republik von San Marco. Der Senat setzt ihm neben laufenden Einkunften von 9000 bis 10 000 Dukaten noch eine Besoldung von 3000 Dukaten aus.
        Pietro Bocco fuhr sich mit einer abwesenden Handbewegung uber die Stirn und hielt in seiner Wanderung inne. Ein Klopfen hatte ihn aus seinen Traumen gerissen. In seine Augen trat ein kalter Glanz, als die Tur geoffnet wurde und ein Diener den Besuch des Barkenfuhrers Matteo, der sich stolz Kapitan nannte, meldete.
        ëSag, er solle warten!» befahl Pietro Bocco und setzte seine Wanderung fort.
        Mit wachen Sinnen uberlegte er weiter. Der Zukunftstraum schien ihn verjungt zu haben. Uberhaupt fuhlte er sich frischer und unternehmungslustiger, seitdem er nicht mehr im Arsenal vergraben, den strengen, eintonigen Dienst zu leisten brauchte. Wenn er zuruckdachte, wie grau und ermudend die zweiunddrei?ig Monate gewesen waren, befiel ihn noch heute ein kalter Schauer.
        Und er hatte sogar daran gedacht, weitere zweiunddrei?ig Monate im Amt zu bleiben.
        Aber die Zeit war doch nicht verloren gewesen, sondern hatte mancherlei nutzliche Bekanntschaften und Verbindungen gebracht. Er hatte auf diese Weise auch den Barkenbesitzer Matteo kennengelernt und von ihm schon einige nutzliche Dienste erfahren. Matteo, der auf die Anrede Kapitan gro?en Wert legte, war ein verwegener Bursche, der die Lagune und die Castellos wie seine Handteller kannte und auf den Segelregatten, die jedes Jahr durchgefuhrt wurden, die ersten Preise holte. Man sagte scherzhaft von ihm, da? er mit den Windgeistern einen Kontrakt geschlossen hatte. Irgendwie erwischte er selbst bei Flaute noch ein Zipfelchen Wind, das gerade genugte, um ihn zu seinem Bestimmungsort zu bringen. Man flusterte sich aber auch andere Bemerkungen uber Kapitan Matteo zu.
        Pietro Bocco offnete die Tur und rief den Diener. ëKapitan Matteo soll kommen!»
        Mit den breiten, wiegenden Schritten des Seemannes trat der untersetzte, etwa funfzigjahrige Matteo ein. Er hielt die Mutze in der Hand und blinzelte gegen die Sonne, die voll auf sein Gesicht schien. ëIhr wunscht mich zu sprechen, Messer Bocco?»
        Pietro Bocco begru?te ihn herzlich. ëWillkommen in meinem Hause, Kapitan Matteo.» Er klatschte in die Hande. Der Diener erschien in der Tur.
        ëBring Wein, aber beeil dich.»
        Er wandte sich an Matteo, der ihn gerade mit einem scharfen Blick gemustert hatte und jetzt ohne sonderliche Eile die Lider niederschlug. ëSetz dich, Kapitan.»
        Er ist stark wie ein Stier, dachte Pietro Bocco, als er die breiten Schultern mit dem muskulosen Oberarmansatz sah.
        Matteo legte im Sitzen die Hande auf die Knie. Es waren ungewohnlich breite Hande. Pietro Bocco bemerkte mit Staunen, da? ihn ein unangenehmes Gefuhl beschlich, als er die stammige Gestalt vor sich sitzen sah.
        Er war froh, als der Diener den Wein brachte.
        ëLa? uns trinken, Kapitan!» Pietro Bocco hob das Glas und hielt es gegen das Licht. Feine, durchsichtige Perlen stiegen auf. Sie tranken.
        Matteo setzte das Glas vorsichtig auf die mit Goldfaden durchwirkte Tischdecke und strich sich mit dem Handrucken uber den Mund. Erwartungsvoll sah er Messer Pietro Bocco an.
        ëWie steht es, Kapitan, ist dein Schiff bereit?» Pietro Bocco schob sein Kinn mit dem Spitzbart vor und sah seinem Gegenuber mit festem, zwingendem Blick in die Augen.
        ëIch habe mein Schiff schwarz anstreichen lassen.» Bedachtig wahlte Matteo die Worte. ëDas Schiff ist schwarz, und die Segel sind rot - dunkelrot.»
        ëGut.»
        Pietro Bocco senkte den Kopf und hob ihn plotzlich wieder, als wolle er durch die jahe Bewegung seinen Gesprachspartner in die Enge treiben. ëEs handelt sich um Salz, Matteo», sagte er unvermittelt. Prufend beobachtete er die Hand des Seemanns, die breit auf der Tischdecke lag und sich jetzt zur Faust ballte. Er empfand Genugtuung uber die Wirkung seiner Worte.
        ëHundert Dukaten fur dich, Kapitan! Oder - hast du Angst?» Die letzten Worte scho? er wie einen vergifteten Pfeil ab. Matteos machtige Schultern bewegten sich. Seine Knollennase schimmerte, wie immer, wenn er aufgeregt war, in allen Regenbogenfarben.
        Pietro Bocco achtete auf jede Regung in dem Gesicht seines Gegenubers.
        ëHundert Dukaten in einer Nacht! Uberleg es dir, Matteo!»
        ëWieviel Sacke sind es, Messer Bocco?»
        ëFunfzehn!»
        Unwillig zog Matteo seine Augenbrauen zusammen. Er hatte das Manover Pietro Boccos durchschaut, der ihn mit seiner Frage zu einer unbedachten Zusage hinrei?en wollte.à- ëOder hast du Angst?» - Er schurzte in unmerklichem Spott die Lippen. Es pa?te ihm nicht, wie der edle Herr mit ihm umsprang: einmal Kapitan, dann wieder Matteo! Wer war schon Pietro Bocco? Noch nicht einmal SenatorÅ
        Kapitan Matteo stand auf und sagte gleichmutig: ëSalz ist teuer in Bologna oder Padua, Messer Bocco. Hundert Dukaten in einer Nacht, sagt Ihr. - Verzeiht, es kann auch lebenslangliche Galeerenarbeit einbringen oder sogar den Kopf kosten. Ihr wi?t, wie streng das Gesetz den Salzschmuggel bestraft.»
        Der Arger rotete Pietro Boccos Stirn. Er unterdruckte ihn sofort und sagte mit angestrengter Freundlichkeit:
        ëSetzt Euch doch wieder, Kapitan. Uber den Lohn fur Eure Dienste werden wir uns schon einig.»


        Mit scheinbarem Widerstreben setzte Matteo sich. ëEin Mann meiner Besatzung ist krank», sagte er knurrend, ësolange ich keinen Ersatz habe, kann ich nichts unternehmen.»
        Sollte er wirklich Angst haben? fragte sich Pietro Bocco, oder sagt er das nur, um den Preis in die Hohe zu treiben. Er wurde aus dem Burschen nicht schlau und argerte sich, da? er ihn unterschatzt hatte.
        Matteo sa? schweigend auf dem Stuhl.
        So kann man mit mir nicht umspringen, wiederholte er in Gedanken und sah mit verschlossenem Gesidit vor sich hin.
        Pietro Bocco anderte seine Taktik. Er war sich daruber klargeworden, da? Matteo nicht wie der Schreiber Luigi Farino - Gott hab ihn selig - behandelt werden konnte.
        Matteo war der Konig der Schmuggler, verwegene Gesellen waren bereit, jede seiner Anordnungen zu befolgen. Er wu?te manches uber die Geschafte einiger Herren, die in den hochsten Amtern der Republik sa?en. Und er war nicht der grobe Klotz, als der er dem oberflachlichen Betrachter erscheinen mochte. Die tiefliegenden, gro?en Augen zeigten Mut, Verschlagenheit und eine tuchtige Portion Bauernschlauheit, die er wohl von seinen Vorfahren geerbt hatte.
        ëEine gute Idee, Euer Schiff schwarz anstreichen zu lassen», lobte Pietro Bocco. ëA la vostre salute, Kapitan!»
        Sie tranken.
        Wieder flo? der goldene Wein in die reichverzierten Glaser. Matteo wartete geduldig. Sein Unmut hatte sich schnell gelegt. Geschafte machte man mit dem Verstand; Gefuhle spielten nur eine nebensachliche Rolle.
        Der Wein schmeckte gut.
        Wahrend Pietro Bocco uber das zweite Angebot nachdachte, das er Matteo sogleich vorschlagen wurde, kam ihm unvermutet die breitschultrige, kraftige Gestalt des Dieners Paolo in den Sinn und brachte ihn auf einen Gedanken, der ihn mit einemmal in eine heitere, fast ubermutige Laune versetzte.
        ëIch hatte einen zuverlassigen Burschen fur die nachtliche Fahrt, Kapitan», sagteer.
        ëZweihundert Dukaten, Messer Bocco. Keinen Soldo weniger», erwiderte Matteo, ohne auf die Worte einzugehen.
        Pietro Bocco drehte das Glas in seinen Handen und versuchte einen Sonnenstrahl einzufangen.
        ëGut, Kapitan! Zweihundert Dukaten!»
        ëUnd einen zuverlassigen, kraftigen Helfer!» sagte Matteo.
        ëUnd einen zuverlassigen Helfer! Trinkt, Kapitan!» Der Teufel soll dich holen, sprach er fur sich. Und es war nicht klar, ob er Matteo oder Paolo meinte.
        Der Kapitan lie? uber das Angebot ein zufriedenes Brummen horen. Die beiden au?erlich so ungleichen Manner - Pietro Bocco mit dem langlichen Kopf und Matteo mit dem fleischigen Bauernschadel - ruckten zusammen, um die Einzelheiten des Unternehmens zu besprechen.
        Es war ein Abend, der sternenlos in die Nacht hineinwuchs. Die Luft war ma?ig bewegt. Um diese Stunde gab es kaum noch Fu?ganger in den engen Gassen, die alle irgendwo zu einem Kanal fuhrten oder an der Steinmauer eines Hauses endeten.
        Paolo verlie? das Haus und ging eine Strecke Weges auf der Fondamente neben dem Kanal entlang. Gespensterhaft huschten Kahne und Barken vorbei, leise Gesprache klangen an sein Ohr. Sparliche Lichter spiegelten sich verzerrt in dem gekrauselten Wasser. Eine Frauenstimme rief etwas zum gegenuberliegenden Haus hinuber. An einem Gartenzaun, hart am Wasser, wucherte kugelformiges Gestrupp und streifte sein Haar.
        Paolo verspurte ein leises Unbehagen. Heute nachmittag war ein Bote Messer Pietro Boccos bei Marco gewesen und hatte um Paolos Dienste fur diese Nacht gebeten. Ein Diener sei erkrankt in ihrem Hause, hatte er bestellt. Eigentlich war alles einleuchtend gewesen. Marco hatte keinen Verdacht geschopft, zumal sein Oheim sich in den letzten Wochen recht wenig um ihn gekummert hatte. Er fand keinen Grund, ihm seine Bitte abzuschlagen.
        Aber warum gerade nachts? Paolos Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Am liebsten ware er zuruckgegangen. Er befurchtete einen Anschlag auf seinen Herrn.
        Die Wellen platscherten monoton gegen die Steinstufen, die links und rechts den Kanal saumten und zu den Eingangen der Hauser fuhrten. Eichene Pfosten zum Befestigen der Boote standen in greifbarer Nahe. Paolo ging vorsichtig uber einen Laufsteg und kam nach wenigen Schritten an einen breiteren Kanal. Das erste Haus gehorte Pietro Bocco. Die Wasserstra?e fuhrte geradewegs zum Canal Grande.
        Paolo klopfte an die Tur. Ein Diener offnete, als hatte er dahinter gestanden und auf den Besucher gewartet. Er hob den zweikerzigen Leuchter in Gesichtshohe. ëDu bis's, Paolo», sagte er mit leiser Enttauschung. ëUnd ich dachteÅ»
        Er konnte seinen Satz nicht vollenden. Pietro Boccos Stimme schnitt ihm die Worte ab. ëWer ist da?» ëPaolo ist gekommen, Messer Bocco.»
        Sie horten einen unterdruckten Ruch.
        Paolo benutzte die Gelegenheit zu einer flusternden Frage: ëIst ein Diener krank bei euch?»
        ëWas flustert ihr da?» rief Pietro Bocco ungehalten. ëBring ihn zu mir!»
        Der Diener ging voraus und beleuchtete den Pfad zwischen den links und rechts des Flurganges stehenden Sacken. Es roch nach Lederwaren, Gewurzen, Lebensmitteln, Tuchen und Pelzwerk - eine seltsame Mischung, die dem Handler lieblich in die Nase steigt, wenn er einsam in seinem Lager wuhlt, hier ein Stuck Tuch von einem Stoffballen zuruckschlagt, da uber einen Stapel Felle streicht und dort mit dem Fu? spielerisch gegen einen Sack Mehl sto?t; die in ihm das Gefuhl wachruft, Herr uber die Erzeuger all dieser Produkte von fern und nah zu sein.
        Paolo tat, als stolpere er und umarmte im Fallen einen Sack. Seine Hande krallten sich hinein. War das nicht Salz?
        Schwei?tropfen traten auf seine Stirn.
        ëNimm dich doch in acht!» horte er, jetzt schon ganz nah, die harte Stimme.
        Bevor er einen Gedanken fassen konnte, stand er vor Pietro Bocco. Der Lichtschein der Kerzen fiel auf das schmale Gesicht mit den leicht aus den Hohlen tretenden, fiebrig glanzenden Augen. Messer Bocco stand im Eingang des Lagers, das sich hinter seinem Rucken wie ein schwarzer Schlund offnete.
        ëMein Herr schickt mich zu Euch», sagte Paolo.
        ëGern bist du wohl nicht gekommen?» fragte Pietro Bocco. Und zum anderen Diener gewandt: ëStell den Leuchter nieder und geh!»
        Er sah auf das Stundenglas und fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung uber das Haar. Da horte er drau?en das vertraute, schnarrende Gerausch einer anlegenden Barke.
        ëEndlich», murmelte er und sagte dann, freundlicher als zuvor: ëDu wirst mit Kapitan Matteo nach San Nicolo fahren. Morgen fruh bist du wieder zuruck.»
        Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zum Haustor und offnete es. Ein Windzug wehte feuchte Luft herein und brachte den eigentumlichen Geruch nach Schlamm, Wasser und Abfallen verschiedenster Art mit sich. Vor dem Haus lag eine hochbordige Barke, deren Umrisse sich nur undeutlich im abendlichen Dunkel abhoben. Man horte leise Kommandorufe.
        Aus dem Laderaum wurde ein Brett geschoben, das die Verbindung zu der Fondamente herstellte.
        Kapitan Matteo erschien in der Tur und fullte sie mit seiner breiten, klobigen Gestalt fast aus.
        Paolo stand noch immer auf dem gleichen Platz. Nach San Nicolo sollten sie fahren? Der Hafen lag innerhalb des venezianischen Zollgebietes, keiner konnte Pietro Bocco verwehren, die bereitstehenden Sacke, die nach Paolos Schatzung Salz enthielten, nach San Nicolo befordern zu lassen.
        Aber warum nur nachts, und warum so geheimnisvoll? fragte sich Paolo zum hundertstenmal. Er wu?te wohl, wie gefahrlich es war, sich an solchen Unternehmen zu beteiligen. Da fragte nachher keiner: Bist du freiwillig mitgefahren, oder hat man dich gezwungen dazu?
        Die erste Amtshandlung der Signoria unter dem Vorsitz des neuen Dogen Lorenzo Tiepolo war gewesen, die Salzausfuhr nach den oberitalienischen Nachbarstadten zu verbieten. Es war eine Vergeltungsma?nahme gegen die Weigerung der Stadte, den venezianischen Einkaufern Getreide fur die Republik zu verkaufen. Sizilien und Suditalien, die Lieferanten von Getreide, waren in diesem Jahr von Mi?ernten heimgesucht worden, wahrend die oberitalienischen Stadte gute, die Lombardei sogar glanzende Ernten eingebracht hatten. Um einer Hungersnot vorzubeugen, mu?te Venedig Getreide von dalmatinischen Handlern kaufen, die naturlich die Notlage der Republik ausnutzten und hohe Preise verlangten.
        Das Verbot der Salzausfuhr traf die oberitalienischen Stadte so empfindlich, da? sie sich unter der Fuhrung Bolognas vereinigten, um mit Gewalt die Aufhebung des Verbotes zu erzwingen. Der Salzmangel trieb indes die Preise in phantastische Hohen und verlockte gewissenlose Kaufleute zum Schmuggel mit der kostbaren Ware.
        Paolo versuchte vergeblich, die lastigen Gedanken abzuschutteln. Die offensichtliche Erregung Pietro Boccos, das unruhige Spiel der Wellen und die flusternd gefuhrte Unterhaltung der beiden Manner waren nicht geeignet, seinen Argwohn und eine ihm sonst unbekannte Furcht zu beseitigen. Er wu?te genau, da? er der Willkur Pietro Boccos ausgeliefert sein wurde, wenn er an einer Schmuggelfahrt teilnahm.
        Pietro Boccos Risiko dagegen bestand nur darin, die Sacke ungesehen aus dem Hause zu schaffen. Deshalb war er jetzt so unruhig. Selbstverstandlich lag ihm viel daran, da? Kapitan Matteos Barke nicht in die Hande der Schergen fiel, aber weniger aus Furcht vor Strafe als des Gewinnes wegen. Er wurde sich schon reinwaschen, wenn die Barke erwischt und einer der Schmuggler wider Erwarten nicht dichthalten wurde.
        ëAuf der Lagune weht ein guter Wind», sagte Kapitan Matteo, jetzt auch fur Paolo vernehmbar.
        ëDer wird Euch schnell nach San Nicolo bringen», fugte Pietro Bocco mit ironischem Lachen hinzu.
        Nach San Nicolo? fragte sich Paolo und bewegte zweifelnd den Kopf. Was sollte er tun? Konnte er sich weigern, an der Fahrt teilzunehmen?
        Drohend ragte die hohe Bordwand der schattenhaften Barke vor dem Hause auf; Holz rieb sich an Holz, und die Planken wiegten sich sanft auf dem dunklen Wasser.
        Von der Besatzung war noch keiner zu sehen. Kapitan Matteo trat aus dem Hause und spahte nach rechts und links. Nirgendwo eine Menschenseele! Steil wuchsen die Hausermauern aus dem Wasser, die Fenster waren meist durch Laden verschlossen, nur hier und da blinkte ein einsames Licht. ëAvanti! Von Bord! Avanti!» rief Kapitan Matteo.
        Lautlos wie Katzen schlichen vier Manner uber den Steg und traten ins Haus. Sie fullten den Gang aus, so da? es fur Paolo unmoglich wurde, vorbeizusdilupfen. Im Schein der Kerzen sah er ihre stumpfen Gesichter, die mit leeren Mienen auf weitere Befehle warteten. Ohne sonderliches Interesse musterten ihre Augen die Umgebung.
        ëBringt die Sacke an Bord», befahl Kapitan Matteo, ëlangsam, Ernesto, warte doch, bis der erste hinaus ist!»
        Mit geubten Bewegungen luden sie die Sacke auf ihre gebeugten Rucken und trugen sie hinaus. Als der vierte gegangen war, schien sich Pietro Bocco erst wieder Paolos, der am Ende des Ganges stand, zu erinnern.
        ëNun los, Paolo!» rief er aufgeregt, ëbewege dich!à- Oder ist es zu schwer fur dich?» fragte er mit merkbarem Spott.
        Paolo griff, ohne zu uberlegen, nach einem Sack und warf ihn uber die Schulter. Kapitan Matteo beobachtete ihn schweigend und lie? ein beifalliges Knurren horen, als Paolo an ihm vorbeiging.
        ëEin kraftiger Bursche», sagte er zu Pietro Bocco.
        ëIhr mu?t auf ihn achtgeben, Kapitan. Wenn er Schwierigkeiten madit- -» Er schwieg eine Weile, als erwarte er, da? Matteo seinen Gedanken fortsetze.


        ëNun, Ihr wi?t ja selbst!» sagte Pietro Bocco mit bosem Auflachen.
        ëEin kraftiger Bursche!» murmelte Matteo. In wenigen Augenblicken waren die Sacke verladen. Pietro Bocco winkte Paolo, der noch einmal zuruckgekommen war, zu sich.
        ëHier ist Kapitan Matteo. Ihm hast du zu gehorchen!»


        ëJawohl, Herr!» Paolo sah dem barenstarken Matteo, der nur zwei Finger breit kleiner war als er, fest in die Augen. ëGeh an Bord!» befahl Matteo. Sein breites, fleischiges Gesicht hatte sich in wohlwollende Falten gelegt. Er verbarg nicht, da? Paolo ihm gefiel.
        Kapitan Matteo furchtete weder Tod noch Teufel, erst recht nicht den aufgeblasenen Pietro Bocco.
        Die kraftvolle Bewegung, mit der Paolo den schweren Salzsack uber die Schulter geschleudert hatte, hatte Achtung und fast freundschaftliche Gefuhle in ihm geweckt.
        Gebt mir das Geld, Messer Bocco. Ihr seht, alles ist bereit. Das Gelingen steht in Gottes Hand!» ëIn Gottes Hand?» fragte Pietro Bocco mit einem Versuch zu scherzen.
        Kapitan Matteo sah ihn verstandnislos an.
        ëHier ist das Geld. Zahlt es nach!» Pietro Bocco ging zum Leuchter, der auf der Steinstufe stand.
        Doch Kapitan Matteo folgte ihm nicht. Er nahm den Beutel und steckte ihn ein.
        Gleich darauf glitt die Barke, von vier Ruderern bewegt, durch die Nacht.
        Sie bogen in den Canal Grande ein. Im Schein der Fackeln vorbeifahrender Boote bemerkte Paolo, der auf der Ruderbank sa?, da? die Barke schwarz gestrichen war. Er fuhr auf einer schwarzen Barke mit dunkelroten Segeln. Diese Feststellung verstarkte seine innere Unruhe. Er zog das Ruder mit der linken Hand durch und fuhlte mit der rechten nach dem Dolch, den er unter seinem Wams trug.
        Es war der Dolch, den der schwarze Giorgio bei dem Uberfall auf Marco verloren hatte.
        Die Beruhrung mit dem Griff der scharf geschliffenen Waffe erinnerte ihn an Giovannis Worte, als sie nach langem Suchen endlich Giannina auf der Landstra?e nach Aquileja getroffen hatten: ëIch habe jetzt einen Dolch, eine Vogelfeder kannst du im Fluge damit zerschneiden. Sieh ihn dir an, Giannina. Du brauchst nun wirklich keine Angst mehr zu habenÅ»
        Der Wind wehte starker und spielte mit dem Tauwerk und den gerefften Segeln. Links und rechts des Kanals standen altere und neue Palaste der vornehmsten Familien neben schlichten Holzbauten. Vorsichtig manovrierte der krummbeinige Steuermann die Barke durch den Bogen der Ponte della moneta.
        Kapitan Matteo stand auf der geschlossenen Ladeluke und sah uber die gebeugten Korper der Ruderer hinweg. Hin und wieder glitten seine Blicke zu Paolo, der ohne gro?e Muhe das Ruder durchzog.
        Wahrend eines Besuches auf der Insel Murano, als Paolo eine Botschaft Marco Polos uberbrachte, hatte ihm Giovanni den Dolch geschenkt. Man merkte ihm an, da? er das Beutestuck nur schweren Herzens hergab. Aber er sagte sich wohl, da? die Waffe bei Paolo in den besten Handen ware. ëVielleicht brauchst du ihn einmal. Pa? nur gut auf, damit Marco nichts geschieht. Und auch auf Giannina mu?t du achten.» ëRuder einziehen!» kommandierte Kapitan Matteo.
        Ein Schiff fuhr dicht an ihnen vorbei, die Bordwand war nur wenige Fu? entfernt.
        Mit lautem Geschrei priesen Nudelmacher, Obst- und Krauterhandler, Fischverkaufer und Kastanienbrater auf flachen Booten ihre Waren an.
        Am Fenster eines zweistockigen Hauses erschien der Kopf eines Madchens und schrie mit schriller Stimme etwas hinunter. Drei Handler ruderten eilig zur Anlegestelle und sahen erwartungsvoll nach oben. Ein wei?er Arm lie? an einem Strick den Einholekorb hinab und zog ihn, nachdem der Kampf zwischen den Handlern endlich nach vielen Schimpfworten beendet war, mit rotbackigen Apfeln gefullt wieder herauf.
        Auf dem Canal Grande ruhte das bunte Leben auch in den Abendstunden nicht. Erst um Mitternacht, wenn das fahle Mondlicht in den Canal fiel, schliefen die Hauser und Brucken, die Schiffe und Kanale, traumten Reiche und Arme, die einen wohlig sich streckend unter seidenen Decken, die anderen frierend, die Knie anziehend, unter Lumpen und Sacken.
        Matteo hatte den Abend mit klugem Vorbedacht fur den Beginn ihrer Fahrt gewahlt. Der lebhafte Verkehr erleichterte es, durch die Kontrolle zu schlupfen.
        Aber selbst wenn die Schergen ihn bei der Einfahrt in den Canal della Guidecca anhielten, konnte er Papiere vorweisen, die bestatigten, da? er seine Fracht zu einem Geschaftsfreund Pietro Boccos nach San Nicolo zu befordern hatte.
        Messer Pietro Bocco hatte sich das Unternehmen gut ausgedacht. Sollte die Barke auf ihrer gefahrlichen Fahrt von den Schergen aufgebracht werden, konnte er nachweisen, da? er den Auftrag gegeben hatte, die Fracht nach San Nicolo zu bringen. Er wurde dann sagen, da? Kapitan Matteo, der ja nicht im besten Rufe stand, auf eigene Faust gehandelt hatte.
        Paolo bemerkte nichts von dem vielfaltigen Leben auf dem Canal Grande. Er suchte die Entscheidung, die sich ihm aufdrangte, so lange wie moglich hinauszuschieben. Wahrend er ruderte, erwachten in ihm immer starker die Bilder der Vergangenheit. Und das Merkwurdige war, da? er dabei wie gebannt Kapitan Matteos Gesicht beobachtete und sich jede Falte, jede Linie fest einpragte. So liefen zwei Empfindungen, die scheinbar keine Beziehungen zueinander hatten, nebeneinander her und erzeugten einen beklemmenden Wechsel in seinen Gedanken.
        Die Barke glitt, von kraftigen Ruderschlagen bewegt, schnell vorwarts.
        Paolo dachte an seine fruhe Kindheit, die er nur aus gelegentlichen Au?erungen seines verschollenen Dienstherrn Nicolo Polo kannte, der den vierzehnjahrigen kraftigen Knaben einst aus dem Waisenhaus zu sich genommen hatte. Er sah die ersten Monate seines Erdendaseins, als hatte er damals schon alles bewu?t aufgenommen und in sein Gedachtnis geschrieben.
        Ein Saugling, fest eingewickelt und wie ein Bundel verschnurt, liegt, halb erfroren und klaglich schreiend, auf den kalten Steinen. Boote gleiten schweigend vorbei, die Ruderer wenden mit schlechtem Gewissen den Kopf weg. Es ist nichts Ungewohnliches in Venedig, ein ausgesetztes Kind zu sehen, aber immer wieder ruhrt es die Herzen und weckt ein unbehagliches Gefuhl. Wenn die unwillkommenen kleinen Erdenburger eine ganze Nacht gelegen haben, ist ihr Wimmern so klaglich geworden, da? man es nur noch wenige Schritte weit hort.
        Eine junge Frau kommt aus einem Haus und nimmt den Saugling zu sich. Sie behalt ihn einige Wochen, bis er wieder zu Kraften gekommen ist, und bringt ihn dann in das Hospital della Pieta. Das ist eine lobens-wurdige Anstalt der Republik, die angewiesen ist, alle von ihren Eltern verlassenen Kinder aufzunehmen. Der Saugling, von dem man weder Vater noch Mutter kennt, wird auf den Namen Paolo getauft.
        Das Wasser rauschte in monotonem Platschern an der Bootswand vorbei. Kapitan Matteo stand wie festgewachsen auf den Planken. Die gedrungene Gestalt druckte wilde Kraft und Entschlossenheit aus, aber die gro?en grauen Augen, die Falten, die sich von den Backenknochen zum Kinn hinunterziehen, und die farbige Knollennase zeugten von Verstandnis und herablassender Gutmutigkeit. Paolo spurte etwas mit seinem Schicksal Verwandtes und zugleidi Unheildrohendes in dem Gesicht.
        Matteo ist mit dem Leben anders fertig geworden als der Diener Paolo.
        Was ware geschehen, wenn Nicolo Polo ihn nicht aus der Finsternis des Waisenhauses herausgeholt hatte?
        Traume nicht, Paolo! mahnte eine Stimme in ihm. Du fahrst auf einer schwarzen Barke! Du beforderst Messer Pietro Boccos Salz!
        Fragen und Erinnerungen flogen wie Fledermause uber dem Wasser und streiften ihn mit taumelndem Flugelschlag.
        Paolo erwachte aus seinen in die Vergangenheit gerichteten Traumen, als die Ufer zu beiden Seiten zuruckwidien und der Wasserarm in den Canal della Guidecca einmundete.
        Auch Kapitan Matteo schien eine leise Unruhe zu spuren. Er ging an den Ruderern vorbei zum Bug des Schiffes und beobachtete mit zufriedenem Gesicht das dichte Gewimmel der Boote und Barken, die sich links an einer Galeere vorbeischoben, die im gleichma?igen Takt der sechsundfunfzig Ruderschlage in den Canal Grande einfuhr. Das Wasser schaumte am Bug des stolzen Schiffes. ëBackbord, Ernesto!» rief Kapitan Matteo. Knarrend bewegte sich der holzerne Steuerarm.
        Paolo kannte ebenso wie Kapitan Matteo jede Einbuchtung und jede Verastelung der Lagune. Oft war er im Auftrage Nicolo Polos als junger Bursche in die entlegensten Winkel gefahren. Gespannt verfolgte er die Fahrt. Sie hielten auf den engen Durchgang zwischen den Inseln La Guidecca und San Giorgio zu.
        Warum fuhr Kapitan Matteo nicht durch den Canal San Marco?
        Heftig wehte der Wind! Von Morgen kommend, fegte er in Richtung des Sonnenunterganges durch den Canal della Guidecca.
        Kapitan Matteo wahlte diesen Weg mit Vorbedacht. Auf dem Canal San Marco, gegenuber der Piazzetta, patrouillierten zu viele Boote der Schergen. Auch fuhr er nicht gern an der roten Verbrechergaleere vorbei.
        Paolo fand noch keinen Grund zur Beunruhigung, weil es moglich war, auch auf diesem Wege nach San Nicolo zu kommen. Fluchtig tauchte der Gedanke an Marco auf, der diese Nacht ohne Schutz sein wurde. Im Hause selbst konnte ihm ja kaum etwas geschehen, aber er befurchtete, da? Marco ausgehe, zur Piazza oder zum Hafen an der Ponte della moneta. Er hielt sich ja gern in der Nahe der Schiffe auf.
        Die schwarze Barke passierte die Durchfahrt zwischen den beiden Inseln. Links lagen die Hauser der Fischer von San Giorgio, um die Kirche geduckt wie kauernde Hunde, rechts, auf der Spitze La Guideccas beleuchtete ein flackerndes Feuer die Gestalten dreier winkender Manner.
        ëSchneller! Los, beeilt euch!» befahl Kapitan Matteo und lief behende zum Heck. ëGib das Steuer her, Ernesto! Macht die Segel klar!»
        Die Barke schwamm im offenen Wasser der Lagune. ëRuder einziehen, Segel klarmachen!» gab der krummbeinige Ernesto den Befehl weiter.
        Mit geubten Handgriffen losten die drei Manner die Leinen und setzten die Segel. Paolo stand ihnen unbeholfen im Wege, bis der Krummbeinige ihm fluchend einen Platz anwies.
        Der Wind packte mit starkem Griff die Segel, der Mastbaum stohnte, und die Barke bewegte sich, dem Steuer gehorchend, gegen Sonnenuntergang. Der langgestreckte Schatten der Insel La Guidecca wurde eins mit dem windgepeitschten Wasser.
        Die Haut spannte sich uber Matteos Gesicht, seine Augen suchten das Dunkel zu durchdringen. Kein Stern leuchtete am Himmel, der den Weg weisen konnte. Breitbeinig stand der Kapitan auf seinem erhohten Platz und steuerte an La Gracia und San demente vorbei, so da? man die dunklen Umrisse der Inseln gerade noch ahnen konnte. Der salzige Seegeruch stieg ihm erfrischend in die Nase, und der Wind, vermischt mit feinsten Wasserperlchen, stach prickelnd in sein Gesicht, das einen zufriedenen Ausdruck annahm.
        Die Lagune war tuckisch, ein Abweichen um ein oder zwei Fu? von der Fahrrinne brachte die Gefahr des Auflaufens mit sich. Es war dann schwer, die Barke wieder flottzukriegen.
        Keine Eichen- oder Ulmenpfahle markierten den Weg, tausendfaltige Erfahrungen nur waren imstande, den verschlungenen Wasserpfad mit dem sechsten Sinn des Seemannes immer von neuem zu entdecken. Und immer von neuem mu?te man Uberraschungen vorausahnen, mit spahendem Blick auf jede Veranderung der Wasseroberflache achten, mit wachem Ohr auf das schurfende Gerausch horen, wenn das Holz den Grund streifte, und im letzten Augenblick mit einer winzigen Bewegung des Steuers den richtigen Kurs einschlagen. Auch wenn das Heulen des Windes und die gegen das Holz klatschenden Wellen alles zu ubertonen versuchten.
        Kapitan Matteos Herz war von triumphierendem Stolz erfullt. Das Leben hatte nur Sinn fur ihn, wenn er am Steuer stand, von Wind und Dunkel und Feuchtigkeit umweht, und die Schergen, die mit schnellen Booten die Lagune durchstreiften, uberlisten konnte.
        Die Barke flog wie ein fluchtiger Schatten uber das Wasser. Kapitan Matteo hielt auf das Festland zu. Bald waren sie auf der Hohe von San Spirito. Auf San Spirito und der folgenden, in ein Fort verwandelten Insel Poveglia lauerten die Boote der Schergen und liefen in standigem Wechsel aus. Fast wartete Matteo auf eine Begegnung, um ihnen mit kuhnen Manovern wie ein Gespensterschiff entwischen zu konnen.
        Der Wind stand gunstig, so da? sie, ohne den Stand der Segel zu verandern, den richtigen Kurs halten konnten. Die vier Manner der Besatzung verrichteten, als seien sie ein Wesen, die notwendigen Handgriffe. Alles vollzog sich schweigend und schnell.
        Paolo blieb kaum Zeit zum Nachdenken. Jetzt war es vollkommen klar, da? sie nicht nach San Nicolo segelten, sondern sich auf einer Schmuggelfahrt befanden. Pietro Bocco hatte ihn in eine Falle gelockt.
        Ein dumpfer Zorn erwachte in ihm. Vier Manner befanden sich an Bord, dazu der barenstarke Kapitan. Er versuchte, sich die Gesichter und Gestalten der vier vorzustellen, konnte sich aber nur an den krummbeinigen Ernesto, der ihm kein ernster Gegner zu sein schien, erinnern. Vorhin war Paolo so in seine Gedanken versponnen gewesen, da? er kaum auf die anderen geachtet hatte. Es gab nur eine Moglichkeit, eine Anderung des Kurses zu erzwingen: Er mu?te Kapitan Matteo niederschlagen und die anderen mit dem Dolch in Schach halten. Paolo sagte sich selbst, da? dieser Versuch nicht die mindeste Aussicht auf Erfolg haben wurde.
        Der Wind brauste in seinen Ohren, die Barke achzte und stohnte, und die aufgewuhlten Wellen quirlten uber die Reling. Das Deck lag im spitzen Winkel zur Wasserflache; mit kundiger Hand, alle Sinne angespannt, steuerte Kapitan Matteo durch die Nacht.
        Im Laderaum standen gut verstaut die funfzehn Salzsacke des Pietro Bocco. Wenn man sie doch ins Wasser werfen konnte!
        Uber Paolos Kopf wolbte sich, bis zum Bersten gespannt, das Hauptsegel. Der Zorn weckte blinde Wut, wie sie Paolo nur einmal im Leben empfunden hatte, als der Aufseher des Waisenhauses ihn fast zu Tode geprugelt hatte. Alle vernunftigen Uberlegungen waren ausgeloscht.
        Mit drei Sprungen, Hande und Fu?e benutzend, erreichte er Kapitan Matteo, stie? den Uberraschten vor die Brust und schlug ihm mit einem wuchtigen Faustschlag den Steuerknuppel aus der Hand. Die Barke richtete sich auf, beangstigend flatterten die Segel um die Rahen, sie verlor an Fahrt und tanzte ziellos auf den Wellen. Matteo stie? einen Schrei aus, der schaurig das Brausen des Wassers ubertonte.
        ëBist du wahnsinnig!» knirschte er und warf sich, die machtigen Arme ausbreitend, auf den Gegner. Trotz der furchtbaren Anstrengung verga? er nicht die Sorge um seine Barke.
        ëNimm das Steuer!» brullte er Ernesto an, der neben den Kampfenden aufgetaucht war und auf eine Gelegenheit zum Eingreifen wartete.
        ëBleibt auf euren Platzen!» keuchte er.
        Die beiden Manner hielten sich umschlungen, ihre Adern an Hals und Kopf traten fingerdick hervor. Der Krummbeinige legte die Barke vor Wind. Als sich das Deck wieder schrag uber die Wasserflache hob, standen die Kampfer Augenblicke lang auf ihren linken Beinen und versuchten das Gleichgewicht zu halten. Matteo druckte seine Arme wie eine Zange zusammen, so da? sich der Griff des Dolches unter Paolos Wams gegen die unteren Rippen pre?te.
        Doch Paolo spurte keinen Schmerz. Es ging jetzt um Tod oder Leben. Kapitan Matteo war bisher noch von keinem Gegner besiegt worden. Ein Schwacherer als Paolo hatte nach dieser gefahrlichen Umklammerung mit gebrochenen Rippen am Boden gelegen.
        Der Wind steigerte sich zum Sturm. Er spielte eine grausige Melodie zu dem stummen, keuchenden Ringen. Das Schiff neigte sich starker zur Seite, wurde aber sofort wieder aufgefangen.
        Die Kampfenden verloren das Gleichgewicht und schlugen mit dumpfem Aufprall gegen die Holzplanken. Im Fallen hatte Paolo den Griff seiner Arme gelockert, um mit starkerem Druck am unteren Teil der Wirbelsaule ansetzen zu konnen. Matteo nutzte die Gelegenheit, drehte sich innerhalb der Umklammerung, zog sich zusammen und schleuderte, mit einem gewaltigen Schwung seines gewolbten Ruckens die Umklammerung sprengend, den gro?en Korper des Gegners durch die Luft.
        Paolo flog mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen gegen die Reling und schlug mit dem Kopf hart gegen die Kante. Eine Welle spulte uber seinen Korper und durchna?te ihn bis auf die Haut. Instinktiv krallten sich seine Hande um das Holz. So entging er der Gefahr, von dem zuruckflutenden Wasser uber Bord gespult zu werden.


        In diesem Augenblick lie? der krummbeinige Ernesto, der bisher dem Ringen mit starrem Entsetzen zugesehen hatte, den Steuerknuppel fahren. Er wollte sich auf den am Boden Liegenden sturzen, um ihn uber Bord zu schleudern. Doch Kapitan Matteo ri? ihn am Kragen zuruck und stie? ihn mit einer Armbewegung gegen das Heck. ëTeufelssohn!» brullte er mit verzerrtem Gesicht und blutunterlaufenen Augen, ëhalt den Kurs!»
        Paolo war inzwischen, etwas benommen noch, auf die Fu?e gekommen. Nimm den Dolch! flog es ihm durch den Kopf. Gleichzeitig lahmte eine unerklarliche Sympathie fur den Gegner seine Hand. Er griff nicht nach dem Dolch, obwohl er genau wu?te, da? der furchtbare Kampf bis zum Ende durchgefochten werden wurde, bis einer von ihnen wehrlos am Boden lag.
        Vielleicht war es nicht gut, da? sich kein Ha? in seinem Herzen regte.
        Kapitan Matteo senkte den Kopf und sturmte auf Paolo los, der sich mit beiden Handen auf die Reling stutzte. Er wollte die Benommenheit des Gegners ausnutzen und ihn kampfunfahig machen.
        Paolo sah den Stiernacken und die geballte Faust, die wie ein Hammer gegen seine Magengrube schnellte. Im letzten Augenblick gelang es ihm, zur Seite zu springen. Kapitan Matteos Faust schlug gegen splitterndes Holz.
        Ein heulender Laut kam aus seinem Munde. Das Blut troff uber die Knochel und rieselte in Bachen uber den Handrucken, aber die Knochen waren starker gewesen als das Holz. Jahzorn und Wut vernebelten seine Gedanken. Wie ein Tiger sprang er dem Gegner nach, der sich mit dem Rucken an den Mastbaum lehnte und mit klarer Uberlegung den neuen Angriff erwartete.
        Paolo wollte einer neuen Umklammerung ausweichen. Er schnellte sich vom Mastbaum ab und sturzte sich, beide Fauste vorgeschoben, auf den Kapitan. Sie prallten mit der Wucht eines niedersausenden Beilruckens gegen Matteos Stirn. Dieser wich taumelnd zuruck. Mit einem triumphierenden Schrei drang Paolo auf ihn ein und trieb ihn mit Faustschlagen vor sich her. Fur einige Augenblicke war das Gesicht des Gegners ungedeckt.
        Paolo sah wie durch einen roten Nebel die aufgeplatzten Lippen, aus denen ein Blutrinnsal zum Kinn und Hals hinunterflo?.
        Ein Gedanke beherrschte ihn: Schlagen! Schlagen, um ein schnelles Ende herbeizufuhren. Was dann sein wurde, war unwesentlich.
        Es ging um Salz. Um Messer Pietro Boccos Salz.
        Wer dachte jetzt daran?
        Der Sturm heulte, und die wei?en Schaumkronen grinsten hohnisch, und die Barke scho? mit straff gespannten Segeln durch das tosende Wasser.
        Paolo verga?, wo er sich befand, hatte nur Auge und Ohr fur jede Bewegung, jeden Laut seines Gegners.
        Sie kampften wie vorweltliche Riesen. Was sich in den Weg stellte, wurde hinweggefegt: Holz, Tauwerk, Leinewand, Menschenleiber.
        Auf Matteos zerschlagenem Gesicht zeigte sich die Andeutung eines unglaubigen Staunens. Er kniff die Augen zusammen und schuttelte den Kopf, um seiner Benommenheit Herr zu werden. Seine Zuge verzerrten sich in der ungeheuren Anspannung aller Kraftreserven. Er blieb plotzlich breitbeinig stehen, beugte den Oberkorper vor und warf in uberraschendem Angriff seine Arme um Paolos Leib.
        Sie sturzten.
        ëTod und Teufel!» pre?te Matteo keuchend hervor, zog mit einem Ruck seine Arme zuruck und umspannte das Handgelenk des unter ihm liegenden Gegners. Mit au?erster Kraftanstrengung schob er Paolos Unterarm unter den Rucken. Paolo wehrte sich verzweifelt, walzte sich mit einem gellenden Schmerzensschrei herum und fuhlte, wie ihm die Sinne schwanden.
        Ein Mann der Besatzung ergriff eine Axt, um Paolos Schadel zu zersdimettern.
        Matteo richtete sich muhsam auf und wischte sich den Schwei? und das Blut vom Gesicht. Verwundert betrachtete er seine geschwollene, blutverkrustete Faust. ëHeiliger Vater!» murmelte er.
        Dann sah er den Mann mit der erhobenen Axt vor Paolo stehen. ëWeg von ihm!» knurrte er. ëRuhr ihn nicht an!»
        Noch etwas taumelnd ging er zum Heck und nahm dem Krummbeinigen das Steuer aus der Hand. ëHeiliger Vater!» sagte er noch einmal.
        Der Kampf hatte die freundschaftlichen Gefuhle, die er schon zu Beginn seiner Bekanntschaft mit Paolo empfunden hatte, nicht ausgeloscht, sondern sie eher verstarkt. Er wird bald wieder zur Besinnung kommen, dachte er.
        ëHoffentlich machst du keine neuen Dummheiten, Freundchen», fuhrte er ein Selbstgespradi, ëhast mich ganz schon zugerichtetÅ»
        Dann lenkte er seine Aufmerksamkeit auf die Fahrt durch die sturmisch bewegte Nacht.
        Wenn der Krummbeinige den richtigen Kurs gehalten hatte, mu?ten sie sich jetzt ih der Nahe des Castellos befinden, das dem Hafen von Malamocco vorgelagert war. Er hatte den Eindruck, als lichte sich das Dunkel ein wenig, auch der Sturm schien etwas nachzulassen. Das war ihm im Augenblick recht unangenehm, weil er dicht am Castello vorbeisteuern mu?te. Sie befanden sich an der gefahrlichsten Stelle. Standig patrouillierten hier die Boote der Schergen und kontrollierten die Fahrrinne.
        Der Krummbeinige stand am Bug und starrte angestrengt nach vorn. Da tauchte vor ihm plotzlich der Schatten eines Seglers auf. Ernesto drehte sich um und stie? einen durchdringenden Warnruf aus. Der Kapitan hatte das Boot ebenfalls bemerkt; viel Zeit zum Ausweichen blieb nicht mehr. Der Wind trieb die schwarze Barke mit geblahten Segelschwingen auf die Schergen zu. Kaltblutig bewegte Kapitan Matteo das Steuer, in einer Entfernung von hochstens funfzehn Fu? glitten sie vorbei.
        Die stille Hoffnung Kapitan Matteos, trotz alledem unbemerkt zu bleiben, erfullte sich nicht. Unglucklicherweise schien jetzt der Mond.
        Kapitan Matteo horte die Rufe der Schergen, die ihn zum Beidrehen aufforderten. Er stie? ein hohnisches Lachen aus. ëKommt nur, wenn ihr Kapitan Matteo fangen wollt!
        Das fremde Boot nahm die Verfolgung auf.
        Paolo lag bewegungslos auf einer Taurolle. Der Schmerz, der ihm fur kurze Zeit die Besinnung geraubt hatte, war schwacher geworden. Er horte die Rufe des Kapitans und beobachtete die Manner an den Segeln, die blitzschnell die Befehle ihres Kapitans ausfuhrten und fur nichts anderes Auge und Ohr hatten.
        Er drehte sich um und walzte sich von den Tauen auf die Deckplanken. Die Schmerzen im linken Schultergelenk verstarkten sich; sein ganzer Korper bedeckte sich mit Schwei?. Das Blut hammerte in seinen Adern und peinigte die verletzte Stelle mit gluhenden Nadelstichen. Sobald er ruhiger lag, wurden die Schmerzen schwacher. Er hob den Kopf und legte ihn auf die Taue! Wind und Wasserperlchen erfrischten sein Gesicht.
        Als er sich etwas aufrichtete, sah er die Barke der Schergen; sie lie? sich nicht abschutteln, kam zwar nicht naher, aber entfernte sich auch nicht.
        Kapitan Matteo fluchte leise vor sich hin. Die Segelkunste der Verfolger, die ihm sonst imponiert hatten, erzeugten ein unangenehmes Prickeln auf der Haut.
        Die Schaumkamme schimmerten wie tausend silbrige Fische, die in fluchtigem Sprung uber das Wasser schweben.
        Kapitan Matteo segelte an der Einfahrt zum Hafen Malamocco vorbei und hielt sich dicht an die schmale langgestreckte Insel. Die Verfolger blieben im schaumenden Kielwasser.
        Dunkle Wolken verdeckten den Mond.
        Es ging um tausend Dukaten fur Messer Pietro Bocco, der um diese Zeit mit fieberndem Pulsschlag im Bett lag und auf den Sturm lauschte.
        Fur Paolo ging es um lebenslangliche Galeerenarbeit, wenn er in die Hande der Schergen fiele.
        Sie waren ihm dicht auf den Fersen. Er rechnete nicht mehr damit, da? sie ihnen entkommen wurden. Den Schmerz unterdruckend, kroch er mit zusammengebissenen Zahnen zur Reling, richtete sich muhsam auf und sprang in das dunkle, wellenbewegte Wasser. Kuhl umschmeichelte es seine Glieder. Die Kleider sogen sich voll, und die Schuhe hingen wie Gewichte an den Fu?en. Die feindliche Barke kam in seinen Gesichtskreis. Er holte tief Luft und tauchte unter die Oberflache. Dunkel und Stille umfingen ihn.
        Der Wind pfiff uber die Lagune, und das Wasser brauste eine furchterregende zornige Melodie.



        DER NEUE TAG

        IN DEN ABENDSTUNDEN, WENN SICH DAMMERUNG und Dunkelheit wie flie?ende Gewander um die Lagunenstadt legen und in den Stuben die Kerzen angezundet werden, reifen die Traume, Wunsche und Sehnsuchte in den Herzen der Menschen.
        Marco sa? allein in der Stube. Paolo war vor einer Stunde zum Messer Pietro Bocco gegangen und wurde erst morgen fruh zuruckkommen.
        Drau?en heulte der Wind.
        Eigentlich wollte Marco heute abend noch ausgehen; aber er schob es immer weiter hinaus und gab sich der wohligen Warme hin, die von dem knisternden Feuer im Kamin kam.
        Auf der Piazzetta tanzten jetzt wohl in toller Ausgelassenheit die Masken, brannten die rauchenden Fackeln unter den Arkaden und machten die Nacht zum Tage.
        Es gab Stunden, in denen sich Marco wie ein Einsiedler verkroch und in die unsichtbaren Faden seiner Traumwelt einspann. Er empfand fast ein Gefuhl der Befriedigung, da? Paolo nicht zu Hause war. Er fuhlte sich erwachsen und selbstandig. Au?er Maria und Giannina war niemand zu Hause. Auf ihm ruhte die ganze Last der Verantwortung.
        Manchmal war es schon, allein zu sein.
        Giannina befand sich schon in ihrer kleinen Dachkammer. Ob sie an ihren letzten Ausflug nach Murano dachte? Sie war ja noch einen Tag langer geblieben als er. Sicher sa? sie jetzt auf ihrem Bett und traumte mit ihren dunklen Augen von allen moglichen Dingen. Marco konnte sich das genau vorstellen. Es war beinahe, als befande sie sich hier in der Stube neben ihm und redete, wie es ihre Art war, unbefangen von alltaglichen Ereignissen, die in ihrer Darstellung den Charakter von etwas Besonderem, Marchenhaftem erhielten. Eine Blume wurde ein Wunder an Schonheit, und ein Glassplitter verwandelte sich in einen Diamanten. Schon ware es, wenn sie zu einem Plauderstundchen herunterkame.
        Er uberlegte, ob er nicht zu ihr gehen und sie einladen solle, sagte sich dann aber, da? sie vielleicht lieber allein sei. Moglicherweise dachte sie gerade an Giovanni, und da wollte er nicht storen.
        Die einsamen Stunden zwischen Abend und Nacht konnen auch wie feine spitze Dolchspitzen sein, die sich ins Herz hineinbohren.
        Er hatte uberhaupt das Gefuhl, als hielte Giannina sich seit dem letzten Besuch auf Murano etwas von ihm fern. Auch ihre Gesprache waren nicht mehr so unbefangen wie sonst. Eine ratselhafte Scheu hatte eine unsichtbare Schranke zwischen ihnen aufgerichtet.
        Wenn er sein Vorhaben, das er in aller Heimlichkeit vorbereitete, ausfuhren wurde, konnte es durchaus moglich sein, da? Giannina einmal jeden Augenblick bereute, den sie ihm ausgewichen war.
        Ein kleiner Zorn regte sich gegen Giovanni, den er aus irgendeinem Grunde fur Gianninas Zuruckhaltung verantwortlich machte. Marco war mit sich selbst nicht zufrieden und schimpfte sich aus, weil er spurte, da? er dem Freund und auch Giannina unrecht tat.
        Er war doch nicht etwa verliebt in Giannina?
        Marco mu?te laut lachen. Auf was fur Gedanken er manchmal kam! Es dauerte eine ganze Weile, bis sich seine etwas gekunstelte Heiterkeit gelegt hatte.
        Vielleicht war es am besten, doch noch auszugehen. Wer konnte es ihm verwehren? Er war sein eigener Herr. Sein Oheim Pietro Bocco erschien nur selten einmal, um, wie er sagte, nach dem Rechten zu sehen.
        Ein starkes Gefuhl der Freiheit durchstromte Marco nach all den Jahren, da ihn die kranke Furcht der Mutter in jeder Regung seines phantasiebegabten Geistes gehemmt hatte; besonders, wenn er am Hafen stand und die auf gro?e Fahrt auslaufenden Schiffe beobachtete.
        Er hatte den festen Entschlu? gefa?t, sich im nachsten Fruhjahr auf ein Schiff zu schleichen, das nach Byzanz segelte. Von dort wurde er versuchen, nach Damaskus zu kommen.
        Marco hielt sein Vorhaben vor Giovanni und Giannina vorlaufig noch geheim. Auch mit Paolo hatte er noch nicht daruber gesprochen, aber er wollte ihn morgen einweihen.
        Maria sah noch einmal in das Zimmer hinein und warf einen Holzkloben ins Feuer.
        ëGeht Ihr heute noch aus, junger Herr?» fragte sie. ëOder kann ich das Haustor schlie?en?»
        Marco ruckte dichter an das Feuer heran. Drau?en wehte ein ungemutlicher Wind. ëSchlie? nur zu, Maria», sagte er.
        Sie ging zogernd zur Tur und blieb, den Blick auf Marco gerichtet, noch einen Augenblick stehen. Als er das erwartete Zuschnappen der Tur nicht horte, sah er verwundert auf. ëWas gibt es noch, Maria?»
        ëPaolo kommt doch morgen zuruck, Herr?» fragte sie und hatte Muhe, die Sorge in ihrer Stimme zu verbergen.
        ëWarum sollte er nicht zuruckkommen?» erwiderte Marco. Er unterdruckte ein plotzlich aufsteigendes Unbehagen. In Zukunft wurde er Paolo nicht mehr fur Dienstleistungen freigeben. Sollte sein Oheim Pietro Bocco sehen, woher er Arbeitskrafte bekam!
        Er dachte wieder an das gro?e Unternehmen, das er bis zum kommenden Fruhjahr in allen Einzelheiten vorbereiten mu?te. Es gab da viel zu uberlegen.
        Wahrend er am Kamin sa? und den Flug der Funken beobachtete, horte er gar nicht, wie die Tur geoffnet wurde. Uberrascht richtete er sich auf, als er Gianninas Stimme vernahm. ëIch bin heute so unruhig», sagte sie. ëHorst du den Sturm drau?en?»
        Marco ruckte zur Seite und forderte sie auf, neben ihm Platz zu nehmen.
        ëManchmal habe ich Angst», erzahlte sie, ëda? das Meer uns verschlingt, die Hauser, die Garten, die Felder - alles, allesÅ»
        ëDa bist du also gekommen, weil du Angst hast?» Giannina lie? ihre Haare durch die Finger gleiten und strich sie zuruck. Sie uberhorte Marcos Frage.
        ëIch fuhle mich so fremd hier, Marco. Warum ist das nur so? Murano liegt doch ganz nahe. Du kannst es bei klarem Wetter mit deinen Augen sehenÅ Es ist jetzt schon kalt auf Murano. Denkst du noch an unseren letzten Besuch?Å Ach, was rede ich da? Das kommt daher, weil es drau?en so sturmisch ist. Ich kann den Wind nicht leiden, bin wie ein kleines MadchenÅ»
        Heimweh hat sie, sagte sich Marco. Das ist der Grund, warum sie in der letzten Zeit so scheu und verschlossen gewesen ist. Und kalt ist es jetzt schon auf Murano. Er sah den Freund vor sich, wie er frierend die Beine\anzog, und erinnerte sich daran, da? er ihm ja Kleidungsstucke schicken wollte. Ein warmes, freundschaftliches Gefuhl ergriff ihn. Aber was sie vom Wind erzahlt hatte, forderte seinen Widerspruch heraus.
        ëDer Wind hat auch seine guten Seiten», sagte er. ëEr tragt die Schiffe uber das Meer. Ich habe es gern, wenn der Wind weht. Nicht immer naturlichÅ» Er brach den Satz plotzlich ab.
        Giannina sa? neben ihm auf der Bank, der rotliche Flammenschein tonte zart ihr Gesicht und spiegelte sich in ihren Augen. Sie war schoner als alle anderen Madchen, die Marco kannte. Heimweh hatte sie, und er erzahlte ihr etwas vom Wind. Manchmal war es wirklich nicht einfach, das zu sagen, was man auf dem Herzen hatte.
        In der Stille des Zimmers wich die Unruhe von Giannina.
        Sie spurte, da? sie mude wurde, aber sie brachte nicht die Kraft auf, sich von der wohligen Warme und den lockenden Flammen zu trennen.
        ëDu brauchst dich hier nicht fremd zu fuhlen», sagte Marco und sah dabei starr geradeaus. ëWir werden eben ofter nach Murano fahren. Giovanni wird sich ja auch freuen. Du darfst nicht denken, da? ich ihn vergessen habeÅ Es ist nur so», setzte er wichtig hinzu, ëda? ich jetzt an vieles denken mu?Å Aber Giovanni vergesse ich nicht, darauf kannst du dich verlassen.»
        Marco spurte mit jedem Wort, wie sich das freundschaftliche Band zwischen ihm, Giannina und Giovanni wieder fester knupfte.
        Und er war sehr froh daruber.
        Auch von Giannina war die Traurigkeit gewichen.
        Als sie sich von Marco verabschiedet hatte, ging er zu der Truhe, die unter dem Fenster stand, und suchte die Kleider fur den Freund heraus. ëWie ein Graf wirst du darin aussehen», murmelte er.
        Schon am anderen Tage wollte er mit Paolo nach Murano fahren und sie bei Giovannis Vater abgeben. Wenn der Freund abends nach Hause kam, wurde er die Kleider vorfinden. Er hatte dann keine Gelegenheit, das Freundesgeschenk zuruckzuweisen.
        Marco schlief tief und traumlos in dieser Nacht und ahnte nichts von den Aufregungen, die der kommende Tag bringen sollte.
        Ein stiller Morgen brach an. Die Luft war nur leise bewegt. Nichts deutete mehr auf die sturmische Nacht hin. Die Lagune schlummerte im weichen Dammerschein; bleifarben, bleischwer, schillernd umschlo? das Wasser La Guidecca, La Gracia, San Clemente, San Spirito und die zahlreichen anderen Inseln. Die Fischer pflugten mit ihren breiten Booten das trage Wasser und befestigten sie an den bekannten Fischplatzen, um die Angeln auszulegen und die Netze auf den Grund zu senken.
        Die Piazza, vor Stunden noch von fieberndem Leben und Fackelschein erfullt, lag schweigend im Dammerschleier. Die hallenden Schritte der ersten Handler verstarkten den Eindruck steinerner Schwermut. Dann glitten Sonne und Farbe uber Wasser und Steine und hoben das anmutige, kraftvolle Bild gleichsam empor, so da? es wie eine Spiegelung uber der Lagune zu schweben schien.
        Der neue Tag!
        Messer Pietro Bocco erwartete ihn sehnlichst, damit er ihm endlich Gewi?heit bringe, ob das Unternehmen gegluckt sei.
        Tausend Dukaten Gewinn! Er rechnete schon mit ihnen, sie sollten zum Einkauf neuer Waren dienen. Es wurde Zeit, da? sich sein Handel erweiterte.
        Bose Traume hatten ihn in der Nacht geplagt. Immer wieder war er aufgeschreckt und hatte mit offenen Augen in das Dunkel gestarrt. War es richtig gewesen, Marcos Diener mitzuschicken, oder hatte er sich in seiner Ungeduld zu einer falschen Handlung hinrei?en lassen?
        Zum Teufel mit den qualenden Gedanken! Was konnte ihm schon geschehen, wenn die Barke in die Hande der Schergen gefallen war? Er hatte doch gut vorgesorgt.
        Aber die tausend Dukaten durfte er nicht verlieren.
        Eilig kleidete er sich an, a? nur fluchtig sein Fruhstuck und begab sich in das Arbeitszimmer. Der Morgen verging ohne besondere Ereignisse. Pietro Bocco uberprufte die Aufstellung der Waren - Spiegelglaser, Tauwerk, Wachs, deutsche Tucher, Drachenblut - die demnachst nach Alexandria versandt werden sollten, und besprach mit seinem Secretario, was im Fondaco der Deutschen einzukaufen sei.
        Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er auf jedes Gerausch im Nebenzimmer lauschte, in der stillen Hoffnung, da? endlich ein Bote kame. Er hatte mit Kapitan Matteo vereinbart, da? dieser ihn sofort vom Gelingen des Unternehmens benachrichtigen solle.
        Schlecht gelaunt setzte er sich zum Mittagessen nieder und ruhrte die Speise kaum an. Die schwarzen Gedanken, die ihn in der Nacht bedrangt hatten, kehrten wieder. Er verzichtete auf den gewohnten Mittagsschlaf und begab sich sofort wieder in sein Arbeitszimmer. Den Secretario scheuchte er mit einer unwilligen Handbewegung hinaus. Vergeblich versuchte er, seine kalte Ruhe wiederzugewinnen. Seine Aufregung nahm standig zu.
        Finster brutend schlug er das Hauptbuch auf und starrte hinein. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen, der Staub und die stickige Luft reizten ihn zum Husten. Sein Gesicht farbte sich dunkelrot, und die Augen traten vor Anstrengung aus den Hohlen. Erschopft wischte er sich den Schwei? von der Stirn, als sich der Hustenanfall endlich gelegt hatte.
        Da horte er im Nebenzimmer den Klang einer fremden Stimme. Gleich darauf klopfte es an die Tur. Der Diener trat ein und meldete, da? ein Bote Messer Pietro Bocco zu sprechen wunsche.
        ëSchick ihn herein!» sagte Pietro Bocco und richtete sich wurdevoll auf.
        Mit murrischem Gesicht kam der krummbeinige Ernesto ins Zimmer. Man merkte ihm an, da? er nur wenige Stunden geschlafen hatte. Er drehte verlegen die Kopfbedeckung zwischen den Handen, streifte mit scheuem Blick die Einrichtung des Zimmers und suchte in seinem Gedachtnis nach den Worten, die ihm Kapitan Matteo aufgetragen hatte.
        Pietro Bocco betrachtete ihn wohlwollend und sagte ermunternd: ëWas bringst du? Sag es mir schnell!» Er legte eine Zechine auf die Handflache und warf sie spielerisch in die Luft.
        ëDie Fracht ist am vereinbarten Ort abgeliefert worden, Herr», sagte der Krummbeinige.
        Pietro Bocco nahm die Meldung au?erlich mit gelassener Freundlichkeit auf, als hatte er nichts anderes erwartet, im Innern aber jubelte er, so da? es ihm schwer wurde, die vielfaltigen Gefuhle, die sein Herz schneller schlagen lie?en, zu verbergen. Ein aufmerksamerer Beobachter als der krummbeinige Ernesto hatte am gierigen Glanz der Augen die Erregung abgelesen. ëGut, mein Freund! Diese Nachricht ist eine Zechine wert.» Er warf dem Krummbeinigen das Geldstuck zu. Dieser fing es auf und behielt es unschlussig in der Hand. Er hatte noch eine zweite Meldung zu ubermitteln, die, wie er annahm, fur den Herrn recht unangenehm sein wurde. ëEs ist daÅ Kapitan Matteo la?t bestellenÅ», stammelte er. Pietro Bocco hob uberrascht den Kopf.
        ëWas gibt es noch?» fragte er ungeduldig. ëMach schnell, ich hab wenig Zeit!»
        Es lag Messer Pietro Bocco sehr daran, da? sich der Krummbeinige nicht allzu lange in seinem Haus aufhielt. Was wollte er nur noch? War doch irgend etwas schiefgegangen?
        ëEin Mann ist verungluckt, uber Bord gespult worden», stie? Ernesto hervor.
        Pietro Bocco zog unwillig die Augenbrauen zusammen, weil er vermutete, da? die Schmuggler eine Extra-Belohnung herausschlagen wollten.
        Gleichzeitig empfand er Erleichterung.
        ëDas ist eure Sache, sag das dem Kapitan! Ich kann doch fur eure Besatzung nicht aufkommen!»
        ëDer Diener, Herr, den Ihr geschickt habt, ist uber BordÅ» Pietro Bocco brauchte einige Zeit, um sich den Sinn der Worte in seiner ganzen Tragweite klarzumachen. Da hatte er ja zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Tausend Dukaten und der lastige Diener verschwunden, dem er schon lange mi?traute; ob zu Recht oder Unrecht, danach fragte er nicht.
        ëSo!» sagte er und versuchte seiner Stimme einen zornigen Klang zu geben. ëDas ist ja ein schlechtes Geschaft fur mich! Ist er tot?»
        Der Krummbeinige zog die Schultern hoch. ëEs war sehr sturmisch, als er uber Bord gespult wurde. Wir haben ihn nicht mehr gesehenÅ»
        ëGeh jetzt!»
        Kaum hatte der Krummbeinige die Tur hinter sich geschlossen, fiel der zur Schau getragene Unmut von Pietro Bocco ab. Er fa?te das Stehpult mit beiden Handen, ruttelte es hin und her und sagte zu sich selbst: ëNicht kleinmutig sein, Pietro Bocco! Du hast jetzt Gluck in deinen Unternehmungen. Gott ist dir gnadig gesinnt. Zum Handel gehoren Mut und Kaltblutigkeit. Gott hilft dem Tuchtigen!»
        Und wieder verlor er sich in seinen ehrgeizigen Traumen, die ihm einen Weg vorgaukelten, der in steilem Aufstieg zu Reichtum und Macht fuhrte. Aber Pietro Bocco hatte keine Zeit, seinen Triumph bis zur Neige auszukosten. Unangemeldet und in hochster Erregung sturmte sein Neffe in das Zimmer.
        ëVerzeiht, Oheim», sagte er hastig, ëwas ist mit Paolo geschehen? Er ist noch immer nicht zuruck. Seit dem Morgen warte ich auf ihn.»



        Pietro Bocco lie? argerlich das Pult los, sagte sich aber sofort, da? er seine gehobene Stimmung, in die ihn die Nachricht des Krummbeinigen versetzt hatte, verbergen mu?te.
        ëDu bist sehr aufgeregt», sagte er salbungsvoll, ëdeshalb will ich dir verzeihen, da? du unangemeldet kommst und mich in meinen Geschaften storst.»
        Er senkte die Augen, trat auf seinen Neffen zu und legte die Hande auf dessen Schultern, wie er sie wenige Augenblicke zuvor auf das Stehpult gelegt hatte.
        ëDu siehst mich noch in tiefem Nachdenken uber eine traurige Nachricht, die ich soeben empfangen habeÅ»
        Marco sah das schmale Gesicht mit der feinen Stirn und den funkelnden Augen dicht vor sich und mu?te sich plotzlich an Paolos Warnung erinnern: Nehmt Euch vor Messer Pietro Bocco in acht, Herr. Ich wei? nichts Genaues, aberÅ Seine Abneigung gegen den Oheim wurde mit einemmal so stark, da? er sich zwingen mu?te, den Druck der Hande auf seinen Schultern zu ertragen.
        ëDein treuer Paolo ist in Ausubung seines Dienstes vergangene Nacht ertrunken. Ertrage es mit Fassung, mein Sohn!»
        ëNein!» schrie Marco, ënein, das ist nicht wahr!» und schuttelte die Hande ab.
        Pietro Bocco wich zuruck und verlor fur Augenblicke seine Beherrschung. ëWillst du mich Lugen strafen?» sagte er drohend.
        Marcos Gesicht war wie wei?er, seelenloser Marmor, eine entschlossene, kalte unbeherrschte Wut uberfiel ihn.
        ëIhr lugt doch!» rief er, und seine Finger ballten sich zitternd zu Fausten. Es schien fast, als wolle er sich auf den Oheim sturzen.
        ëEine Ohrfeige gehort dir!» zischte Pietro Bocco. Marcos jaher Zorn erlosch wie ein Feuer, auf das ein Klumpen feuchte Erde geworfen wird. Was wird Giannina sagen? dachte er. Und Giovanni? Er konnte sich sein Leben ohne Paolo, der standig in treuer Fursorge um ihn gewesen war, gar nicht vorstellen. Gestern abend noch hatte er sich vorgenommen, ihn in seine geheimen Plane einzuweihen und um seine Unterstutzung zu bitten.
        ëWarum habe ich ihn nur gehen lassen?» fragte er tonlos. Aus weiter Ferne horte er die kalte Stimme des Oheims:
        ëKann man wieder vernunftig mit dir reden? Denke bitte daran, da? es sich um einen Diener handeltÅ Ich will dein ungehoriges Benehmen vergessen!» Marco erwachte aus seiner Erstarrung.
        ëDu wirst die nachsten Angehorigen des Dieners benachrichtigen mussen», fuhr Pietro Bocco fort, ëoder besser noch, ich werde es tun.»
        ëEr hat keine Angehorigen», erwiderte Marco. ëAber sagt mir, Oheim, wie es geschehen ist.»
        Vielleicht ist das alles nur Luge, uberlegte er. Und ein winziges Hoff-nungspflanzchen ruhrte sich in seinem Herzen. Pietro Bocco konnte der Frage nicht ausweichen, ohne das Mi?trauen des Knaben wachzurufen.
        ëEr ist mit einer Barke, die ich fur diese Nacht gemietet habe, nach San Nicolo gefahren. Es war sturmisch drau?en, du wei?t es selbst. Er ist wohl ungeschickt gewesen und uber Bord gespult worden.»
        ëKann ich mit einem sprechen, der Paolo zuletzt gesehen hat, Oheim?» fragte Marco.
        ëNein!» erwiderte Pietro Bocco schneidend. ëDu fragst wie ein Staatsinquisitor. Deine Fragen beleidigen michÅ Der Tod deiner Mutter schien dich weniger schmerzlich zu beruhren als das Ungluck dieses DienersÅ Geh jetzt nach Hause. Ich befehle es dir!» Marco drehte sich um und verlie? ohne ein weiteres Wort das Zimmer.


        ëEr ist mit einer Barke nach San Nicolo gefahren», sagte Marco. Vor ihm stand Giannina, noch verwirrt von der furchtbaren Nachricht. Paolo sollte ertrunken sein? Der kraftige Paolo, der schwimmen konnte wie ein Fisch? Paolo, der ruhige, gute Freund, in dessen Obhut sie gespielt, gesungen und getraumt hatten?
        Das konnte nicht moglich sein. Nein, sie glaubte es nicht. Giannina klammerte sich an diesen Gedanken, und es gelang ihr, die Tranen zuruckzuhalten.
        Paolo ist nicht ertrunken, wiederholte sie sich immer wieder. Marcos Gedanken arbeiteten jetzt klar. Hatte sein Oheim nicht davon gesprochen, da? er die Nachricht von Paolos Tod soeben empfangen hatte? Demnach mu?te doch der Bote kurz zuvor erst bei ihm gewesen sein? Die Fragen tauchten auf und verschwanden, um neuen Fragen und Zweifeln Platz zu machen. Sie beleuchteten wie zuckende Blitze einen dunklen Weg, der zu einem unbekannten Ziel fuhrte.
        Warum wollte der Oheim den Namen der Barke nicht nennen?
        Nach San Nicolo sollte sie gefahren sein?
        Fragen, Fragen, die gebieterisch eine Antwort forderten.
        Der kurze, sichere Schiffsweg nach San Nicolo war doch selbst bei sturmischem Wetter nicht so gefahrlich, ringsherum lagen Inseln, von einem Schwimmer wie Paolo auch bei Wellengang zu erreichen. Und dann war die Lagune von Booten und Barken belebt. Tag und Nacht!
        ëIch glaube nicht, da? er ertrunken ist», unterbrach Giannina die Uberlegungen. ëGlaubst du es, Marco?» Angstlich wartete sie auf seine Antwort.
        ëAls ich die Tur offnete, verlie? ein Mann das Haus», sagte Marco. ëOb das der Bote gewesen ist, der die Nachricht brachte? Wie sah er nur aus?» Er konnte sich bei allem Nachdenken nicht an das Gesicht und die Gestalt des Mannes erinnern.
        ëMein Oheim hat mich aus seinem Haus gewiesen, als ich fragte, ob ich jemand sprechen konnte, der Paolo zuletzt gesehen hatÅ Ich war so unbeherrscht und zornig. Aber es hat keinen Zweck, zornig zu sein. Man macht dann vieles verkehrtÅ Was hat das nur alles zu bedeuten, Giannina?» Die qualende Ungewi?heit machte ihnen das Herz schwer.
        Ware ich nie nach Venedig gekommen, dachte Giannina. Und Murano erschien ihr wie ein stiller Blumengarten, in dem die Vogel sangen und die Bienen summten. Aber dann erinnerte sie sich an das verzerrte Gesicht Messer Celsis, an seine schwarze Haarstrahne, an den erhobenen Arm und die Fu?tritte. Wie froh war sie damals gewesen, da? Marco sie nach Venedig gebracht hatte. Es gab keinen stillen Blumengarten. In Murano nicht, in Venedig nicht. Nirgends! Nirgends! Das Leben war anders, und man mu?te mit ihm fertig werden.



        DER MITTELPUNKT DER ERDE

        MEISTER BENEDETTO WAR SECHZIG JAHRE ALT, klein und rundlich, mit schlohwei?em sparlichem Haar. Er trank gern einen Schoppen unverdunnten Wein - es konnten auch zwei oder drei sein - liebte den milden Herbst und hatte Angst vor der schrillen Stimme seiner Frau, die mindestens zehnmal am Tag ihr Benedetto! Benedetto! schrie, was wohl bis San Michele zu vernehmen war. Es gab nicht wenige Barken auf den Lagunengewassern, die in der Werkstatt des Meisters gebaut waren. Selbst die Gesandten fremder Lander kamen nach Murano, um ihm Auftrage zu erteilen.
        Giovanni ging jeden Morgen mit einem Gefuhl der Spannung zur Arbeit; denn jeder Tag brachte neue Erkenntnisse und Entdeckungen, nicht nur bei der Bearbeitung des Holzes, sondern auch in vielen anderen Dingen. Immer tiefer lebte er sich in die Kunst hinein, die Bretter und Planken aus Eichen-, Ulmen- oder Rotbuchenholz zu Barken, Fischerkahnen und Schiffen zusammenzufugen, die imstande waren, Wind und Wellen zu trotzen und Menschen und Waren bis an ferne, unbegreifliche Kusten zu tragen.
        Es bereitete Giovanni Freude, bei Meister Benedetto zu lernen. Er ertappte sich manchmal dabei, wie er versuchte, die humorvolle Art, in der sein Meister Lebensweisheiten und Belehrungen mitteilte, nachzuahmen. Meistens kamen dabei recht kuriose Satze und Gebarden zustande, die dem Vater ein verstecktes Lacheln entlockten.
        Nichtsahnend ging Giovanni heute zu seiner Arbeitsstatte. Wie konnte er auch vermuten, da? er an diesem Tage noch den Mittelpunkt der Erde kennenlernen wurde?
        Es war ein heiterer Tag, das Laub der Baume, von Licht ubergossen, schimmerte vom dunklen Braun bis zum goldgetonten Gelb. Er schwenkte sein Werkzeugbundel und summte ein Lied. Ein Lacheln spielte um seine Lippen. Er dachte daran, was vor einer Woche, als Giannina ihn bis zur Werkstatt gebracht hatte, geschehen war. ëKommt mal her, ihr Faulpelze», hatte Meister Benedetto plotzlich gerufen.
        Die Gesellen und Giovanni waren gemachlichen Schrittes zu ihm gegangen, um den Wasserlinienri? einer Barke, den Meister Benedetto in den Sand gemalt hatte, zu betrachten.
        ëSo, was seht ihr da? Nichts seht ihr, wasÅ? Was siehst du, Giovanni?»
        ëStriche, Meister Benedetto! Ein gro?es, halbiertes Ei, das einer in den Sand geworfen hat.»
        ëOh, heiliger Nepomuk», entrustete sich Meister Benedetto, ëein gro?es Ei sieht er. Bauen wir denn Eier in meiner Werkstatt?»
        Feierlich sagte er dann: ëEine Barke steht vor dir, siehst du das nicht? Bald vermahlt sie sich mit dem Wind und fliegt uns davon. Windsbraut wird sie hei?en! Na, wei?t du nun, was die Striche bedeuten? Wiederhole noch mal!»
        Schmunzelnd sahen sich die Gesellen an. Was wurde der Alte nur diesmal wieder aushecken? Giovanni uberlegte sich jedes Wort, wu?te aber nicht, worauf der Meister hinauswollte.
        ëEine Barke sehe ich, Meister Benedetto. Windsbraut hei?t sie!»
        ëNa endlich», sagte der Meister zufrieden. ëNun mi? genau ab, wie breit sie ist, und rechne aus, wie hoch die Au?enhaut uber das Wasser ragen darf und wie der Tiefgang sein mu?, damit sie uns nicht umkippt - deine Windsbraut! Hast denn auch schon eine richtige Braut?» warf er im Weggehen noch hin. ëLos, los! An die Arbeit, Faulpelze! An die Arbeit!»
        Giovanni aber hatte sich mit rotem Kopf uber seine Barke im Sand gebeugt. Vor solchen Scherzen war man bei Meister Benedetto nie sicher. Er hatte ihn wahrscheinlich vom Fenster seines Hauses mit Giannina kommen sehen und sich seine Gedanken gemacht.
        An dieses Geschehnis mu?te Giovanni jetzt denken, als er den gewohnten Weg zur Arbeitsstatte ging. Er gru?te entgegenkommende Bauern und Glasmacher und blieb, da er noch ein wenig Zeit hatte, am Kanal stehen. Gemusekahne, voll beladen mit Kohlkopfen, Mohrruben und Kuchenkrautern, Fischerboote mit glitzernden Fischleibern in Fassern und Netzen schwammen vorbei. Alles schien nach Venedig zu stromen, die Fruchte des Landes, das Vieh, die Glaswaren. Der Segen Muranos flo? nach der unersattlichen Stadt und kam in klingender Munze zuruck, um in den Taschen Messer Celsis und der Patroni der Glasblasereien zu verschwinden. Ein Rest blieb auch fur die Bauern und Glasblaser ubrig.


        Zu seiner Rechten fuhrte die baufallige Holzbrucke, vor der ihn Giannina erwartet hatte, uber das Wasser. Wahrend Giovanni weiterging, dachte er an seinen Vater, den die erzwungene Untatigkeit immer verschlossener und murrischer machte. Wie konnte er ihm nur helfen? Heute morgen, als er sich verabschiedete, hatte der Vater mit unfrohem Lachen gesagt, da? er vielleicht im Laufe des Tages bei Meister Benedetto vorbeikommen werde. Aber vorher hatte er erst etwas anderes zu erledigen.
        Vieles ging Giovanni durch den Kopf, bis er endlich nach der letzten Wegbiegung das gewohnte Bild vor sich sah: das Gerippe einer gro?en Barke, mit Brettern uberdacht, unmittelbar neben dem Lagunensee den Holzstapelplatz und das Wohnhaus mit den steinernen Stufen, die zu einer viereckigen Veranda im ersten Stock emporfuhrten. Meister Benedetto trat gerade von der Kuche auf die Veranda hinaus und blickte zu den Inseln, die vor San Nicolo lagen.
        Ein frischer Luftzug wehte Giovanni entgegen. Die Sonnenpfeile drangen siegend durch den zarten Morgendunst, es glei?te und flimmerte, da? man den Blick abwenden mu?te. Fischerkahne, mit den zwergenhaft uber den Bootsrand ragenden Oberkorpern der Manner, lagen nah und fern auf der Lagune. Giovanni blieb einen Augenblick stehen, um das schone heimatliche Bild in sich aufzunehmen. Der Duft des Holzes stieg ihm in die Nase und erinnerte ihn an die Arbeit.
        Es war nun Zeit, zum Fruhstuck zu gehen. Die Gesellen sa?en vielleicht schon hungrig um den Tisch; es konnte allerdings auch sein, da? sie noch auf ihren Strohsacken lagen. Sie wohnten in einer Kammer des geraumigen Holzhauses, die sich im Erdgescho? befand. Giovanni geno? die Vergunstigung, jeden Abend nach Hause gehen zu konnen. Meister Benedetto hatte es ihm erlaubt, damit er dem Vater zur Hand gehen konne. Der Meister schatzte Ernesto und versuchte ihm zu helfen, so gut es ging. Darum hatte er auch seinen Jungen in die Lehre genommen, und er hatte es bisher noch keinen Augenblick bereut.
        Giovanni sprang die Steinstufen hoch und offnete nach kurzem Klopfen die Kuchentur.
        ëBuon giorno, Frau Meisterin, buon giorno, Meister Benedetto, buon giorno, Gesellen», rief er seinen morgendlichen Gru? in die geraumige Kuche hinein.
        ëDie Gesellen sind ja noch gar nicht da, siehst du das denn nicht?» schrie die Meisterin aus dem Hintergrund, ëlauf hinunter und hol sie, sonst kriegen sie nichts zu essen!»
        Polissena, die Meisterin, war klein und rundlich wie Benedetto, trotz ihres Alters hatte sie noch pechschwarzes Haar. Im Grunde genommen war sie recht gutmutig, und man konnte gut mit ihr auskommen. Nur hatte die Natur ihr eine durchdringende Stimme verliehen, die den weit entfernt auf der Lagune liegenden Fischern einen Schauer uber den Rucken jagte, wenn sie von der Veranda herab ihre Anweisungen durch den stillen Morgen schrie. Meister Benedetto hatte zudem die Angewohnheit, so zu tun, als ob er schwer hore, was Polissena jedesmal veranla?te, ihre Stimmkraft zu ungeahnten Leistungen zu steigern.
        Gahnend traten die drei Gesellen Filiberto, Giulio und Aurelio ein. ëDa sind wir schon, Frau Meisterin», sagte Filiberto und strich bedachtig seinen Bart.
        ëSchonÅ schon!» schrie Polissena und klatschte den Teig auf den Tisch.
        ëOh, Kase aus Stutenmilch!» Giulio, der Spotter, sog schnuppernd und mit verzucktem Gesichtsausdruck den Kuchenduft ein.
        ëUnd hinterher ein Schoppchen Wein, nicht wahr, Meister, dann schmeckt die Arbeit besser», gab auch der hagere, hochgewachsene Aurelio seinen Soldo dazu.
        Und wie es jeden Morgen geschah, verteidigte Meisterin Polissena ihren Stutenmilchkase, von dem sie einen gro?eren Posten billig bei einem Handler erworben hatte. Er war schon etwas trocken gewesen und schmeckte nach Meinung der Gesellen von Tag zu Tag mehr nach Stroh, aber die Meisterin pries ihn als den fettesten, wohlschmeckendsten Kase, der jemals die wei?gescheuerte Platte ihres Kuchentisches geziert hatte.
        ëDa? du mir keinen Wein holst, Benedetto! Und du, Giulio, mach den Kase nicht schlecht!»
        Sie stellte die dampfende Ziegenmilch auf den Tisch und schnitt von dem in der Ecke hangenden Schinken einige Scheiben ab.
        ëSo!» sagte sie. ëGebt auch dem Jungen seinen Teil, ihr Vielfra?e!» Nachdem Meister Benedetto das Tischgebet gesprochen hatte, begannen sie zu essen. Wahrend des Fruhstucks war kein Wort zu horen. Giovanni fegte die Veranda, holte aus der nahen Zisterne Wasser fur die Meisterin, hackte Holz und trieb die Ziegen hinaus, damit sie das sparliche Gras abfressen konnten. Dann meldete er sich bei Meister Benedetto zur Arbeit.
        Die im Rohbau fast fertige Barke war auf dem sanft geneigten Ufer auf Stapel gesetzt. Schon in den nachsten Wochen wurden der Bildschnitzer und der Vergolder kommen, um mit den Verschonerungsarbeiten zu beginnen. Die Barke gehorte dem spanischen Gesandten Don Manuel Colmeiro di Guadalajara und sollte mit au?erster Pracht ausgestattet werden.
        Die drei Gesellen sagten und hammerten, da? es weit durch die klare Luft hallte. Filiberto und Giulio sa?en auf dem Gerust, Aurelio bearbeitete mit der Axt einen schlanken Kiefernstamm, der fur den Mast vorgesehen war.
        Wie das Gerippe eines riesigen Vogels ruhte die Barke auf den Holzblocken, die uber starke Balken gelegt waren. Diesen Vergleich hatte Giovanni von Meister Benedetto gehort. Der Kiel sei das Ruckgrat, hatte er ihm erklart, der Vordersteven der Brustknochen, und die Spanten stellten die Rippen dar.
        Giovanni hatte in der kurzen Lehrzeit schon eine ganze Menge gelernt. Jetzt sollte er sogar selbstandig die Unterlage fur eine gro?ere Warenbarke zurechtlegen, die als nachste gebaut werden wurde. Hin und wieder rief Meister Benedetto ihn zu sich, um ihm etwas zu erklaren.
        Der Meister arbeitete allein in einem Holzschuppen, zu dem noch nicht einmal Polissena und die Gesellen Zutritt hatten. Er war damit beschaftigt, eine neue Bootsart zu bauen, die auf den engen Kanalen wie ein Vogel, lautlos und schnell, dahinschweben sollte. Sonderbar sah das Gerippe in dem Schuppen aus, wie ein schlanker Raubfisch, etwa drei?ig Schuh lang und viel leichter gebaut als die bisher verwendeten Boote. An der Spitze des Vorderteils war ein beilformiges Eisen befestigt, unter dem mehrere Zahne hervorragten.
        Giovanni war durch die tagliche Beschaftigung im Freien und den Stutenmilchkase kraftiger geworden; die Brust hatte sich geweitet, und die Oberarmmuskeln konnten sich sehen lassen. Er war auch gewachsen. Wenn man ihn mit geoffneter Hemdbrust arbeiten sah, verga? man uber der athletischen Gestalt des Jungen mit den breiten Schultern den kleinen Hocker am rechten Schulterblatt. Giovanni war auch lebensfroher geworden; die Schwermut auf dem Grund seiner Augen, die sich oft wie ein Schatten uber seine Empfindungen gelegt hatte, war fast verschwunden.
        Manchmal fing er ohne Aufforderung an, ein Lied zu singen:

        Schwimme, mein Schiffchen,
        auf dem stillen See.
        Tanze, mein Schiffchen,
        auf dem gro?en Meer.
        Fahre, mein Schiffchen,
        in die weite Welt.
        Fliege, mein Schiffchen,
        heim in den Hafen.
        Nur eins bereitete Giovanni Sorge: der ewig grubelnde Vater. Heute wurde er bei Meister Benedetto vorbeikommen. Aber er hatte ihm nicht den Grund seines Besuches verraten. ëHe, Giovanni, komm mal zu mir!» rief der Meister.
        Giovanni legte den Balken zur Seite. Er sah schon am Gesicht Benedettos, da? dieser sich wieder etwas ausgedacht hatte.
        Meister Benedetto hockte sich behende wie ein Junger nieder und steckte den Zeigefinger in den Sand. ëHier liegt Murano! Siehst du das?»
        Giovanni nickte lachelnd.
        Der Meister bezeichnete in einem Fu? Entfernung einen zweiten Punkt und sagte: ëUnd dort liegt der schwarze Erdteil, wo die Unglaubigen wohnen, wo Glaubige und Unglaubige sich die Kopfe einschlagen.»
        Ein dritter Punkt bedeutete Byzanz und das schwarze Meer, ein vierter Ru?land, ein funfter Deutschland, ein sechster Frankreich und Spanien.
        ëDa hast du die ganze Welt, mein Sohn. Ein Bootsbauer mu? das wissen. Rings um Murano also liegt die ganze Welt.»
        Er legte seine Stirn in ernste Falten und fuhr dann fort: ëWas du hier siehst, ist nur Sand, feiner gelber Sand, wie du ihn nirgends schoner findestÅ Lache nicht! Ich habe den Sand benutzt, weil man mit dem Zeigefinger keine Locher in einen Kupferkessel stechen kann. Verstehst du das?»
        ëNein, Meister Benedetto!»
        ëDann pa? gut auf! Die Erde also ist wie ein umgestulpter Kupferkessel, rings von Wasser umgeben. Sie schwimmt sozusagen auf dem Wasser. Und oben, genau in der Mitte, liegt Murano.» Er hob bedeutungsvoll den Zeigefinger. ëDas wollte ich dir namlich sagen: Murano ist der Mittelpunkt der Erde, verstehst du; Murano ist eine kleine Erde fur sich, kann man sogar sagen. Sieh sie dir nur genau an! Ist sie nicht wie ein umgestulpter Kupferkessel? Ist sie nicht rings von Wasser umgeben? Na, siehst du, alles stimmt, was ich dir sage.»
        Er erhob sich und wollte zufrieden in den Schuppen zuruckgehen. Doch Giovanni hielt ihn mit einer Frage zuruck: ëMeister Benedetto, was ist dann aber Venedig? Murano ist doch nur ein Anhangsel von Venedig!»
        ëOh, dieser Junge», stohnte Meister Benedetto und blieb stehen.
        ëWenn du mir mit Venedig kommst, dann sag ich dir: Murano ist die Sonne, und Venedig ist der Mond!»
        ëIst der Mond etwa gro?er als die Sonne?» fragte Giovanni harmlos.
        ëGeh an deine Arbeit, Faulpelz!» befahl Meister Benedetto und versuchte vergeblich, das lustige Spiel der Faltchen um seine Augen zu verbergen.
        ëEs bleibt dabei, Murano ist der Mittelpunkt der Erde!» Er griff hinter sich in die Holzspane und holte einen Krug hervor. Als er ihn an die Lippen heben wollte, tonte die scharfe Stimme Polissenas durch die Luft. ëBenedetto! Benedetto!»
        ëDer Mittelpunkt der Erde, hab ich's nicht gesagt? Da ist er!» murmelte er, zog sich eilig in den Schuppen zuruck und begann laut zu hammern.
        Etwa eines Steinwurfs Weite vom Ufer entfernt, hatte ein Fischer seinen Kahn festgelegt! ëBenedetto! Benedetto!» schrie Polissena zum zweitenmal.
        Die Huhner, die nach Wurmern scharrten, kummerten sich nicht darum.
        Meister Benedetto hammerte verzweifelt weiter. ëSchrei nur, Alte», brummte er.
        ëBenedetto! Benedetto!» schallte es vom Wasser zuruck. War es das Echo, oder rief es der Spa?vogel in seinem Boot?
        Emport gackernd liefen sieben Huhner hinter einem achten her, das einen fetten Regenwurm im Schnabel davontrug. Der Hahn krahte mit stolz gespreiztem Gefieder.
        Filiberto, Giulio und Aurelio lachten. Lachten und klopften, was das Zeug hielt! Giovanni hielt sich hinter dem Schuppen versteckt.
        Polissena rief zum dritten- und letztenmal, stemmte beide Fauste in die Huften und blickte zornig von ihrem erhohten Standpunkt auf das friedliche Bild der emsig arbeitenden Manner hinab.
        ëWartet nur!» sagte sie und begab sich in kriegerischer Stimmung wieder an ihren Nudelteig.
        Ein frischer Hauch kam von der Lagune, die rein und klar, in durchsichtig grunen und blauen Farben im Sonnenlicht glanzte und die Boote auf ihrer gekrauselten Oberflache sanft wiegte. Die Ferne war in Dunst gehullt, und alle Helligkeit des graublauen, hohen Herbsthimmels schien sich auf Meister Benedettos Mittelpunkt der Erde zu konzentrieren.
        Nachdem die Meisterin wieder in ihr Kuchenreich entschwunden war, klangen die Gerausche der arbeitenden Manner gedampfter. In dem geheimnisvollen Schuppen war der Arbeitslarm ganzlich verstummt. Meister Benedetto steckte vorsichtig den Kopf hinaus und warf einen schnellen Blick auf die Veranda. Befriedigt zog er ihn zuruck, setzte den Krug an die Lippen und trank in vollen Zugen. Die Arbeit ging ihm nun doppelt so schnell von der Hand.
        Giovanni war voller Eifer dabei, die Balkenlage nach den angegebenen Ma?en zurechtzulegen.
        Die Stunden verrannen. Hoher stieg die Sonne; der laue, feuchte Wind streichelte Menschen, Tiere, Pflanzen und lie? trotz letzter Sommerzartlichkeit den kommenden Winter ahnen.
        Es ging dem Mittag zu, als eine gro?ere Warenbarke mit seltsam gefarbten Segeln auf Meister Benedettos Grundstuck, das im stumpfen Winkel in das Wasser hineinragte, zuhielt. Die Konturen hoben sich wie ein Schattenri? von dem hellfarbigen Hintergrund ab und verliehen dem schnell sich nahernden Schiff etwas Dusteres, Drohendes.
        Giovanni richtete sich auf und sah, mit der Hand die Augen beschattend, auf das glei?ende Wasser. Er hatte sich angewohnt, die Bauart eines Schiffes, das Verhaltnis der Lange zur Breite, die Takelung, die Segelflache und viele Einzelheiten kritisch zu betrachten. Die Barke gefiel ihm, sie war schon und zweckma?ig gebaut. Um so mehr wunderte er sich uber den Anstrich. Je naher sie kam, um so deutlicher erkannte er, da? sie mit schwarzer Farbe angestrichen war. Er lief zum Meister Benedetto, um ihm die Ankunft der Barke zu melden. ëEine schwarze Barke mit dunkelroten Segeln legt bei uns an, Meister», sagte er aufgeregt.
        ëWas sagst du da?» Meister Benedetto, der in Gedanken versunken vor seinem Boot stand, hob mi?trauisch den Kopf. ëEine schwarze Barke?»
        Als Giovanni eifrig nickte, trat er aus seinem Schuppen heraus, um sich selbst zu uberzeugen.
        Die Segel glitten an den Masten herab, kurze Zurufe ertonten, Taue wurden um die Pfosten gewunden, und der Anker wurde ins Wasser geworfen. Behende sprang ein stammiger Mann auf den Bootssteg.
        Polissena, die von ihrem Fenster die Ankunft der Barke beobachtet hatte, ging auf die Veranda, um sie naher zu betrachten. Als sie den Mann, augenscheinlich den Besitzer der Barke, gewahrte, schlug sie die Hande uber dem Kopf zusammen und lief wieder in die Kuche zuruck. Erst drinnen wagte sie eine zornige Verwunschung auszusto?en, hielt aber gleich darauf erschrocken die Hand vor den Mund und murmelte: ëVerzeiht, heilige Mutter Gottes!»
        Ganz anders verhielt sich Meister Benedetto. ëDu bist es, Matteo», rief er mit frohem Gesicht dem Entgegenkommenden zu. ëAber wie siehst du nur aus?»
        Kapitan Matteo blinzelte ihn mit einem Auge an, das andere lag unter einer blutunterlaufenen Geschwulst verborgen.
        ëEin kleiner Unfall, Benedetto», sagte er verlegen. ëHat nichts zu bedeuten. Auch die Barke hat etwas abgekriegt. Ihr mu?t sie mir gleich wieder herrichten.»
        Ha - ha - ha - ha - ha!» lachte Benedetto aus vollem Halse. ëDu machst ja schone Sachen. Entschuldige, aber wenn ich dich so sehe und deine Barke dazu! Ha - ha - ha - ha - ha! Wie ein Zyklop siehst du aus! Und die Barke - wie ein Sarg mit Segeln! Mann kennt sie gar nicht mehr. Was hast du nur wieder angestellt?»
        Kapitan Matteo hob die mit Binden umwickelte Hand. ëSei doch ruhig, Benedetto», sagte er mit gedampfter Stimme. ëDu wei?t, ich liebe kein AufsehenÅ»
        Meister Benedetto winkte, noch immer lachend, ab. ëIst schon gut, Matteo!à- Filiberto, Giulio!» rief er. ëGeht an Bord und seht, was es zu reparieren gibt! Los, los, ihr Faulpelze!» ëIch habe ein Fa?chen Edlen mitgebracht», flusterte Matteo.
        Uber Benedettos Gesicht flog ein freudiges Leuchten; gleich darauf aber wiegte er bedenklich den Kopf. ëWie bringen wir's nur an Land, ohne da? es die Alte merkt?» fragte er besorgt.
        Jetzt war es Kapitan Matteo, der in ein drohnendes Lachen ausbrach, und Benedetto, der ihn beschwor, doch leise zu sein.
        ëWird schon gemacht», sagte Matteo, nachdem er sich beruhigt hatte. ëVerla? dich auf mich!»
        Giovanni hatte die Gesprache und Gebarden der beiden aus einiger Entfernung beobachtet. Jetzt sah er zu seinem gro?en Erstaunen, da? sie in dem Schuppen verschwanden, den weder die Meisterin noch die Gesellen betreten durften. Der Besitzer der schwarzen Barke schien bei Meister Benedetto gut angeschrieben zu sein.
        Die beiden Manner, von Jugend an befreundet, sprachen dem Wein zu und tauschten alte Erinnerungen aus. Meister Benedettos schlaue, gutmutige Augen glanzten schon verdachtig, als der Krug zur Neige ging. Aber seine Gedanken arbeiteten klar.
        ëMu? ja ein kraftiger Kerl gewesen sein, der dich so zugerichtet hat», sagte er.
        Kapitan Matteo sah nachdenklich auf die Werkbank. ëEs ist schade um ihn. Ich kann mir das gar nicht erklaren, aber er hat mir, auf den ersten Blick gefallenÅ» ëGefallen hat er dir?» fragte Benedetto zweifelnd. Doch Matteo zeigte keine Lust mehr, uber das nachtliche Erlebnis zu sprechen. Die Erinnerung daran erzeugte Traurigkeit und Unlust in ihm.
        ëHast du keinen Wein mehr?» fragte er rauh. Benedetto drehte bekummert den Krug um.
        Durch die Ritzen und Locher der Bretter schienen die Sonnenstrahlen und zeichneten flirrende Bahnen in dem umherfliegenden Holzstaub. ëKrummbein, komm mal her!» rief Matteos drohnende Stimme. ëGiovanni! Giovanni!» schrie Meister Benedetto. Flusternd gab Kapitan Matteo dem herbeigeeilten krummbeinigen Steuermann eine Anweisung.
        Giovanni erhielt den Auftrag, der Meisterin die Ankunft Kapitan Matteos zu melden und ihr mitzuteilen, da? er zum Mittagessen bleiben wurde.
        Die Meisterin nahm die Nachricht mit grimmigem Gesicht auf; denn sie wu?te genau, da? eine Begegnung zwischen Benedetto und Matteo zu einem feuchtfrohlichen Trinkgelage zu fuhren pflegte. Die Gesetze der Gastfreundschaft verboten ihr jedoch, das zu sagen, was sie auf der Zunge hatte.
        Der Krummbeinige schleppte indes mit gro?ter Geschwindigkeit das Fa?chen mit Wein von Bord und ubergab es Meister Benedetto, der es in den dunkelsten Winkel des Schuppens stellte.
        ëSo, das hatten wir geschafft», sagte er aufatmend, nahm den Krug und hielt ihn unter den holzernen Zapfen.
        ëEin Gottergerausch, horst du, Matteo?»
        Der Wein fiel in vollem Strahl auf den Boden des Kruges. Andachtig lauschte Meister Benedetto.
        Drau?en spielte der Wind mit den kleinen Wellen, klopften die Gesellen gegen das Holz, raschelte das welkende Laub.
        ëKannst du denn ein Boot bauen, ohne den Wein zu lieben?» philosophierte Benedetto. ëSag, Matteo, kann man das?»
        ëTrink nur, Benedetto!» erwiderte der Kapitan. Und seine Knollennase gluhte im Vorgefuhl des edlen Trunkes.
        Giovannis Vater war, als sein Junge die Tur hinter sich geschlossen hatte, muhsam aufgestanden und auf einem Bein zum Fenster gehupft.
        Da ging Giovanni, ohne sich umzusehen, schwenkte sein Werkzeugbundel und summte ein Lied oder wunderte sich uber den murrischen Vater. Von den Obstbaumen im Vorgarten fielen gelbe Blatter auf die fruchtbare, schwarze Erde, Herbstblumen bluhten, Spatzen larmten in den Zweigen, und die ersten Sonnenstrahlen muhten sich, Licht und Frohsinn in das Grubeln des Einsamen zu tragen.
        Da ging Giovanni in geschenkten Strumpfen und plumpen Schuhen, die er ihm aus einer geschenkten Ziegenhaut, so gut er es eben konnte, angefertigt hatte.
        Ernesto sah seinem Jungen nach, bis er zwischen den Baumen, die sich wie eine Pforte offneten und in der Ferne schlossen, immer kleiner wurde und nicht mehr zu sehen war.
        Eine Schar Krahen, gestort durch einen fluchtenden Hasen, flog von den Ackern auf und lie? sich in einiger Entfernung nieder. Totenvogel! Schwarz und ha?lich, ungeschickt im Flug.
        Der Palast des Grafen Este steht am Canal Grande, wei?er Marmor spiegelt sich stolz im Wasser; eine Barke, mit Teppichen reich geschmuckt, legt an der Riva an, der Graf reicht seiner Dame die Hand, fuhrt sie die Stufen hinauf und streicht im Vorbeigehen uber den glatten, rotgeaderten Marmorblock, der Ernestos Bein zerschmettert hat.
        Ernesto, die Hande auf das Fensterbrett gestutzt, sah hinaus, ohne die Baume, die Acker, die Blumen, die Sonne wahrzunehmen.
        Pietro, Gianninas Vater, ging vorbei und gru?te. Die Glashutte wartete auf ihn. Er fuhlte zwischen den Fingern geschliffenes Spiegelglas.
        Ernesto schlo? die Augen. Die Stube wartete auf ihn, die Bank am Kamin wartete auf ihn, die Krucken warteten auf ihn. Es schmerzte, auf einem Bein zu stehen. Manchmal verlor er das Gleichgewicht und sturzte, aber Hande und Arme waren stark und fingen den Fall auf.
        Er hatte sich noch nicht daran gewohnt, auf einem Bein zu gehen. Es war auch nicht leicht. Selbst fur den geduldigen Ernesto war es nicht leicht.
        Elena, Gianninas Mutter, eilte vorbei und gru?te ihn. Sie ging zum Kloster, um Geflugel zu rupfen, Wein aus dem Keller zu holen und eine Botschaft nach Venedig zu tragen.
        In Venedig war Karneval.
        Ernesto hupfte zur Bank zuruck.
        Das Fenster war klein, und die Stube war gro?; wenig Licht fiel herein. Wo die Sonnenstrahlen lagen - auf dem Tisch, dem gestampften Fu?boden, dem gemauerten Grund des Kamins - war jedes Staubchen zu sehen.
        Ernesto dachte an Marietta, an ihre Augen, die so hell wie die Giovannis gewesen waren. Sie ruhte auf der Friedhofsinsel San Michele, abseits von den in Stein gemei?elten Grabdenkmalern, in einem stillen grunen Eckchen. Er war seit seinem Unfall nicht mehr dagewesen und nahm sich vor, in den nachsten Tagen, bevor er das andere Leben begann, ihr Grab aufzusuchen.
        Giovannis ernstes Gesicht, seine Gestalt, die zwischen den hohen Baumen verschwunden war, mahnten ihn. Steh auf, Ernesto, schieb es nicht mehr langer auf!
        Er griff zu den Krucken, schob sie unter die Arme und schwang sich zur Tur. Mit einer keimenden Hoffnung im Herzen stand er vor dem Haus.
        Der Morgen war hell und von einem frischen Wind durchweht. Ernesto machte sich auf den Weg. Die Glasblaser, die ihn fast alle kannten, riefen ihm ermunternde Worte zu.
        ëSieht man dich auch mal wieder?»
        ëKommst ja schneller vorwarts als wir, Ernesto!»
        ëMach dir nichts daraus, Ernesto, dir fehlt ein Bein, und uns geht die Lunge kaputt.»
        Er antwortete ihnen und beschleunigte seine Schritte. Es ging besser, als er gedacht hatte. Was fur einen Sinn hatte es auch, am Kamin zu sitzen und Trubsal zu blasen? Er mu?te sich endlich damit abfinden, da? er nicht mehr als Steinbauer arbeiten konnte. Naturlich fiel es ihm schwer, zum Messer Celsi zu gehen und um zweihundert Zechinen zu bitten. Er machte sich Vorwurfe, da? er das Geld damals nicht genommen hatte. Messer Celsi wurde jetzt auf dem hohen Ro? sitzen und Bedingungen diktieren, die sicher schlechter ausfielen als beim ersten Angebot.
        Ernesto versuchte den Gedanken an die bevorstehende Unterredung auszuweichen, indem er beobachtete, was links und rechts des Weges geschah. Drei schwarze Kuhe weideten auf einer Wiese; im Umkreis eines Baumes, der auf dem Rasen stand und weit sein Blatterdach ausbreitete, lag gelbes Laub. Zwei Hunde walzten sich spielend am Boden, sprangen auf, umkreisten einander und liefen ausgelassen davon. Auf den Ackern arbeiteten Knechte und Magde.
        Als Ernesto gemeldet wurde, sa? Messer Celsi gerade bei seinem reichhaltigen Fruhstuck. Das Fruhstuck war fur ihn so wichtig wie der Gottesdienst, den er regelma?ig mit seiner Frau besuchte. Er schob die schwarze Haarstrahne aus der Stirn und leckte sich die fetttriefenden Lippen ab. Heute gab es keinen Kapaun; Messer Celsi wollte in Zukunft jeden Morgen gebratenen Speck essen, weil ihm ein Apotheker in Venedig verraten hatte, da? diese Speise die Verstandeskrafte scharfe, wahrend der Genu? von Kapaunenfleisch das Gehirn trage mache.
        Mit gro?er Ehrfurcht und einem geheimen Schauder dachte Messer Celsi an seine Unterhaltung mit dem gelehrten Apotheker, der ihn die ganze Zeit wie eine Viper mit seinen Schlangenaugen angestarrt hatte. Auf den Regalen standen Kruge, die nach den aufgeklebten Etiketten ëAlexandrinischen Sirup», ëRhabarbertinktur» und ëSchildkrotensirup» enthielten. In flachen Schalen lagen Krebsaugen, Kellerasseln, Muscheln, andere waren gefullt mit Edelsteinsplittern, aus denen Hyazinthlatwerge hergestellt wurde, die, nach den Worten des Apothekers zu urteilen, imstande war, beinahe die Toten aufzuwecken. Messer Celsi war besonders beeindruckt gewesen von den ausgestopften Eidechsen, Strau?eneiern, Schlangen und anderen merkwurdigen Tieren, die von der holzgetafelten Decke herabhingen.
        Der Rat des Apothekers, zur Scharfung des Verstandes gebratenen Speck zu essen, schien seine Wirkung nicht zu verfehlen. Messer Celsi glaubte zu spuren, wie seine Gedanken schneller arbeiteten und legte sich, um zu noch gro?eren Leistungen angespornt zu werden, ein zweites Stuck Speck auf das Brot.
        Die Magd, die Ernestos Ankunft gemeldet hatte, bekam glanzende Augen. Sie hatte nicht oft Gelegenheit, Speck oder Fleisch zu essen; denn Messer Celsi war ein sparsamer Mann, wenn es um sein Gesinde ging. Wie hatte er sonst ein Stuck Land nach dem anderen zu seinem ererbten Besitz erwerben konnen? Sparsam und schlau, dazu gebratenen Speck jeden Morgen! Der Rat des Apothekers war Goldes wert.
        ëLa? Ernesto drau?en warten!» befahl Messer Celsi und grub seine Zahne in das wei?e fettgetrankte Brot.
        Lange stand Ernesto geduldig vor dem Haus; das Bein und die Achselhohlen schmerzten. Und die Hoffnung war wie ein winziges Flammchen, das um ein Birkenscheit huscht, erlischt und plotzlich an einer anderen Stelle unvermutet wieder sein Zunglein ausstreckt.
        ëSetzt Euch doch, Ernesto! Dort, auf die Steinstufen!» sagte die Magd mitleidig. ëDer Herr ist noch beim Fruhstuck.»
        Aber Ernesto wollte kein Mitleid. Storrisch blieb er stehen, den Blick auf den Misthaufen in der Mitte des Hofes gerichtet.
        Ob er mir heute wieder einen Kapaun anbieten wird, dachte er, sich selbst verspottend.
        Im Stall scharrten ungeduldig die Pferde. Zwei Frauen mit hochbeladenen Tragkorben gingen durch das Hoftor. Die Last, die sie trugen, mu?te schwer sein; denn sie beugten tief die Rucken und sahen weder rechts noch links.
        Am frohesten waren die Huhner, die eifrig mit ihren Schnabeln im Mist herumpickten.
        Auch das demutigende Warten fand ein Ende.
        Messer Celsi empfing Ernesto in seinem Arbeitszimmer, das er sich nach dem Vorbild venezianischer Kaufleute eingerichtet hatte.
        ëSo, da bist du ja. Ich habe mir schon gedacht, da? du kommst. Der Messer Celsi ist namlich schlauer, als du denkst. Ob ich dir heute noch die zweihundert Zechinen geben werde - ich wei? es nicht, LandsmannÅ» Er warf die Haarstrahne zuruck und versuchte, Ernesto mit dem kalten Schlangenblick des Apothekers anzusfhen. Nach dem ausgedehnten Fruhstuck fuhlte er sich im vollen Besitz seiner Verstandeskrafte, und er nahm sich vor, dem Apotheker ein Geschenk zu uberreichen, vielleicht ein Ferkel oder einen Schinken. Solche Leute mu?te man sich gewogen halten. Ernesto hatte plotzlich keine Lust mehr, moge geschehen, was wolle, den demutigen Bittsteller zu spielen. Er richtete sich, so gut es ging, auf und sagte: ëIch wollte die zweihundert Zechinen holen, die Ihr mir angeboten habt, Messer Celsi. Aber wenn Ihr sie mir nicht geben wollt, gehe ich wieder.» Er drehte sich auf seinen Krucken herum und humpelte zur Tur. Messer Celsi sah verdutzt den breiten Rucken und hatte gar keine Zeit, zornig zu werden.
        ëBleib doch, Ernesto», sagte er, ëso war's doch nicht gemeint.» Auf einmal spurte er, da? er zuviel fetten Speck gegessen hatte. Sein Gesicht verfarbte sich. ëBleib nur!» rief er mit erstickter Stimme und lief hinaus.
        Ernesto sah ihm kopfschuttelnd nach. Bald kam Messer Celsi, noch bleich, aber sonst wieder wohl, zuruck. Sein erster klarer Gedanke galt dem Apotheker; der Quacksalber hatte ihm anscheinend einen tuchtigen Baren aufgebunden. Er beschlo?, ihm keinen Schinken und kein Ferkel zu schicken.


        ëDu sollst deine zweihundert Zechinen bekommen», sagte er zu Ernesto, ëwas Messer Celsi verspricht, das halt er auch. Darfst nicht denken, da? ich dich vergessen habe. Dein Papierchen liegt schon bereit, brauchst nur dein Zeichen daraufzumachen, und alles ist in OrdnungÅ Nachher kannst du noch etwas gebratenen Speck essen!»
        Ernesto verzichtete auf den gebratenen Speck. Er lie? sich die Bedingungen vorlesen, trat an das Stehpult und malte ungeschickt sein Zeichen auf das ëPapierchen», das ihm noch manches Kopfzerbrechen verursachen sollte.
        Mit feierlichem Ernst zahlte Messer Celsi zweihundert Zechinen auf den Tisch.
        ëNimm sie, Ernesto», sagte er, als gabe er ihm seine Tochter zur Frau, ëder Messer Celsi meint es gut mit dir.»
        ëIhr schenkt sie mir ja nicht!» erwiderte Ernesto, erbost uber das Getue des reichen Bauern, ëich mu? sie ja bis auf den letzten Soldo zuruckzahlen.»
        Er schuttete die Geldstucke in ein viereckiges Tuch und knupfte dessen vier Zipfel zusammen.
        Messer Celsi geleitete seinen Schuldner hoflich zur Tur.
        Polissena hatte Kapitan Matteo mit sauerlicher Miene begru?t. Sie konnte ihn eigentlich gut leiden, argerte sich nur, weil er Benedetto immer zum Trinken anregte. Wahrend des Mittagessens ereigneten sich zum Ergotzen der drei Gesellen einige heitere Zwischenfalle. Meister Benedetto, mutig durch den genossenen Wein, trieb Polissena in ungewohntem Befehlston zur Eile an und lie? sich durch ihre schrille Stimme nicht im mindesten einschuchtern. Kapitan Matteo, der vermitteln wollte, wurde durch eine verachtliche Handbewegung Polissenas zum Schweigen gebracht.
        Trotz allem schmeckte ihnen das Mittagsmahl vorzuglich. Kapitan Matteo und Meister Benedetto hatten es sehr eilig, wieder zu ihrem Fa?chen zu kommen. Auch die drei Gesellen und Giovanni begaben sich an ihre Arbeit.
        Der Himmel hatte sich dicht mit wei?en Wolken bezogen. Giovanni sah den Vater kommen und lief ihm freudig entgegen. ëIch dachte schon, Ihr kommt nicht mehr, Papa», rief er. ëWas du nur denkst, Giovanni!» Ernesto hob das zusammengeknupfte Tuch und lie? die Zechinen gegeneinanderklingen. ëHorst du das?» Sein Gesicht war froh wie lange nicht. ëDu bekommst schone Kleider, und ich werde mir von Meister Benedetto ein Boot bauen lassen.» ëPapa, wo habt Ihr das viele Geld her?» fragte Giovanni verwundert. ëIch hab's mir von Messer Celsi geborgt. Mach dir keine Sorgen. Ich werde jeden Tag zum Fischen hinausfahren und das Geld mit der Zeit zuruckzahlen.»
        Giovanni, der von Gelddingen wenig verstand, freute sich mit dem Vater.
        ëKomm nur, Papa. Das mussen wir gleich dem Meister Benedetto sagen. Ich werde ihn bitten, da? ich beim Bau unseres Bootes helfen kann.»
        Lachelnd hinkte der Vater zu Benedettos Schuppen. Er blieb einen Augenblick stehen und sah auf die Lagune hinaus. Bald wurde er wie die anderen Fischer mit seinem Boot sich auf dem Wasser wiegen, die Netze auswerfen und die Angeln legen, bei warmem und kaltem Wetter, im Regen und bei Sonnenschein. ëSchon wird es, Ernesto», sprach er sich selbst Mut zu. ëSchon!»



        AUF DER SUCHE

        DIE HOFFNUNG, DASS PAOLO LEBTE UND SICH aus irgendeinem Grunde verbarg oder sogar gefangengehalten wurde, war in Marcos Herzen noch nicht gestorben. Nach seiner Unterredung mit Giannina irrte er den ganzen Nachmittag und die halbe Nacht durch die Gassen, schaute in Hafentavernen und Weinhauser hinein, stand auf der Ponte della moneta und der Ponte della paglia, streifte uber gro?ere und kleinere Platze, befragte Bettler und Matrosen, Brezelhandler und Soldaten und mu?te sich am Ende sagen, da? es sinnlos sei, in einer Stadt mit mehr als hundertfunfzigtausend Seelen einen einzelnen Menschen finden zu wollen, von dem man nichts weiter wu?te, als da? er auf unbegreifliche Weise wahrend einer nachtlichen Bootsfahrt verschwunden war.
        Die Piazza lag im Schein der Fackeln, die wie Perlenschnure uber dem vieltausendkopfigen Menschengewoge lagen. Marco ging teilnahmslos durch das bunte, gerauschvolle Treiben. Er war hungrig und mude. Der Anblick der vielen Menschen, die sich unter dem Schutz der Masken frei und ungezwungen bewegten, stimmte ihn traurig. Unschlussig stand er vor dem Hauptportal der San-Marco-Kirche und sah zu den vergoldeten antiken Bronzerossen hinauf, die vor Jahrzehnten den Hippodrom von Byzanz geziert hatten, bis sie von dem Sieger Enrico Dandolo mit vielen anderen kostbaren Trophaen nach Venedig geschickt worden waren. Sie schienen jeden Augenblick von ihren steinernen Saulenpodesten in die Menge springen zu wollen.
        Da lautete in der Mitte der Nacht die gro?e Glocke auf dem San-Marco-Turm, machtig das Summen der Menschenstimmen ubertonend und wie ein klingender Hammer in die schmalen Steinschluchten fallend. Sie rief zum mitternachtlichen Gottesdienst. Der Torhuter offnete das Portal, in leisem Gesprach schritten die Menschen in den Schatten der Kirche. Marco stand abseits und hegte die torichte Hoffnung, da? einer der Kirchganger Paolo sein konne. Bettler umschwarmten die vornehm gekleideten Damen und Herren, die zur Messe gingen wie zu einem Fest.
        Es hatte keinen Zweck, hier langer zu warten. Giannina sa? zu Hause und angstigte sich. Er hatte versprochen, ihr sofort Nachricht zu geben; aber was sollte er ihr sagen? Ganz anders ware es, wenn er eine Spur, und sei sie noch so winzig, entdeckt hatte. Er furchtete den fragenden Blick ihrer Augen, glaubte einen versteckten Vorwurf darin finden zu konnen.
        Vielleicht bildete er sich das alles nur ein?
        In einem Winkel seiner Gedanken sa? ein qualendes Schuldbewu?tsein, das er nicht zu bannen vermochte. Warum habe ich Paolo zu Pietro Bocco geschickt? Warum? Paolo, der ihn wie ein Vater beschutzt hatte, treu und unaufdringlich, der Freund und Spielgefahrte. Er wollte schreien: Paolo, wo bist du? Komm doch zuruck!
        Die tonende Glocke rief die Menschen in die Kirche. Marco ging hinein, um sich von den dunklen Gedanken zu befreien. In dem warmen Dammerlicht schwiegen die unruhigen Stimmen. Der breite, von Saulen, Nischen und Bogen gesaumte Gang fuhrte zu einem von vielen Kerzen erleuchteten Altar. Weihrauch- und Myrrhe-Geruch erfullten den Raum, der so riesenhaft wirkte, als konnte er ganz Venedig in sich aufnehmen. Die Kuppeln, Bogen und Obermauern waren mit Mosaiken bedeckt, die sich farbenprachtig von dem goldenen Grund abhoben.
        Schwer legte sich die verschwenderische Pracht auf die Sinne der Kirchganger, Stolz und Furcht vor der Gro?e und Macht Venedigs weckend. Tempel und Kirchen fremder Lander waren geplundert worden, um das Innere und Au?ere der San-Marco-Kirche zu schmucken; und noch immer waren Scharen von Kunstlern und Handwerkern damit beschaftigt, die Ausstattung zu bereichern. Der Orient hatte den schonsten Marmor geliefert; funfhundert Saulen aus Granit, rotem Marmor, Verde antico, Porphyr, Cipolino und Basalt, mit altromischen, jonischen, korinthischen, arabischen und byzantinischen Kapitalen und Ornamenten fugten sich trotz aller Verschiedenheit zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Nach Tyrus und Byzanz, Dalmatien und Griechenland, Aquileja und den benachbarten Inseln hatte die Handelsrepublik ihre Saugarme ausgestreckt und sich mit List und Gewalt angeeignet, was ihr nutzlich schien: Saulen, vergoldete Bronzerosse, die einst den Triumphbogen des romischen Imperators Trajanus schmuckten, und das Recht, Handelsniederlassungen an allen wichtigen Punkten der Kusten des Mittelmeeres zu grunden.
        Marco kniete auf den Arabesken des kuhlen Steinbodens nieder und senkte den Kopf. Wie fernes Flugelrauschen schwebte der Gesang reiner Knabenstimmen durch den Raum.
        Dann wurde es still. Marco schlo? die Augen und horte das Murmeln des Priesters, der die Messe zelebrierte. Immer ferner klang es, bis er nichts mehr vernahm. Erst das Gerausch der Menschen, die leise aufstanden und flusternde Bemerkungen tauschten, weckte ihn aus seinem halben Schlaf.
        Er verlie? die Kirche, ohne Trost und Hoffnung gefunden zu haben.
        Als er nach Hause kam, empfing ihn Giannina schon am Haustor. Sie sah ihn an und wu?te, da? sein Suchen vergebens gewesen war. Sein Gesicht war so schmal und mude, da? sich Mitleid in ihr regte. Lange war er weg gewesen; sie war froh, da? er nun endlich gekommen war.
        ëNichts», sagte Marco und vermied es, das Madchen anzusehen. ëWo sollte ich auch suchen? Wir wissen ja nichts, Giannina.»
        Er warf die Mudigkeit von sich. ëMorgen gehe ich noch einmal zu meinem Oheim», sagte er. ëEr mu? mir Auskunft geben.» ëGeh nur schlafen jetzt, Marco.»
        Sie gingen die Treppe hinauf.
        Giannina hatte Angst vor dem morgigen Tag. Seitdem sie in Venedig war, furchtete sie sich vor vielen Dingen, uber die sie fruher mit leichtem Sinn hinweggegangen war, vor der Dunkelheit, dem zuckenden Blitz und dem Grollen des Donners, vor dunklem Wasser unter einer Brucke, vor Schritten auf der Treppe, wenn sie in ihrer kleinen Schlafkammer lag. Das Verschwinden Paolos hatte die Angst noch verstarkt.
        Wie von hundert Teufeln gejagt, sprang sie die schmale Stiege hinauf, ri? die Tur auf, warf sich angezogen auf ihr Bett und zog die Decke uber sich. Ihre Zahne klapperten, und ihr ganzer Korper schuttelte sich in kaltem Fieber.
        ëGiovanni! Morgen komme ich zu dir, Giovanni!» flusterte sie unhorbar.
        Langsam beruhigte sie sich.
        Marco schlief nur wenige Stunden in dieser Nacht. Kaum drang das erste Licht in seine Stube, stand er auf und zog sich an. Maria brachte ihm mit verweinten Augen das Fruhstuck, stellte es wortlos auf den Tisch und ging hinaus.
        Marco hatte sich in der Nacht einen Plan zurechtgelegt. Er sagte sich, da? es wenig Sinn hatte, noch einmal mit seinem Oheim zu sprechen, und wollte zuerst versuchen, von dem Diener Pietro Boccos etwas zu erfahren. Das Licht des neuen Tages farbte die Gedanken heller und weckte die erloschene Hoffnung. Mit neuem Mut schritt er zum Hause seines Oheims, lauschte wie ein Dieb an der Tur und druckte die Klinke nieder. Das Gluck begunstigte ihn. Kaum war er eingetreten, kam der Diener die Treppen herab. Marco trat ihm in den Weg.
        ëIch mu? mit dir sprechen. Verhalte dich still, damit mein Oheim nichts merkt», flusterte er.
        Der Diener schien ihn nicht gleich zu erkennen. Seine Augen offneten sich, als sei ihm ein boser Geist begegnet, die Lippen klappten schlaff auseinander. Er hatte kaum die Kraft, warnend den Zeigefinger an den Mund zu legen.
        Marco, der ihm in dem engen, dammerigen Hurgang gegenuberstand, empfand so deutlich wie nie zuvor, da? in diesem Hause die Furcht regierte, die Furcht vor den rucksichtslosen Entscheidungen des Herrn, die vor nichts zuruckschreckten, die nur das eine Ziel kannten - gelbes, seelenloses Metall anzuhaufen: Geld!
        In diesem Hause rann das Gold durch die Hande des Herrn und lahmte alle guten Empfindungen. Es mordete die Menschenliebe und weckte die Menschenfurcht.
        ëI muri parlanto», flusterte der Diener und versuchte das Entsetzen abzuschutteln, ëdie Mauern reden, junger Herr, geht weg von hier! Ich bitte Euch!»
        Marco folgte ihm in eine dunkle Ecke, peinlich beruhrt von der niederdruckenden Atmosphare dieses Hauses. Am liebsten hatte er den kleinen, schmachtigen Diener an den Schultern gepackt und wachgeruttelt. Aber er kannte ja Pietro Bocco und verstand die Angst seiner Untergebenen. ëWei?t du etwas uber Paolo», fragte er hastig, ëhast du ihn gesehen?» Eine Tur knarrte in den Angeln. Schritte im oberen Stock des Hauses!
        Der Diener hob die Hande, als wolle er sich vor Schlagen schutzen.
        War es Messer Pietro Bocco, der seinen morgendlichen Rundgang durch das Haus begann? War es die Magd, die mit dem schweren Waschekorb zur holzernen Altane auf dem Dach des Hauses gehen wollte?

        Der Diener druckte sich gegen die kuhle Wand. Marco stellte sich neben ihn und uberlegte die Worte, die er dem Oheim sagen wurde.
        Die Schritte bewegten sich auf die Treppe zu. ëLauft, junger Herr!» flusterte der Diener mit bebenden Lippen.
        Marco blieb unbeweglich stehen. Der Zorn wollte ihn ubermannen uber die unwurdige Rolle, die er zu spielen gezwungen war. Er drangte ihn zuruck.
        In diesen Augenblicken der fast unertraglichen Spannung bewegte ihn ein Gedanke: Paolo ist verschwunden. Am Abend geht er weg, und dann kehrt er nicht mehr wieder.
        Die Schritte kamen uber die ersten Treppenstufen.
        Am Abend geht er weg, und dann kehrt er nicht mehr wieder. Dieser immer wiederkehrende Gedanke war starker als seine Empfindungen fur Giannina, als seine Sehnsucht nach fernen Landern, beruhrte ihn schmerzlicher als vor Monden der Tod der Mutter.
        Der Oheim sagte gestern: ëEben habe ich eine traurige Nachricht erhalten, die mich sehr nachdenklich stimmt. Dein treuer Paolo ist ertrunken!»
        Und Marco durfte nicht aus der dunklen Ecke heraustreten und ihm ins Gesicht schreien: Ich will wissen, wo Paolo ist! Sagt es mir! Sagt es mir!
        I muri parlanto! Die Mauern reden!
        Messer Pietro Bocco ging die Treppen hinab und blieb im Hur stehen, als ahne er die Nahe von Menschen. Horte er die hastigen Atemzuge des Dieners?
        Er drehte sinnend den Kopf nach dem sparlichen Licht, das durch den Turspalt drang.
        Seltsame Gedanken, die ein stolzes Gefuhl der Uberlegenheit erzeugten, entstanden in seinem Gehirn. Er verglich seinen Gewinn in der einen Nacht mit dem Gehalt eines Arztes. Die Republik von San Marco zahlte einem gelehrten Arzt 47 Lire di grossi und verlangte dafur von ihm, da? er zwei Schuler halte, monatlich einmal mit anderen Arzten unter dem Vorsitz des Priors zusammenkomme, um uber die Medizin, namentlich uber zweifelhafte Falle, zu disputieren, kostenlos Geringe und diese oder jene Adlige behandele und dafur sorge, da? in den Garten der Guidecca bestimmte Heilkrauter angepflanzt wurden.
        Und er, Pietro Bocco, hatte tausend Dukaten in einer Nacht verdient. Messer Pietro Bocco lachelte uber den kuhnen Vergleich, der ihm eingefallen war und nach seiner Ansicht die Uberlegenheit des Kaufmannsgeistes uber alle anderen Berufe, selbst die gelehrtesten, ausdruckte. Und was verlangte die Republik? spann er selbstgefallig seinen Gedanken weiter. Die Republik verlangte von ihm, da? er sich beim Salzschmuggel nicht erwischen lie?.
        Endlich ging Pietro Bocco weiter, offnete die schwere Tur am Ende des Hurganges und verschwand im geraumigen Gewolbe seines Warenlagers.
        Der Diener zitterte an allen Gliedern. ëIch sage Euch, was ich wei?, junger Herr. Aber dann geht! Ich bitte Euch, geht!» ëDu wei?t also etwas?» fragte Marco schnell.
        ëAbends hielt eine gro?e schwarze Barke vor unserem Haus. Das ist alles, was ich wei?. Doch geht nun, ich bitte Euch, ehe Messer Bocco zuruckkommt! Paolo ist mit der schwarzen Barke weggefahren. Weiter wei? ich nichts, junger Herr. Geht! Der Herr kommt! Ich hore seine Schritte!»
        Marco lief zum Haustor, offnete es und huschte hinaus.
        Mit einer schwarzen Barke ist er weggefahren. Endlich hatte er einen Anhaltspunkt. Das Hoffnungspflanzchen fa?te wieder feste Wurzeln. Und die Uberzeugung, da? sein Oheim ihn belogen hatte, war starker denn je. Er war plotzlich so froher Stimmung, da? er augenblicklich verga?, was er eben im Dunkel des Treppenhauses erlebt hatte.
        ëIch werde dich finden, Paolo», sagte er zu sich selbst, ëdu bist nicht ertrunken. Nein! Ihr lugt, Oheim, ich sage es Euch noch einmal: Ihr lugt!»
        Erst wollte er sofort und ohne weitere Uberlegungen mit der Suche beginnen, aber dann besann er sich, da? es richtiger ware, Giannina von dem Erfolg seiner Bemuhungen zu benachrichtigen. Mit Freude im Herzen lief er nach Hause.
        Giannina, bereit fur die Fahrt nach Murano, erwartete ihn schon sehnsuchtig. ëHast du etwas erfahren?» fragte sie, als sie sein erhitztes Gesicht sah.
        ëPaolo ist mit einer gro?en schwarzen Barke weggefahren, sage es Giovanni! Ich gehe gleich wieder fort, Bruder Lorenzo mu? heute warten. Wir mussen die schwarze Barke finden!» Aufgeregt stie? er die Worte hervor.
        Giannina nahm sie begierig auf. Die bedruckenden nachtlichen Gedanken und Traume verbla?ten im Angesicht des von der Sonne durchfluteten Morgens.
        Am liebsten hatte sie den Freund umarmt. ëWir werden sie schon finden, Marco», sagte sie zuversichtlich.
        Alles ist ruhig ringsumher, das Wasser schimmert wie ein Spiegel und wirft das Licht gegen die Mauern; ein Barcarole, der einen Bogenschu? entfernt auf dem Boden seines Bootes liegt und in den wolkenlosen Himmel starrt, singt mit kraftiger Stimme eine Melodie, zu der er den Text selbst erfindet; eine Barke gleitet vorbei, kaum ist das Platschern des Ruders zu horen.
        Die Hauser stehen stumm, keine Menschenschritte, kein Wagengerassel storen die andachtige Stille inmitten der volkreichen Stadt.
        In der Ferne nimmt ein zweiter Barcarole die Melodie auf und tragt sie weiter zu einem dritten. Frauen offnen die Fenster, treten auf die Balkone hinaus und lauschen dem Gesang, der bald laut und in hellen Tonen jubelnd, bald leise und getragen uber das Wasser schwingt. Die Sanger werfen sich die Worte wie farbig schillernde Balle zu.
        Giannina und Marco hatten keine Zeit zum Lauschen, aber ohne ihren Willen pragte sich das friedliche Bild in ihre Seelen ein.
        Marco dachte daran, da? er fur Giovanni das Kleiderbundel bereitgelegt hatte.
        Er holte es aus seiner Stube und bat Giannina, es dem Freund zu uberreichen.
        Sie stand einen Augenblick, als verstunde sie nicht, was um sie vorging.
        ëFur Giovanni?» fragte sie und strich sich mit einer ungeschickten Bewegung das Haar aus der Stirn. ëDa mu? ich ja gleich gehenÅ»
        ëDenke an die schwarze Barke!» mahnte Marco. ëIch habe nun keine Zeit mehr. Arivederci, Giannina, bis heute abend!»
        Er rief den Sanger, der augenblicklich stille ward, zu sich. Das Boot legte an, und Marco stieg ein. Schnell glitten sie uber das sonnenbeschienene Wasser, verlie?en die Enge des kleinen Kanals und bogen nach mancherlei verschlungenen Wegen in den Canal Grande ein.
        ëViele Barken gibt es, junger Herr», sagte der Barcarole, sein Boot geschickt durch den lebhaften Verkehr steuernd. ëMan kann sie nicht zahlen. Eine schwarze Barke sucht Ihr?» Er zog zum Zeichen des angestrengten Nachdenkens die Stirn in Falten. ëIch kann mich nicht erinnern, eine schwarze Barke gesehen zu haben.»
        In dem Bestreben, seinem Fahrgast gefallig zu sein, schrie er jedem Bekannten zu:
        ëKennst du eine schwarze Barke, Alfredo? Hast du eine schwarze Barke gesehen, Filippo?»
        Aber bevor eine Antwort kommen konnte, waren sie schon aneinander vorbeigefahren. Das wettergebraunte Gesicht des Barcarole sah bekummert aus uber den Mi?erfolg seiner Bemuhungen.
        Marco bat ihn zu schweigen. Nach den Angaben seines Oheims mu?te die Barke ja in den Hafen von San Nicolo eingelaufen sein. ëFahrt zum Lido!» rief er dem Barcarole zu.
        ëZum Lido», wiederholte der Barcarole begeistert. ëWir werden fliegen, junger Herr, noch nie seid Ihr so schnell zum Lido gekommen.» Er tauchte das Ruder ein und bewegte es mit kraftiger Hand. Wie ein Pfeil durchschnitt das schlanke Boot die Fluten.
        Marco kannte die langgestreckte Insel des Lido mit den Hafen von San Nicolo, Tre Porti, Malamocco und Chioggia. Ihre hohen Sanddunen, kunstliche Damme und andere Befestigungsanlagen schutzten die Lagunen vor den Wogen des Adriatischen Meeres. Wie ein gewaltiger Riegel, Naturelementen und Feinden Trotz bietend, lag der Lido vor Venedig. Mehr als einmal war die Sturmflut in die Buchten und Kanale eingedrungen, hatte Teile des Ufers weggerissen und sich mit ihrer ungestumen Kraft gegen die Laguneninseln geworfen. Aber immer wieder verhinderten zupackende Menschenhande, da? die schaumenden Wogen Venedigs marmorne Pracht verschlangen.
        Jeden Morgen fuhren Gruppen von Arsenalarbeitern zum Lido, um die Befestigungsbauten zu verstarken.
        Zur Sommerszeit lag das Meer oft unbewegt und wehrte sich, unwillig seufzend, gegen den schwachen Wind. Die Wellen leckten mit glasernen Zungen an dem wei?en Sand und spielten mit ëMuscheln, Holzstucken und Wasserpflanzen. Viele hundert Segel in allen Gro?en und Formen belebten die schillernde unendliche Wasserflache; und die Monche des Benediktinerklosters gingen mit Sehnsucht im Herzen am Strand spazieren, ahnten die nahen Kusten Istriens und Dalmatiens und begaben sich zur vorgeschriebenen Stunde wieder voll geheimer Traurigkeit in ihre engen, einsamen Zellen.
        Wenn der Sturm das Meer peitschte, lag der Strand wie ausgestorben da. Schiffe und Barken bemuhten sich, noch rechtzeitig die schutzenden Buchten und Hafen zu erreichen.
        Marco kannte die Geschichte der Insel aus den Erzahlungen Bruder Lorenzos. Sie hat gro?e und kleine Feste gesehen. Schon im Jahre 998, als eine starke venezianische Hotte die Dalmatiner besiegt hatte, ordnete der Doge Pietro Orseolo an, da? zur Erinnerung hier jahrlich ein gro?es Fest gefeiert werde.
        Im Benediktinerkloster ruhen seit vielen Jahrzehnten die im ersten Kreuzzug erworbenen Reliquien des heiligen Nikolaus, und jedes Jahr findet eine Wallfahrt Tausender aus Venedig, Malamocco, Pisa, Padua und entfernteren Stadten zum Grabe des Heiligen statt. Die Barcarolen, Bootsbesitzer und Reliquienhandler freuen sich mehr als die Wallfahrer auf diese Zeit, in der ihre Geschafte bluhen wie noch nie.
        Lange war auch die Erinnerung an die Begegnung zwischen Papst Alexander III. und Kaiser Barbarossa im Jahre 1177 lebendig. Die Festlichkeiten, die aus diesem Anla? durchgefuhrt wurden, fanden Tag und Nacht kein Ende und waren nicht mit Worten zu beschreiben.

1202 aber hatte sich der Lido in ein gewaltiges Kriegslager verwandelt. Das Klirren der Rustungen und Waffen war starker als das Brausen des Meeres. Fast vierzigtausend Kreuzfahrer warteten ungeduldig in der sengenden Hitze auf der schmalen, oden Insel, die zu dieser Zeit von den Venezianern gemieden wurde. Nach jahrelangen Verhandlungen mit den Anfuhrern des Kreuzfahrerheeres gab endlich der schlaue Doge Enrico Dandolo das Zeichen zum Aufbruch, nicht nach Palastina, wie der Papst es wollte, sondern nach Zara und Byzanz, wie Venedig, die machtige Republik von San Marco, es wollte.
        Gro?e und kleine Feste hat die Insel gesehen. Lang hingestreckt liegt sie zwischen Meer und Lagune und traumt wohl zuweilen von den vergangenen glanzvollen Zeiten, traumt wie die Herzoge und Arsenalarbeiter, Bettler und Bischofe, Glasmacher und Senatoren von einem gro?en, funkelnden Fest, das an Reichtum, Glanz und verfuhrerischer Schonheit selbst den Anblick des Meeres zur Zeit des Sonnenuntergangs uberstrahlt.
        Marco war im vorigen Jahr mit der Mutter nach San Nicolo gefahren und hatte an der Balestra, dem Armbrustschie?en der Knaben nach Scheiben und holzernen Figuren, teilgenommen. Auch mit Paolo war er dort gewesen. Immer wieder hatte ihn das Meer verzaubert.
        Die Erinnerungen und Gedanken, angeregt durch die Weite des Wassers und das Gleiten des Bootes, stiegen und sanken. Hinter ihnen lag die Piazzetta mit dem Dogenpalast und die Riva della Schiavoni, rechts San Giorgia, und vor ihnen hoben sich die Inseln um San Nicolo aus dem Wasser.
        Marco spahte uber die glitzernden kleinen Wellen, die Fahrzeuge aller Art umspulten: Kauf fahrerschiffe, Galeeren, Schergenboote, Barken, Fischerkahne und bedeckte Boote, die schwimmenden Hauschen glichen. Alle trafen sich auf der breiten Schiffahrtsstra?e, die zu beiden Seiten von Pfahlen eingefa?t war.
        Ein buntes, bewegtes Bild im Sonnenschein.
        Sosehr Marco auch seine Augen anstrengte, konnte er nirgends eine schwarze Barke sehen. Aber gerade das machte ihm Mut. Gab es wirklich diese seltsame Barke, so mu?te sie doch zu finden sein. Er uberlegte schon im voraus, was er in San Nicolo beginnen wurde.


        Der Barcarole schmetterte unbekummert sein Lied uber das Wasser; muhelos, wie es schien, handhabte er das lange Ruder. Er freute sich uber das gute Geschaft. Selten nur gab es einen Fahrgast, der bis zum Lido wollte. Meistens mu?te er sich begnugen, im Gewirr der Kanale von Rialto umherzufahren. Nachher wurde er sich wieder auf den Boden seines Bootes legen und den Himmel, das Wasser und die Madchen besingen.
        Schon war das Leben!
        Eine Gruppe Lasttrager und Seeleute kauerte auf dem Kai und beobachtete gespannt, wie drei Wurfel uber die schmutzigen Steine rollten. Nichts anderes interessierte sie. Zwei gro?e Schiffe mit hohen Masten und ungezahlte Boote und Barken lagen in der Hafenbucht. Hinter dem Mastenwald und den Tauen schimmerte das Wasser. Istrische Matrosen, die im Dienst der venezianischen Flotte standen, schlenderten durch die Gassen.
        Marco sprang an Land und befahl seinem Barcarole zu warten. Er wollte einen Trodler aufsuchen, der mit Altertumern handelte und seinen festen Platz in der Nahe des Hafens hatte. Dieser kannte alle Ereignisse, die im Hafen passierten. Es machte ihm nichts aus, die ganze Nacht aufzubleiben, wenn er mit seiner feinen Nase eine Neuigkeit witterte. Da er mit den Matrosen, wenn sie von weiter Fahrt in den Hafen zuruckkehrten, einen schwunghaften Handel trieb, erfuhr er manches, was gewohnlichen Sterblichen verborgen blieb. Und seine flinke Eidechsenzunge sorgte dafur, da? jedes Ereignis schnell herumgetragen wurde. Wenn je eine schwarze Barke im Hafen von San Nicolo angelegt hatte, dann wu?te es Umberto, der Trodler.
        In einer Gasse, neben dem riesigen Kessel eines Teigmachers, eingehullt von den Rauchwolken des Holzfeuers, befand sich Umbertos Stand, ein einfaches Holzgestell, auf dem Merkwurdigkeiten aus aller Herren Lander ausgebreitet waren. Marco horte die Worte des Trodlers, die wie aus der Armbrust geschossen hervorschnellten. Sieben, acht Manner verdeckten die kleine Gestalt mit dem braunen, faltigen Gesicht und den aufgeregten Armbewegungen. Marco sah auf den ersten Blick, da? er Geduld aufwenden mu?te, bis es so weit sein wurde, da? er Umberto allein sprechen konne.
        Er trat naher an die Gruppe heran und wurde Zeuge eines wutenden Wortgefechtes zwischen Umberto und einem zungenfertigen Kaufer. Es handelte sich um eine antike Buste, der Umberto den Namen des beruhmten romischen Senators Gajus Gracchus, der vor etwa 1400 Jahren gelebt hatte, zulegte. Er schwor bei allen Heiligen, da? er den Kopf von einem Gelehrten erworben habe, der ihn verkaufen mu?te, weil er Geld fur seine Ruckreise nach Neapel brauchte.
        ëGajus Gracchus», hohnte der andere. ëWer glaubt Euch das? Ich kenne die romische GeschichteÅ» Er schlug sich vor die Brust. ëMich konnt Ihr nicht dumm machen, bin selber ein GelehrterÅ»
        ëEin Gelehrter, hort Ihr es, Bruder? Ein Gelehrter will er sein und erkennt nicht einmal das Gesicht des edlen Romers. Jedes Kind wei? es besser als er. Seht doch, diese feinen Zuge, die Lockchen, die hohe StirnÅ»
        ëEine breite zerquetschte Nase hat Euer Kopf, seht Ihr das denn nicht? Die Kinder der Cornelia aber hatten gebogene Nasen», fiel der Zungenfertige ein.
        Die Umstehenden, die nie etwas von Gajus Gracchus oder Cornelia gehort hatten, nickten zustimmend mit den Kopfen. ëWahr ist's, was er sagt», meinte einer und brachte den Trodler vollends in Wut.
        Umbertos Stimme uberschlug sich fast, als er antwortete: ëSeht Euch nur Eure Nase an! Wo hat es so etwas schon gegeben, einen antiken Kopf nach der Nase beurteilen zu wollen?à- Ein Hundefanger seid Ihr und kein Gelehrter!» Verachtlich lachend barg er die Buste an seiner Brust, als wolle er sie vor den entwurdigenden Reden des anderen schutzen.
        Die Umstehenden schlugen sich vor Vergnugen auf die Schenkel und spornten den Zungenfertigen zu gepfefferten Erwiderungen an. Das Wortgefecht, auf beiden Seiten mit heftigen Armbewegungen und komischen Entsetzensschreien begleitet, nahm erst ein Ende, als die Stimmen heiser waren und Umberto dem ëGelehrten» bestatigte, da? er kein Hundefanger sei, aber eine entfernte Ahnlichkeit mit einem Vogelhandler habe, der in Malamocco sein Geschaft betrieb und ihm, Umberto von Zeit zu Zeit einige Bundel Drosseln zum Verspeisen brachte.
        Der Zungenfertige wiederum gab zu, da? der antike Kopf, betrachte man ihn von der Seite, denke man sich an Stelle der breiten eine gebogene Nase und stelle man sich die Stirn etwas hoher vor, zwar nicht Gajus Gracchus, aber vielleicht sein Bruder Tiberius sein konne.
        So endete der Streit zu allseitiger Zufriedenheit. Die beiden Kampfhahne schieden ohne Groll voneinander, und auch die Umstehenden verliefen sich bald danach.
        Marco trat an Umbertos Stand heran. Der Trodler stellte die Buste wieder an ihren Platz und wandte sich dem Knaben zu.
        ëSeid gegru?t, junger Herr. Womit kann ich dienen? Seht, was ich alles habe! Ein Schiff aus indischem Elfenbein mit der Zauberschrift der Unglaubigen am Bug oder hier: eine kupferne Schale vom Hofe des SultansÅ»
        ëNein, Umberto», unterbrach Marco den Redestrom, ëich will nichts kaufen! Eine Auskunft wunsche ich von Euch!»
        ëEine Auskunft?» Des Trodlers Gesicht, eben noch vor Eifer gerotet, nahm einen bedauernden Ausdruck an. Marco warf ihm einige Quattaroli zu.
        ëHabt Ihr in der Nacht, die dem gestrigen Tage vorausging, eine schwarze Barke im Hafen gesehen?» fragte Marco gespannt.
        Umberto dachte nach. Sein braunes Gesicht und die feingliedrigen Hande, die in einsamen Augenblicken liebevoll uber die Schnitzarbeiten der Matrosen strichen, sahen wie die Oberflache eines Schinkens aus, der im Rauchfang hing. Der standige Qualm des Holzfeuers trug wohl die Schuld daran. Marcos Blicke hingen voll Ungeduld und Erwartung, in die sich schon leise Enttauschung mischte, an den nachdenklich gewordenen Augen des Trodlers.
        ëDas war in der sturmischen Nacht?» fragte Umberto. ëGiulio hor mich, Giulio», schrie er, plotzlich wieder lebhaft werdend, dem Nudelmacher zu.
        Giulio nahm die Holzkelle aus dem Kessel und wischte die Hande an der einst wei?en Schurze ab.
        ëHast du in San Nicolo schon eine schwarze Barke gesehen?» fragte der Trodler.
        Marco ahnte, wie die Antwort ausfallen wurde, und wunderte sich nicht, als der dickbauchige, wortkarge Nudelmacher den Kopf schuttelte und gleich wieder in dem Teig herumruhrte, den er fur kleine Munze an Hafenarbeiter, Schiffer und Herumlungerer verkaufte.
        Marcos Hoffnungen waren betrachtlich gesunken. Wenn Umberto nichts wu?te, der Hinke, Allgegenwartige, wer konnte ihm dann noch Auskunft geben? Marco sagte sich, da? die Fahrt nach San Nicolo vergeblich gewesen sei. Es war ein schwieriges Unterfangen, unter den ungezahlten Barken, die Venedigs Gewasser belebten, ausgerechnet die herauszufinden, mit der Paolo gefahren war. Er begann in seiner ersten Mutlosigkeit sogar an den Worten des Dieners von Pietro Bocco zu zweifeln. Hatte der ihm die Wahrheit gesagt oder aus Furcht vor seinem Herrn gelogen, nur um den lastigen Frager loszuwerden? Gab es uberhaupt diese geheimnisvolle schwarze Barke?
        Fragen und qualende Zweifel! Aber Marco war nicht von der Art, da? er die Suche etwa einstellte. Je gro?er die Hindernisse, um so mehr starkte sich sein Wille.
        Die Hafengasse war vom Geschrei der Handler und Passanten erfullt. Die Hauser, zum gro?ten Teil aus Holz gebaut und mit Stroh gedeckt, standen so eng, da? zwei nebeneinanderstehende Manner mit ausgebreiteten Armen die Wande beruhren konnten. Zwischen den Fenstern waren Stricke gespannt, an denen wei?e und bunte Wasche aufgehangt war. Das eine Ende der Gasse mundete in den Hafen, das andere fuhrte in ein Labyrinth verschlungener Pfade. Dunste von gebratenem Fisch, Fleisch und gerosteten Kastanien stiegen auf. Menschen aus den verschiedenen Landern, meistens Seeleute, bewegten sich in der Gasse: Griechen, Mohammedaner, Mohren, Deutsche, Spanier in ihren bunten Trachten. Maultiere, hochbeladen mit allen moglichen Lasten, schritten gemachlich durch den Staub; Gaukler und Sanger versuchten die Aufmerksamkeit Vorubergehender zu erregen; zwei altere Monche schauten wohlwollend lachelnd einer Schar spielender und schreiender Kinder zu - und uber allem war ein schmales Stuck Himmel zu sehen, von dem die Sonne ihre Strahlen in diese enge Gasse sandte, die eine Seite in grelles Licht tauchte und die andere
Seite in kuhlem Schatten ruhen lie?.
        Dieses ganze bewegte, armliche Leben brandete an Marco vorbei. ëIch mu? weiter suchen!» sagte er entschlossen. ëIch kann erst nach Hause gehen, wenn ich sie gefunden habe.» Was soll sonst Giannina denken, fugte er in Gedanken hinzu.
        In Umberto regte sich die Neugierde. ëEine schwarze Barke, sagtet Ihr? Warum sucht Ihr sie?» Seine listigen Augen funkelten.
        Marco gab eine ausweichende Antwort und verabschiedete sich von dem Trodler.
        Da breitete sich vor ihm das Meer in seiner Schonheit aus, ein riesiger schimmernder Edelstein, der die Augen blendete mit der marchenhaften Pracht seiner Farben. Am Strande, vor den Dunen, waren Netze gespannt, zwei alte Fischer knupften die zerrissenen Faden zusammen. Frauen kochten im Schutz eines Sandhugels in einem Kupferkessel Suppe und brieten Fische am Spie?. Sie sangen bei ihrer Arbeit, bis zum Abend wurden sie singen, immer die gleiche eintonige sehnsuchtige Melodie, die die Fischer zu rufen schien. Erst wenn das Echo vom Meer zuruckkam und die Boote zu sehen waren, erstarb der Gesang.
        Die Frauen und Madchen des Lido sangen.
        Und Marco lief uber den feuchten Sand, unmittelbar neben den Wellen, und hinterlie? die Spur seiner Schritte. Der Wind und der Meeresatem wehten ihn an. Bis nach Malamocco kam er, uberall seine seltsame Frage stellend in Fischerhausern, Schenken, Kanzleien, Lagerhausern; selbst die Arbeiter der Salzsiedereien, die wie jeden Abend mude nach Hause gingen und sich kaum um die Schiffe und Barken kummerten, fragte er.
        Spat erst kehrte er nach San Nicolo zuruck. Schon ging die Sonne unter und tauchte Meer und Himmel in feurige Glut. Die Silhouette eines Baumes mit trauernden Zweigen hob sich von dem ergluhenden Hintergrund ab. ëFahrt mich nach Venedig!» rief Marco dem Barcarole zu, der traumend im Boot lag.
        Als Giannina die Erde Muranos betrat und den Geruch der Wiesen und Felder und des wie einen Teppich hingebreiteten Laubes einatmete, milderte sich der Schmerz um Paolo und machte einem zuversichtlichen Gefuhl Platz. Es war, als riefe ihr jemand zu: Keine Angst, Giannina, nun wird alles gut werden.
        Wenn ich nach Venedig zuruckkomme, ist Paolo vielleicht schon wieder da und lachelt uber die Sorge, die wir uns um ihn gemacht haben, dachte sie.
        Murano war weiter und freier als das enge, verwinkelte, laute Venedig. Wohl wurde in letzter Zeit auch in Murano immer mehr gebaut, so da? die Hauserflecken auf der Insel gleichsam zusammenzurucken schienen, aber doch war es im Vergleich zur Rialtoinsel noch weitraumig und erweckte den Anschein kleiner verlorener Dorfer in einer stillen Landschaft.
        Der Senat beriet ein Gesetz, das vorsah, alle Glashutten, die sich noch auf der Rialtoinsel und den umliegenden kleineren Inseln befanden, nach Murano zu verlegen. Murano, das die meisten Glashutten besa?, sollte der Hauptsitz der venezianischen Glasherstellung werden. Fremde Abgesandte und Spione interessierten sich fur die Kunst der Glasblaser und bezahlten hohe Bestechungssummen, um hinter die Herstellungsmethoden zu kommen. Sie bemuhten sich, in ihren Landern die Glasblaserei zu entwickeln, um von den venezianischen Glashandlern unabhangig zu werden.
        Es gab Glasmacher, die den Verlockungen nicht widerstanden und heimlich Venedig verlie?en. In fremden Diensten, besonders in Bohmen und Frankreich, wandten sie dann die erworbenen Kenntnisse an und bildeten Lehrlinge und Gesellen aus. Deshalb wollte der Senat die gesamte Glasindustrie nach Murano verlegen, um eine bessere Kontrolle durchfuhren zu konnen. Gleichzeitig sollten den Glasmachern gro?ere Rechte eingeraumt und hohere Lohne gezahlt werden.
        Murano war in den vergangenen Jahren zusehends gewachsen und wurde auch weiterhin an Bevolkerungszahl zunehmen. Aber noch besa? es seinen landlichen Charakter.
        Leichtfu?ig eilte Giannina an dem auf einem Hugel liegenden Anwesen Messer Celsis vorbei. Sie furchtete sich nicht mehr vor dem hageren Teufel, wunschte aber auch nicht, ihm zu begegnen. Als sie vor ihrem Hause war, bemerkte sie Giovannis Vater im Nachbargarten. Er hatte das Bein weit von sich gestreckt und lie? sich von der Sonne bescheinen.
        ëGiannina, du bist es?» rief er, aufgeweckt durch ihre Schritte. ëDa wird sich Giovanni freuen. Wie lange bleibst du?»
        Das Madchen wurde durch Ernestos Frage wieder an ihre traurige Mission erinnert. Sie setzte sich neben ihn auf die Bank und berichtete, was sich ereignet hatte. Ernesto uberlegte lange, ehe er etwas erwiderte. Er konnte nur schwer begreifen, wie es moglich war, da? ein Mensch so spurlos verschwand. Und da? es ausgerechnet dem kraftigen Paolo geschehen war!
        ëWie kann ich euch nur helfen?» fragte er. ëIch, mit meinem einen BeinÅ»
        Wieder wollte die Bitterkeit in ihm aufsteigen. Aber als er Gianninas trauriges Gesicht sah, bezwang er sich.
        ëMarco schickt fur Giovanni Kleider und Schuhe. Hier sind sie, Onkel Ernesto. Sie sind ihm zu klein geworden und konnten Giovanni passen, meint er.» ëSo!» In Ernestos Gesicht zuckte es. Giannina breitete die Herrlichkeiten auf der Bank aus. ëWenn nur Paolo erst wieder da ware», sagte sie, ëdann ware alles gutÅ Seht nur, die schonen Schnallenschuhe!» ëPacke alles wieder ein, Giannina», sagte Ernesto mit rauher Stimme. Giannina sah ihn uberrascht an.
        Ernesto strich ihr uber das Haar. ëDenkst du denn, Giovanni wurde das annehmen, Giannina?» fragte er leise. Das Madchen errotete.
        ëEr meint es doch gut, Onkel Ernesto», sagte sie zaghaft.
        ëIch wei?, Giannina. Du mu?t es trotzdem zuruckgeben. Sag nur dem jungen Herrn, da? ich selbst Giovanni neue Kleider kaufen werde. Morgen schon! Sag es ihm so, da? er sich nicht verletzt fuhlt!à- Vielleicht wird er es verstehen», setzte er sinnend hinzu.
        Giannina wu?te nicht, was sie erwidern sollte. Und die Sorge um Paolo war wichtiger als alles andere und lie? die Kleidergeschichte schnell in den Hintergrund treten. Sie ging in das Haus ihrer Eltern und bereitete fur sich und Ernesto ein kleines Fruhstuck. Wahrend des Essens berieten sie gemeinsam, was zu tun sei. Giovannis Vater meinte, sie solle gegen Mittag zu Meister Benedetto gehen und dort nach der schwarzen Barke fragen. Etwas anderes konne er ihr nicht raten.
        Schweren Herzens ging Giannina zu dem Freund. Sie wu?te, wie sehr er an Paolo hing. Die Nachricht wurde ihn schwer treffen. Aber es blieb ja nichts anderes ubrig. Sie mu?te ihm sagen, was geschehen war, je schneller, desto besser.
        Als das Madchen, unberuhrt von der Schonheit der Lagune, die kleine Bootswerft im Sonnenschein liegen sah, stand Giovanni gerade bei Meister Benedetto und empfing eine der weisen und lustigen Belehrungen. Der Meister, den erhobenen Zeigefinger noch in der Luft haltend, brach seine Worte plotzlich ab. ëAha», sagte er zu dem nichtsahnenden Giovanni, ëdie Windsbraut kommt. Na, dann lauf nur schnell zu ihr hin.» Sprach's und verschwand in seinem Schuppen.
        Giovanni blickte uberrascht auf. Wie sollte er das nun wieder verstehen? Was meinte der Meister nur? Da gewahrte er Giannina. Sie ging langsam dahin und kam ihm nicht wie sonst freudig entgegengesprungen.
        Er wu?te nicht recht, ob er lachen oder ernst sein sollte. Aber die Freude uber Gianninas Kommen war starker als der Arger uber des Meisters Spott. Soll er nur sehen, da? Giannina meine Freundin ist, dachte er trotzig, alle konnen es sehen, meinetwegen.
        ëDa bist du mal wieder in Murano», sagte er, erstaunt uber den Ernst in ihrem Gesicht. ëHat er dich gehen lassen?» Er verbesserte sich schnell. ëIch meineÅ MarcoÅ la?t er was bestellen?»
        Giannina beachtete seine Verwirrung nicht. In gleichformigem Ton erzahlte sie ihm, warum sie gekommen war. Mit hangenden Schultern stand sie vor ihm, als sie geendet hatte. Der Wind spielte mit ihrem Kleid, und die Sonne schien auf ihr dunkelglanzendes Haar. Die Axtschlage und das Klopfen der Hammer drangen grell in ihr Bewu?tsein.
        Giovanni wischte sich mit dem Handrucken uber die Augen. ëEtwas hineingeflogen», murmelte er und wandte sich ab. Das stach und bi? in seinen Augen!
        ëWir glauben nicht, da? Paolo ertrunken ist. Messer Bocco lugt!» sagte Giannina, um das lahmende Schweigen zu brechen.
        ëNaturlich lugt er», fuhr Giovanni sie an. ëWarte mal, ich habe da etwas im AugeÅ So, jetzt ist es schon besser!»
        Er erzahlte ihr, da? er gestern die schwarze Barke gesehen habe.
        Giannina stie? einen Freudenschrei aus, schlug sich aber gleich auf den Mund, weil sie sich sagte, da? mit der Existenz der Barke ja noch nicht bewiesen war, ob Paolo lebte oder nicht.
        Sie dachten nach, was am besten zu tun sei. Giovanni hielt es fur richtig, wenn sie Meister Benedetto die Geschehnisse von Anfang bis zu Ende erzahlten. Sicher wurde er ihnen dann die Wohnung Kapitan Matteos mitteilen. Giannina stimmte dem Vorschlag zu.
        Meister Benedettos Gesicht sah ungewohnlich ernst aus, als er den Bericht der zwei gehort hatte. Er dachte an den Besuch Kapitan Matteos und sah einige Dinge in anderem Licht: die beschadigte Barke, das zerschlagene Gesicht Matteos und auch dessen, wie er sich jetzt erinnerte, etwas gemachte Heiterkeit. Fragen besturmten ihn. Hing das alles mit dem Verschwinden des Dieners Paolo zusammen? Hatte es einen Kampf zwischen den beiden gegeben, bei dem Matteo den Gegner uber Bord geschleudert hatte?
        Paolo war mit einer schwarzen Barke gefahren und nicht wieder zuruckgekehrt.
        Ein merkwurdiger Zufall hatte Kapitan Matteo nach Murano gefuhrt. Jetzt standen der Junge und das Madchen vor ihm und verlangten einen Rat.
        Meister Benedetto kannte das Leben Kapitan Matteos. Der Freund war einer der geschicktesten Schmuggler, dem man aber, obwohl er sein Geschaft schon einige Jahre betrieb, noch nie das mindeste hatte nachweisen konnen. Das wu?te Benedetto, und es war in seinen Augen kein Verbrechen. An diesem Geschaft beteiligten sich insgeheim auch die Herren, die im Gro?en Rat mit scheinheiligen Reden die strengste Bestrafung der Schmuggler forderten. Nur verstanden sie es, im Hintergrund zu bleiben.
        Hatte sich Matteo zu einem Mord hinrei?en lassen? Das war die Frage, die Meister Benedetto zu ernstem Nachdenken veranla?te. Er konnte sich das nicht vorstellen; denn er wu?te, da? Matteo sich trotz seines abenteuerlichen Lebens seine gutmutige Natur bewahrt hatte. Vielleicht war er angegriffen worden und hatte sich seiner Haut wehren mussen?
        Er war den Kindern, die unruhig vor ihm standen, eine Antwort schuldig. Er durfte nicht langer schweigen. So entschlo? er sich endlich, mit ihnen zu reden. ëKommt!» sagte er.
        Giovanni und Giannina folgten ihm ins Freie. Das lange Schweigen des Meisters hatte besonders bei Giovanni ein beklemmendes Gefuhl wachgerufen.
        ëIch werde euch beschreiben, wo Kapitan Matteo wohnt», sagte Meister Benedetto. Mit der Fu?spitze zeichnete er ihnen den Weg in den Sand.


        ëGeht zu ihm», sagte Meister Benedetto, noch immer mit dem gleichen ernsten Gesicht. ëAm besten morgen fruh. Heute abend werdet ihr ihn nicht mehr antreffen. Und bestellt, da? ich es war, der euch zu ihm geschickt hat. Sagt, ich wolle genau wissen, wie sich das alles verhielte. Und redet mit keinem daruber.»
        Mit schleppenden Schritten ging er in den Schuppen zuruck, suchte in den Holzspanen nach seinem Krug und trank einen Schluck.
        Giannina verabschiedete sich von ihrem Freund. Obwohl sie nun endlich wu?te, wo die schwarze Barke zu finden war, war ihr Herz nicht leichter geworden. Sie hatte Angst, da? sie morgen eine schreckliche Nachricht erfahren wurden, wollte es aber Giovanni nicht merken lassen und sagte mit gespielter Munterkeit:
        ëDa werde ich jetzt gehen. Das Wichtigste haben wir ja erfahren.»
        ëJa», erwiderte Giovanni, ëgeh nur zuruckÅ Es ist wie im Sommer heute, man mochte den ganzen Tag im Freien sein.»
        Als Giannina gegangen war, stand er lange gedankenverloren da und starrte vor sich hin.


        Marco kam in den spaten Abendstunden niedergeschlagen zuruck. Maria lie? ihn ein.
        ëMesser Pietro Bocco ist hier gewesen», sagte sie. ëEr kam von Bruder Lorenzo und schien sehr bose zu sein, weil Ihr nicht im Hause wart.»
        Marco sah im Schein des Leuchters ihr verweintes Gesicht und unterdruckte eine heftige Bemerkung. Er wu?te, wie sehr sie sich um Paolo gramte.
        Kommt nur, Oheim, dachte er voll Zorn, ich werde Euch die richtige Antwort geben. Aber die Kampfbereitschaft, die er sich einreden wollte, war nicht echt. Das vergebliche Suchen lastete auf ihm. ëGiannina schlaft wohl schon?» fragte er. ëSie wartet auf Euch, junger Herr.» Langsam stieg Marco die Treppen hinauf.
        Sie stand am Fenster, als er in die Stube trat. Auf den ersten Blick bemerkte sie, da? er nichts erreicht hatte.
        ëEndlich kommst du», sagte sie, froh, da? die Stunden des qualvollen Wartens vorbei waren und sie ihm eine gute Nachricht geben konnte. Die Kleider, die fur Giovanni bestimmt gewesen waren, hatte sie zuruckgebracht und wieder in die Truhe gelegt. Sie wollte in diesen Stunden nicht daruber reden. ëIch werde morgen weiter suchen», sagte Marco.
        Das Madchen trat schnell auf ihn zu. ëGiovanni wei?, wo die schwarze Barke ist», sagte sie lebhaft. ëMorgen gehen wir zu Kapitan Matteo, er ist der Besitzer der Barke.»
        Marco konnte sich gar nicht so recht freuen.
        Vielleicht war er zu mude dazu?



        KAPITAN MATTEO

        DIE SCHWARZE BARKE LAG, VOR NEUGIERIGEN Augen geschutzt, in der Ausbuchtung eines schmalen Wasserlaufes jenseits des Canal Grande. In dem Hause hinter einem Gartchen wohnten zwei Familien: Kapitan Matteo mit seiner Frau Lucia und ein Terrazzoschlager mit drei gro?en Sohnen und einer funfzehnjahrigen Tochter. Das Haus gehorte wie viele andere der Republik. Die monatliche Miete war hoch; das Einkommen der Republik ar Mieten betrug jahrlich fast eine Million Dukaten. Wer nicht rechtzeitig zahlte, wurde auf die Stra?e gesetzt. Kapitan Matteo hatte dem Terrazzoschlager mehr als einmal mit kleineren und gro?eren Summen ausgeholfei.
        In dem ungepflegten Garten bluhte zwischen wucherndem Unkraut eine hochstielige gelbe Blume. Unbekummert um das herbstliche Sterben entfaltete sie ihre Blutenblatter mit jedem Tag schoner. Es war einer jener idyllischen Winkel, die den Eindruck eines stillen, weltabgelegenen Dorfchens inmitten des bewegten venezianischen Lebens erweckten. Das Haus, zu beiden Seiten von Wasser begrenzt, war nur mit dem Boot zu erreichen.
        Kapitan Matteo lag auf dem Bett und walzte sich stohnend auf die andere Seite. Durch die Ritzen der Fensterladen schien die Sonne ins Zimmer. Er wollte versuchen, noch ein wenig zu schlafen. Seine Arbeit begann erst am Abend. Selten fuhr er tagsuber mit der Barke hinaus. Er uberlegte sich, ob es nicht richtiger sei, den Anstrich der Barke wieder zu andern. Der Vergleich Meister Benedettos, sie sahe einem Sarg mit Segeln ahnlich, hatte ihn sehr getroffen.
        Seine Frau klapperte in der Kuche mit dem Geschirr. Gerausche, die ihn sonst nicht storten, machten ihn jetzt unruhig und argerlich. Er ahnte, da? sein nachtliches Erlebnis die Ursache fur seine Gereiztheit war, wollte es aber nicht zugeben. Es geschah in der letzten Zeit oft, da? er uber sein vergangenes Leben nachdachte.
        Wirst du alt, Kapitan Matteo? fragte er sich.
        Er schlo? die Augen und sank in einen Dammerzustand. Und wieder tauchten die Bilder der Vergangenheit auf.
        Als er achtzehn Jahre alt war, verlie? er zum erstenmal seine Vaterstadt. Er war Matrose auf einem Kauffahrerschiff. Sie segelten um Sizilien und hielten Kurs auf die franzosische Kuste. Der Schiffszwieback bekam ihm gut, und die schwere Arbeit erledigte er spielend. Schon damals wagte keiner, mit ihm anzubinden, und er selbst suchte keinen Streit. Sie lagen acht Tage im Hafen von Massilia und segelten von dort in die spanischen Gewasser. Ein furchtbarer Sturm, der hei? und gewaltig vom schwarzen Erdteil her wehte, warf das Schiff gegen die Felsen der Steilkuste. Nur zwei kamen mit dem Leben davon: Matteo und der Steuermann. Der junge Matrose wanderte durch Spanien und wurde nach mancherlei abenteuerlichen Begebenheiten Soldat in der Leibgarde des spanischen Konigs.
        Eigentlich war vieles gegen seinen Willen geschehen oder, ehrlicher gesagt: Er hatte sich treiben lassen, jedes Abenteuer freudig begru?t und nicht lange nachgedacht, obwohl sein Verstand besser arbeitete als der vieler Gefahrten, die er unterwegs kennenlernte. Hinzu kamen seine korperlichen Krafte, die ihm unbemerkt viele Hindernisse aus dem Wege raumten.
        Sein Leben war nicht so gewesen, da? er Grund hatte, sehr zufrieden damit zu sein. Er hatte eigentlich nichts Besonderes geleistet. Die strenge Ordnung und der eintonige Dienst als Soldat des spanischen Konigs gefielen ihm nicht. Er war jung und unruhig, und seine Heimatstadt hie? Venedig. Ihr Name war in aller Munde. In Venedig lebten seine Eltern. Der Vater war als Sohn eines Bauern in seiner Jugend von der Terra ferma in die Stadt gezogen und hatte nach muhevoller Arbeit und durch eine gute Heirat eine kleine Kunstschmiedewerkstatt erworben. Er schmiedete Gitter fur Vorgarten und fur offentliche Zisternen. Und im Nachbarhaus wohnte die blonde Lucia, die noch ein Kind gewesen war, als Matteo in die weite Welt reiste. An alles das mu?te Matteo denken, als er in der bunten Uniform steckte. Und so kam es, da? dem spanischen Konig eines Tages ein stattlicher Soldat fehlte.
        Matteo kehrte nach Venedig zuruck. Als der Vater starb, verkaufte er die Werkstatt und erwarb eine Warenbarke.
        Lucia wurde seine Frau.
        Wie lange lag das alles zuruck, und wie hell lebte es noch in der Erinnerung! Hatte er wirklich nichts Besonderes geleistet? Im Seekrieg gegen Genua, als sich die Republik in hochster Gefahr befand, war er einer der tapfersten Matrosen gewesen, der die Soldaten auf den feindlichen Schiffen in Furcht und Schrecken versetzt hatte.
        Die Gedanken eilten durch die Vergangenheit, erklommen steile Gipfel und verweilten in grauen Niederungen.
        Wer war er denn heute? Einer, der sich Kapitan nennen lie?, der im Alter eitel geworden war? Funfzig Jahre war er alt, noch immer stark und gewandt, uber eine Schar von Schmugglern gebietend, geschutzt durch die Gunst hoher Herren, die seine Dienste in Anspruch nahmen.
        Der Kapitan Matteo!
        Drau?en schien die Sonne. Die schwarze Barke ruhte in der engen Bucht, und eine gelbe Blume bluhte zwischen uppig wucherndem Unkraut.
        Was hatte ihn gehindert, Kapitan auf einer stolzen venezianischen Fregatte zu werden? Verstand er nicht mehr von der Seefahrt als mancher, der sich Kapitan nannte?
        Ja, wenn er der Sohn eines reichen Patriziers gewesen ware! Doch es lohnte sich nicht, daruber nachzudenken. Zum Teufel damit!
        Ein traumloser, fester Morgenschlaf vertrieb die Gedanken und Erinnerungen.
        Als Lucia die Tur offnete und seinen Namen rief, tonte ihr als Antwort ein lautes Schnarchen entgegen. Sie ging in die Kuche zuruck und zuckte bedauernd mit den Schultern.
        ëIhr mu?t euch noch etwas gedulden», sagte sie zu Marco, Giovanni und Giannina, die eben gekommen waren und erklart hatten, da? sie unbedingt Kapitan Matteo sprechen mu?ten, es handele sich um eine wichtige Angelegenheit.
        Zwischen den dreien hatte es heute morgen einen Streit gegeben, weil Marco und Giovanni die Freundin nicht mitnehmen wollten. Sie meinten, es sei zu gefahrlich fur ein Madchen, sie solle lieber zu Hause bleiben. Giannina hatte ihnen tuchtig die Meinung gesagt und sich nicht abweisen lassen. Bald sollte sich zeigen, wie recht sie gehabt hatte.
        Sie standen nun in der Kuche herum und wu?ten nicht, was sie anfangen sollten. Was sie sahen, war eigentlich dazu angetan, das anfangliche Herzklopfen zu beruhigen. Sie hatten sich den Empfang anders vorgestellt. Lucia war eine gro?e, schone Frau mit mutterlichem Gesicht, die ganz alltagliche Dinge verrichtete und auch eine ganz alltagliche Neugierde uber den merkwurdigen Besuch an den Tag legte.
        Giannina fa?te als erste Mut. ëKonnt Ihr den Kapitan nicht wecken?» fragte sie bittend, ëes ist wirklich sehr wichtig, Ihr konnt es glauben.»
        ëWas wollt ihr nur von ihm?» Lucia putzte den Kupferkessel mit Sand und Essig blank, da? man sich darin spiegeln konnte. ëWenn ihr mir das erzahlen wurdet, konnte ich ihn vielleicht weckenÅ»
        Marco warf Giannina einen warnenden Blick zu. Sie wandte sich entrustet weg. Glaubte er vielleicht, da? sie ein Sterbenswortchen verraten wurde? Es war doch ausgemacht, da? sie mit keinem anderen, nur mit Kapitan Matteo sprechen durften.
        ëIhr tut so geheimnisvoll», sagte Lucia, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, ëund dann verlangt ihr, da? ich meinen Mann wecke. Hort ihr denn nicht, wie er schnarcht? Am besten ist's, ihr kommt gegen Mittag noch einmal wieder.» Aber die drei erklarten, in der Kuche warten zu wollen, wenn die Frau es gestatte.
        ëMeister Benedetto aus Murano schickt uns namlich», kam es aus Gianninas Munde. Sie sah triumphierend auf die beiden Jungen: Seht, wenn ich nicht mitgekommen ware! Ihr steht ja da wie die Stockfische.
        ëSo, der Meister Benedetto schickt euch! Und gleich drei Boten auf einmal!» Lucia unterdruckte ein Lacheln. Sie stellte den Kessel auf den Tisch und wischte sich die Hande ab.
        ëDann werde ich versuchen, ihn wachzukriegen», sagte sie, entwaffnet durch die Beharrlichkeit. ëSetzt euch solange!»
        Schweigend sa?en sie nebeneinander auf der Bank. Was wurden die nachsten Augenblicke bringen? Erst jetzt kam ihnen wieder zum Bewu?tsein, warum sie gekommen waren. Bald wurden sie erfahren, was mit Paolo geschehen war.
        Sie horten, wie im Nebenzimmer eine drohnende Ba?stimme erstaunt fragte: ëDrei Kinder? Deshalb weckst du mich?» Die Antwort der Frau war nicht zu verstehen.
        ëWenn er nun nicht mit uns sprechen will?» flusterte Giannina. Die Jungen sahen mit verschlossenen Gesichtern vor sich hin.
        ëEr mu?!» pre?te Marco zwischen den Zahnen hervor. ëSonst soll er mich kennenlernen!»
        Nach einer Weile kam Lucia zuruck. ëEs war gar nicht einfach, ihn wachzukriegen. Wenn er schlaft, dann schlaft er. Aber nun habt ihr euren Willen. Geduldet euch noch einen Augenblick, er wird euch gleich rufen.»
        Sie nahm wieder den Kupferkessel in die Hand, wischte mit einem Lappen den Putzsand ab und hielt ihn gegen das Licht.
        ëIch bin gespannt, was ihr auf dem Herzen habt», sagte sie mit einem letzten Versuch, aus den Kindern etwas herauszulocken, ëes mu? ja wirklich eine wichtige Sache sein.» Sie sah sie erwartungsvoll an.
        Die drei schwiegen. Jeder versuchte auf seine Weise, die zaghafte Hoffnung durch zuversichtliche Gedanken zu starken. Aber es gelang ihnen nicht. Mit gespannten Sinnen lauschten sie auf die Gerausche im Nebenzimmer.
        Auf dem Kaminsims stand ein Stundenglas. Unendlich langsam tropfte das Wasser in den unteren Glasbehalter. Giannina konnte den Blick nicht abwenden. Sie verfolgte, wie der Tropfen sich bildete, sich wie eine winzige Seifenblase ausweitete und schlie?lich von dem Glaszapfen loste.
        Ewigkeiten schienen zu verrinnen.
        Sie schrak zusammen, als sie plotzlich eine drohnende Stimme horte: ëKommt rein!»
        Hastig gingen die drei in das Nebenzimmer. Sie mu?ten sich an das dammerige Licht gewohnen. Vor dem kleinen Fenster, das zum Garten hinausfuhrte, stand ein Pfirsichbaum, der trotz der vorgeruckten Jahreszeit sein Laub noch trug. Dahinter war die Bordwand der schwarzen Barke zu sehen.
        Kapitan Matteo stand in der Mitte des Zimmers. Giannina erschrak uber die machtige Gestalt mit dem verquollenen Gesicht. Er sah auch wirklich furchteinflo?end aus. Das rechte Auge lugte durch einen schmalen Spalt hervor, boshaft blinzelnd, wie es den dreien schien.
        Stirn, Augenbraue und Schlafe waren so bunt gefarbt wie die weinselige Knollennase. Die Jungen bemuhten sich, die Furcht, die sie mit Krallenfingern packte, abzuschutteln.
        Der erste Schreck legte sich, als Kapitan Matteo zu sprechen begann. Durch seine Worte schimmerte die ihm eigene Gutmutigkeit.
        ëTretet nur naher!» forderte er sie auf. ëDa ist ja ein hubsches Madchen mitgekommen. Wie hei?t du denn, mein Tochterchen?» ëGiannina!» sagte sie und atmete befreit auf.
        ëUnd ihr beiden Helden?» wandte sich Kapitan Matteo an die Jungen. Diese, uberrumpelt durch die schnelle Frage, antworteten folgsam: ëMarco.»
        ëGiovanni.»
        ëGiannina, Marco, Giovanni», wiederholte er, ënun kenne ich euch wenigstens. Aber jetzt sagt mir, warum ihr mich aus dem Bett herausgeholt habt?»
        Er sah nachdenkend auf Giovanni und erinnerte sich, da? er das feine Gesicht des Jungen bei Meister Benedetto gesehen hatte. ëWir kennen uns doch», sagte er gemutlich. Der Besuch der drei bereitete ihm sichtlich Freude. Er konnte ja nicht ahnen, was fur peinliche Fragen sie ihm bald stellen wurden, sondern glaubte, da? sie irgendeine Botschaft von Murano brachten. Vielleicht hatte Meister Benedetto das Fa?chen Wein so gut gemundet, da? er ein neues wunschte. Ein behagliches Schmunzeln breitete sich auf seinen beweglichen Zugen aus.
        Marco rausperte sich energisch. ëIhr seid der Kapitan Matteo?» fragte er.
        Matteos Zyklopenauge vergro?erte sich; Spott funkelte darin. ëHoho», erwiderte er, ëdu fragst wie Seine Durchlaucht vom hochsten Gericht, mein Sohn.» Er verbeugte sich leicht. ëIch bin der Kapitan Matteo. Was steht zu Diensten?»
        Giannina mu?te trotz der ernsten Situation lacheln, wurde aber gleich wieder ernst.
        ëUnd die schwarze Barke gehort Euch?» fragte Marco unberuhrt weiter.
        Kapitan Matteos Blick wurde nachdenklich. Er trat an Marco heran und legte die Hand auf seine Schulter. Eine breite, kraftige Hand, die die Partie vom Hals bis zum Oberarmansatz umschlo?.
        ëNun sag schon, was du willst, mein Junge. So redet man nicht mit Kapitan Matteo, selbst wenn man feine Kleider tragt.»
        Marco wollte aufbrausen. Die breite Hand druckte ein ganz klein wenig; und das kluge, ruhige Auge sah ihn vaterlich-verstandnisvoll an. Nicht aufregen, mein Junge, schien es sagen zu wollen. Marco blieb ruhig.
        Alles macht er verkehrt, dachte Giannina. Und Giovanni steht da und sagt kein Wort.
        ëKapitan Matteo», sagte sie, ëwir sind doch so in SorgeÅ und Meister Benedetto meinte auchÅ» Sie spurte, wie ihr die Tranen in die Augen stiegen. Schluchzend sprach sie: ëSagt uns doch, wo Paolo geblieben ist!»


        Giannina konnte nicht weitersprechen, sie hatte nicht einmal die Kraft, das tranenuberstromte Gesicht mit den Handen zu verdecken. Der ganze Schmerz der vergangenen Tage flo? mit den Tranenperlen uber ihre Wangen.
        Kapitan Matteo trat ans Fenster. Seine Gestalt verdeckte es.
        Dammerlicht erfullte das Zimmer. Unmerklich bewegten sich drau?en die Zweige des Pfirsichbaumes. Der Sohn des Terrazzoschlagers pfluckte die gelbe Blume ab und pfiff dabei ein Lied.
        Giannina schluchzte lauter und verbarg das Gesicht. Die Haare fielen auf ihre Hande, die wei? durch das glanzende Schwarz leuchteten.
        Das ist es also, dachte der Mann am Fenster. Sie wollen wissen, was aus Paolo geworden ist. Ja, wenn ich das wu?te! Warum ist er ins Wasser gesprungen? Er trommelte mit den Knocheln gegen die Scheibe.
        ëWeine nicht», sagte Giovanni und legte den Arm um die Schultern des Madchens.
        Marcos Herz verschlo? sich vor den vielen Gefuhlen, die ihn bewegten.
        Plotzlich wurde die Tur geoffnet, und Lucia trat in das Zimmer. ëIch horte doch, da? jemand weint! Was hast du angerichtet, Matteo», sagte sie entrustet und beugte sich uber das Madchen. ëWarum weinst du denn?» Mutterlich besorgt sah sie Giannina an.
        Kapitan Matteo drehte sich um. ëLa? sie nur, Lucia», sagte er, ëkeiner hat ihr etwas getan. Sie hat wohl einen gro?en Schmerz erlebt, da ist es besser, wenn sie weintÅ Geh nur wieder in die Kuche. Wir haben hier noch etwas zu bereden.»
        Lucia sah ihn fragend an.
        ëGeh nur», wiederholte er. ëIch erzahle dir nachher, was geschehen ist.»
        Kopfschuttelnd ging Lucia hinaus.
        Giannina wischte sich die Tranen ab. ëIch weine nicht mehr», sagte sie, ëbestimmt werde ich nicht mehr weinen.» Sie spurte am ganzen Korper einen feinen, ziehenden Schmerz, und in ihrem Kopf pulste aufgeregt das Blut durch die Adern. Jetzt hatte sie die Gewi?heit gewonnen, da? sie eine bose Nachricht erhalten wurden.
        Auch in Giovannis Augen, die auf Kapitan Matteo gerichtet waren, dunkelte bange Furcht.
        ëIch werde euch erzahlen, wie alles geschehen ist», sagte Kapitan Matteo. ëVorher mu?t ihr mir versprechen, mit keinem daruber zu reden, au?er mit Meister Benedetto.»
        Er sah sie der Reihe nach ernst und prufend an.
        Sie nickten schweigend. Eine tiefe summende Stille erfullte den Raum. ëWer war denn eigentlich dieser Paolo?» fragte der Kapitan, bevor er die Geschichte erzahlte. ëWie kam er zu Pietro Bocco? Er hat mir gut gefallen, euer Paolo, das konnt ihr mir glauben.»
        ëIch habe ihn zu Pietro Bocco geschickt», erwiderte Marco leise. ëPietro Bocco ist mein Oheim, und Paolo dient in unserem Hause.» Eine Schuld wuchs wie ein Berg vor ihm auf.
        Kapitan Matteo sah die Qual in Marcos Gesicht. Sein Groll, den er anfangs gegen ihn gehegt hatte, war verschwunden. ëDu konntest ja nicht wissen, was geschehen wurde», sagte er, ëbrauchst dir keine Vorwurfe zu machen.» ëPaolo war unser Freund», sagte Giovanni.
        ëEr ware auch mein Freund geworden.» Kapitan Matteo sah uber die Kopfe der Kinder hinweg. ëOder glaubt ihr das etwa nicht?» fragte er. ëHier!» Er deutete auf sein Gesicht. ëDas sind die Spuren seiner Fauste. Trotzdem sage ich: Er ware auch mein Freund geworden!» Fast bittend sah er in die Gesichter der drei. Er wunschte, da? sie seinen Worten Glauben schenkten.
        ëAber so sagt uns doch, was geschehen ist!» rief Giannina verzweifelt. ëIhr sprecht von Paolo, als kame er nie mehr zuruck. Lebt er denn noch, Kapitan Matteo? Ich weine doch nicht. Nein, ich weine nicht!»
        Lautlos rannen die Tranen uber ihre Wangen.
        Kapitan Matteo setzte sich schwer auf die Bank und begann die Geschichte der sturmischen Nacht auf der Lagune zu erzahlen, zogernd zuerst die Worte setzend, dann in Feuer geratend und die Rede mit Handbewegungen unterstreichend. Er verschwieg lediglich, da? er verbotenes Gut fur Pietro Bocco befordert hatte. Da er aber die Wettfahrt mit der Schergenbarke geschildert hatte, konnte man sich die Zusammenhange denken. Eine Frage, die Marco stellte, wehrte er mit einer muden Handbewegung ab. Er sa? wie ein Angeklagter auf seiner Bank, die breiten Schultern vorgeneigt und den Kopf in die Hande gestutzt.
        In Marco regte sich wieder der Ha? gegen seinen Oheim, der die Schuld an allem trug. Kapitan Matteo richtete sich auf. ëNun wi?t ihr, wie es gewesen ist.» Er uberflog mit einem schnellen Blick die Gesichter. Giovanni stand unbeweglich auf seinem Platz und lie? die Arme hangen. Es war ihm zumute wie damals, als die beiden Manner die Nachricht vom Unfall des Vaters gebracht hatten.
        ëLa? den Mut nicht sinken», sagte Kapitan Matteo zu ihm. Er beugte sich vor und sah ihn eindringlich an. ëDu, mit deinen hellen Augen!»
        Giovanni erwiderte nichts. Was sollte er auch antworten? Paolo war verschwunden, und keiner wu?te, ob er noch lebte. Keiner wu?te es. ëMeint Ihr, da? er an Land gekommen ist?» fragte Marco.
        Kapitan Matteo nickte. ëIch werde ihn suchen lassen, uberall. Seid nicht mehr traurig. Eines Tages wird euer Paolo wieder auftauchen. Ihr konnt immer zu mir kommen, wenn ihr Lust habt.»
        So endete der Besuch bei Kapitan Matteo. Giovanni, der allein nach Murano zuruckfuhr, klammerte sich an diese Worte: Eines Tages wird euer Paolo wieder auftauchen. Sie gaben ihm die Kraft, den eigentumlichen Zustand der Gleichgultigkeit und Gedankentragheit zu uberwinden.



        EINSAMKEIT

        TAGE UND NACHTE VERGINGEN. EIN NOVEMBER-morgen brach an. Die Nebel lagen uber Land und Wasser und krochen an Uferboschungen, Baumen und Hausermauern empor. Immer weiter und durchsichtiger spannten sich ihre Schleier, die die Menschenwelt auf den Inseln der Lagune einhullten, bis sie, von Sonnenstrahlen zerrissen, wie ein Spuk verschwanden.
        Die Handler fuhren mit ihren Kahnen zu den Markten. Dienstmagde und Kammermadchen bemuhten sich um das Wohlergehen ihrer Herrschaften, die sich, ermudet von den Unterhaltungen des Karnevals, schlecht gelaunt in ihren Betten rekelten. Ein neuer Tag!
        Kein Zweig bewegte sich an dem Kastanienbaum im Hof, kein Blatt fiel zur Erde. Von Sonne uberflutet, stand er bewegungslos, rings von dem Stein und Holz der Hauser umgeben, diese wieder durch Kanale von anderen Hausern, Baumen, Garten abgetrennt. Eine kleine Insel zwischen den Inseln.
        Der Herbst des Jahres 1268 hatte bisher nur wenig Sturme gebracht.
        Marco befand sich allein in seinem Zimmer. Er war seit dem Besuch bei Kapitan Matteo oft allein. Giannina ging ihm aus dem Wege. Traf er sie einmal zufallig und wollte sich mit ihr unterhalten - er verspurte oft das Verlangen danach - hatte sie schnell eine Ausrede bereit. ëIch mu? ja das Zimmer noch aufraumen» oder: ëEntschuldige, die Wasche!» und: ëAch, der Tisch mu? gescheuert werden!» Er kannte jeden Zug ihres Gesichts, jede Bewegung ihres Korpers und wu?te genau, was echt und unecht war in ihrem Mienenspiel. Sie lief dann in gespielter Geschaftigkeit davon, huschte zur Tur hinaus und - atmete auf, wenn sie endlich drau?en war, wenn sie ihn nicht mehr anzusehen brauchte.
        So war es!
        Sollte sie ihm doch ehrlich sagen, wie ihr um das Herz war. ëLa? mich in Ruhe, Marco. Ich will nichts mehr von dir wissen.» Das genugte ihm schon. Er wurde es ihr nicht einmal ubelnehmen. Eine Antwort hatte er sich schon viele Male zurechtgelegt: ëSchon, da? du mir das sagst, Giannina. Vielen Dank auch dafur. Ich wunderte mich schon, da? du so geziert daherlaufst, wenn ich in deine Nahe komme.» - An dieser Stelle wurde er spottisch lachen.à- ëAber ich will dir einen Rat geben, einen freundschaftlichen Rat: Kummere dich nicht mehr um mich. Ich habe jetzt sowieso an viele Dinge zu denken, die du nicht verstehst. Also mach nur deine Arbeit, Giannina; ich, fur meine Person, werde dich nicht mehr belastigen. A rivederci!»
        Diese Worte wurde er in uberlegenem Ton sagen und dann, schon an der Tur, noch gro?mutig hinzufugen: ëNach Murano kannst du jederzeit fahren, brauchst mich nicht zu fragen. Gru?e auch Giovanni schon von mir.
        Ein neuer Tag, der ebenso alltaglich und leer begann wie die anderen Tage nach Paolos Verschwinden.
        Marco war ohne Gianninas Wissen noch zweimal bei Kapitan Matteo gewesen und hatte gefragt, ob er etwas Neues erfahren hatte. Nichts! Die schwarze Barke hatte inzwischen einen anderen, freundlichen Anstrich bekommen. Es sei eine Riesenarbeit gewesen, die schwarze Farbe abzukratzen, hatte Kapitan Matteo gemeint. Und Marco solle trotz allem nicht den Mut verlieren; denn nach den Erkundigungen, die Kapitan Matteos Schmugglerschar angestellt habe, sei nirgends eine Leiche an den Strand des Lido geschwemmt worden.
        Marco hatte die Verlegenheit in des Kapitans Worten gespurt. Er war, ohne Trost gefunden zu haben, weggegangen. Giannina hatte er nichts von diesem Besuch erzahlt, weil er sie nicht traurig stimmen wollte.
        Marco setzte sich an den Fruhstuckstisch und a? ohne Appetit. Schweigend lie? er es geschehen, da? Maria abraumte. Auch Maria hielt sich, wie es schien, von ihm fern. Fruher hatte sie gern mit ihm geplaudert. Jetzt kam es selten uber ein ëJa, junger Herr!», ëNein, junger Herr!» hinaus.
        Er breitete seine Schreibutensilien aus, nahm den Federkiel zur Hand und begann sich darin zu uben, seine Gedanken und Beobachtungen niederzuschreiben. Die Unterrichtsstunden bei Bruder Lorenzo besuchte er nur noch unregelma?ig, und der Alte war argerlich daruber. Auch Tiberius, der Pudel, hatte darunter zu leiden; es kam vor, da? Marco sogar verga?, die begehrten Knochen mitzubringen. Er hatte seine Besuche bei Bruder Lorenzo nicht deshalb eingeschrankt, weil sein Interesse an den Wissenschaften erloschen war, sondern weil Pietro Bocco ihm mit heftigen Worten befohlen hatte, die Unterrichtsstunden punktlich einzuhalten. Er spurte instinktiv, da? sich hinter Pietro Boccos Interesse an seinen Studien eine besondere Absicht verbarg, die bestimmt nicht der Fursorge um das Fortkommen des Neffen entsprang.


        Hinzu kam, da? Bruder Lorenzo mehr und mehr Gewicht auf das Auswendiglernen von Klosterregeln und Psaltern legte, stundenlang von dem Leben der Kirchenvater und Heiligen erzahlte und in beredten Worten das gottesfurchtige Leben in den Klostern pries. Einmal war Marco wahrend des Unterrichts eingeschlafen und erst durch die zornige Stimme des Alten und Tiberius' Bellen aufgeweckt worden.
        Marco liebte es, allein an seinem Tisch zu sitzen und das gelbe Papier mit den krausen Buchstaben zu bedecken. Es war schwierig, das auszudrucken, was in ihm und um ihn geschah. Aber er lie? in seinen Ubungen nicht nach und merkte, wie es von Tag zu Tag besser ging. Da hatte er zum Beispiel seine Fahrt mit dem Barcarole zum Lido geschildert. Als er es jetzt noch einmal durchlas, empfand er mit Stolz, wie gut es ihm gelungen war.
        Das Gro?artige beim Schreiben bestand darin, da? man auf dem Papier fur alle Zeiten aufbewahren konnte, was einst nur ein fluchtiger Gedanke im Kopf eines Menschen gewesen war.
        Es gab ubrigens in den Blattern, die er jedesmal sorgsam verschlo?, auch Beschreibungen einzelner Erlebnisse in Murano. Hier und da konnte man die Namen ëGiannina» und ëGiovanni» finden. Er hatte es den Freunden gern einmal vorgelesen, aber wie sie jetzt miteinander standen, war das wohl nicht moglich.
        Das Alleinsein hatte gute und schlechte Seiten.
        Der Herbst war bald voruber, und auch die kurzen Wintermonate wurden vergehen. In dieser Zeit war noch viel zu tun, damit bis zum Fruhjahr alles vorbereitet war fur die gro?e Fahrt.
        Paolo, mit dem er sich hatte beraten konnen, war nicht mehr bei ihm. Vielleicht ware er sogar mitgekommen. Auf jeden Fall ware er der einzige gewesen, dem er sich hatte anvertrauen konnen.
        Er hatte nun keinen Menschen mehr. Nur Pietro Bocco kummerte sich in aufdringlicher Weise um ihn. Der, den er ha?te, kummerte sich um ihn.
        Marco legte die Ellenbogen auf den Tisch und stutzte den Kopf in die Hande. Gestern war er auf dem Friedhof von San Michele gewesen. Eine dunkle Zypresse stand neben dem Grab der Mutter; rote, gelbe und violette Blumen welkten uber silbergrauem Moos. Er hatte sich an den Stamm der Zypresse gelehnt und mit blicklosen Augen uber die verwitterten Steine hinweggesehen. Eine alte Frau war vorbeigegangen und hatte sich uber den einsamen Jungen gewundert. Ein Friedhof ist nichts fur junge Leute, dachte sie wohl.
        Marco besuchte die Mutter jede Woche. Die Reue war in ihm erwacht; er verstand jetzt, da? er ihr fruher ungewollt viel Schmerz bereitet hatte. Das, was er als Fessel empfunden hatte, war Liebe und Angst um sein Schicksal gewesen, geboren in den Stunden, da sie mude und krank von der Sehnsucht nach dem Gatten im Lehnstuhl am Fenster gesessen hatte. Er sprach mit ihr und glaubte manchmal, da? sie seine Worte hore.
        Dort, wo die Sonne uber dem Wasser stand, lag Murano. Warum kam Giovanni nicht mehr zu ihm, jetzt, wo er den Freund brauchte? Seit dem Besuch Kapitan Matteos hatten sie nichts mehr voneinander gehort. Wie im Traum war er damals von ihm gegangen, ohne Gru?, ohne ein gutes Wort. Er war doch schuldlos am Verschwinden Paolos, ihn traf es noch harter als Giannina und Giovanni. Wenn der Freund das nicht einsah, wurde es nie mehr Freundschaft zwischen ihnen geben konnen.
        Die schonen Stunden des vergangenen Sommers aber konnten nicht einfach ausgeloscht werden. Die schonen und schweren Stunden! Beides zusammen war das Leben. Eines fur sich gab es nicht. Und gerade in den schweren Stunden, wenn einer ganz allein auf sich angewiesen war, mu?te man einander helfen.
        So grubelte Marco und versank in seinen Erinnerungen, sah, wie sie uber die staubige Landstra?e nach Aquileja schritten, Paolo, Giovanni und er. Der spitze gelbe Hut des alten Zigeuners tauchte auf, Herkules tanzte nach dem Takt des Tamburins, Pippino, mit seinen roten Hosen, ruttelte an den Staben des Kafigs. Giannina war wieder bei ihnen. Sie sa?en auf ihrem Lieblingsplatz, den Steinstufen der alten romischen Villa, Giovannis strahlende Stimme klang uber die Lagune, und Giannina erzahlte die Geschichte von Zsusinka, dem kleinen Zigeunermadchen.
        Gluckliche, sorgenfreie Stunden.
        Paolo sa? neben ihnen, und sie fuhlten sich bei ihm in guter Hut.
        Er solle den Mut nicht verlieren, hatte Kapitan Matteo zu Marco gesagt, nirgendwo sei eine Leiche an den Strand geschwemmt worden.
        Vieles war geschehen in diesem Jahr, was seinen Schatten auf das Kommende werfen sollte. Aber Marco wuchs daran, und sein Wille, von Traumen und von der Sehnsucht nach der Ferne gespeist, zerbrach nicht. Auch das Alleinsein, das manchmal schwer und schmerzhaft war, konnte ihn von seinen Planen nicht abbringen.
        Marco tauchte den Federkiel ein und malte Buchstaben neben Buchstaben auf das Papier. Im Hause war es etwas lebhafter geworden. Maria raumte die Stuben auf. Heute nachmittag wollte er zum Rialtoplatz gehen, dorthin, wo die gro?en Lagerspeicher waren und die Handelsschiffe vor Anker lagen, wo Kaufleute und Lasttrager Glas, Gold, Tuch, Lebensmittel und andere Waren aus aller Welt verstauten, wo sich Wechselbanken und Hafentavernen befanden.
        Marco horte nicht die leisen Schritte, die sich seiner Tur naherten und zagend verhielten. Als es klopfte, hob er uberrascht den Kopf. Wer besuchte ihn? Der Oheim etwa? Der klopfte nicht so zaghaft.
        Auf seinen Ruf trat Giannina in das Zimmer.
        Marco dachte keinen Augenblick an seine Rede, die er sich fur diesen Zweck zurechtgelegt hatte.
        ëDu bist es, Giannina», sagte er, freudig bewegt. Er legte in Windeseile die Blatter zusammen. ëIch bin gerade fertig mit meiner Arbeit; siehst du, ich packe schon ein. Ich habe da so einiges geschrieben.» Giannina, die seine Freude bemerkte, versuchte zu lacheln. ëSetz dich nur, Giannina. Schon, da? du kommst. Ich habe eben uber einige Dinge nachgedacht. Wir wohnen nun in einem Hause und sehen uns so selten. In Murano sind wir auch schon lange nicht gewesenÅ»
        Giannina setzte sich auf die Bank. Sie hatte ihm etwas Unangenehmes mitzuteilen. Immer wieder hatte sie es aufgeschoben, aber einmal mu?te es doch gesagt werden. Es konnte ja moglich sein, da? Marco es leichter aufnahm, als sie dachte.
        Hatte nicht auch Ernesto gemeint, Marco konne es vielleicht verstehen? Sie redete sich ein, da? es im Grunde genommen eine unbedeutende Sache sei.
        ëWenn man den ganzen Tag in seiner Stube sitzt», sagte Marco, ëkommt einem manches in den Sinn. Eben habe ich an den alten Zigeuner und seine Enkelin Zsusinka gedachtÅ» Warum er das nur erzahlte? Er redete und redete und dachte gar nicht daran, da? er sie damit auch an Paolo erinnerte.
        Wie fange ich es nur an, uberlegte Giannina. Er ist so froh, da? ich zu ihm gekommen bin. Aber bevor ich es nicht gesagt habe, kann ich ihm nicht gerade in die Augen schauen.
        ëIch wollte dir schon langst etwas sagen, Marco. Ich hatte nur immer Angst, da? du bose wurdest.» Giannina stutzte sich mit beiden Handen auf die Bank und lie? die Beine baumeln.
        ëWarum soll ich denn bose werden?» fragte Marco. ëSag es mir nur.» Ich bin es ja gewohnt, schlechte Nachrichten entgegenzunehmen, dachte er bitter.
        Eine beklemmende Pause entstand, bis Giannina wieder zu sprechen begann: ëGiovanni wei? gar nichts davon, wenn sein Vater ihm nichts erzahlt hat. - Und es ist auch wirklich nichts Schlimmes», sagte sie, plotzlich lebhaft werdend. ëIch verstehe nicht, warum ich es dir nicht schon langst gesagt habe. Ernesto hat die Kleider zuruckgeschickt, die du mir fur Giovanni mitgegeben hattest. Das ist es, was ich dir sagen wollte. Er meinte, Giovanni wurde sie doch nicht annehmen, und er selbst wurde ihm neue kaufen. Du wei?t doch, wie die beiden sind; nicht wahr, Marco, du verstehst dasÅ Ich habe sie wieder in die Truhe getan, ganz unten liegen sie.»
        Sie lachte verlegen.
        Marco horte das nicht mehr. Es sauste in seinen Ohren, und sein Gesicht verfarbte sich.
        ëWas hast du denn? Marco!» fragte sie angsterfullt. Sage es ihm so, da? er sich nicht verletzt fuhlt, horte sie Ernestos Worte. Und nun hatte sie es heruntergeplappert wie eine alltagliche Sache.
        Sie sah, wie er um Worte rang. Seine Finger schlossen sich zu Fausten.
        ëDu! Giannina!» keuchte er. Er sah die Gegenstande des Zimmers nicht mehr, zitterte am ganzen Korper. Alles, was er in stillem Groll in sich hineingefressen hatte, drangte zum Ausbruch. Die Beleidigungen des Oheims, das Schweigen Giovannis, die Zuruckhaltung Gianninas, das war eine Kette von Geschehnissen, die miteinander zusammenhingen, so glaubte er, und steigerte sich in einen besinnungslosen Zorn hinein.
        ëGeh hinaus!» schrie er das Madchen an. ëIhr steckt ja alle unter einer Decke. Der Oheim, Giovanni und du! Ihr lugt alle! Ich will keinen mehr sehen. Geh weg von mir!»
        Sie sah erschreckt und emport in sein Gesicht; es erschien ihr so fremd, da? sie unwillkurlich einen Schritt zuruckwich. Seine verletzenden, ungerechten Worte kamen ihr erst jetzt zum Bewu?tsein. So durfte er nicht mit ihr reden. Sie unterdruckte eine Regung, die um Verstandnis fur sein Verhalten bat.
        ëJa, ich gehe schon. Wenn du das von uns denkst!» sagte sie mit unsicherer Stimme. Sie wartete einen Augenblick, hoffte, da? er widerrufen werde, was er gesagt hatte. Aber er hatte ihre Worte uberhaupt nicht gehort.
        Da ging sie hinaus.
        Die Tur fiel ins Schlo?. Marco klammerte sich mit beiden Handen an die Tischplatte, es summte in seinem Kopf von vielen Gedanken. Nun wu?te er, warum Giannina ihm aus dem Wege gegangen war. Kein Wort bereute er von dem, was er ihr gesagt hatte. Sie hatten sich alle gegen ihn verschworen, und Giovanni war der Urheber - mit seinem Engelsgesicht. Er ha?te ihn. Wenn er jetzt hier ware, er wu?te nicht, was geschehen wurde. Sie konnte ihm hundertmal erzahlen, Giovanni hatte nichts gewu?t. Er glaubte ihr nicht mehr.
        Marco erinnerte sich an seinen letzten Aufenthalt in Murano, damals, als Paolo noch bei ihnen gewesen war: die dunkle Nacht, der breite Lichtstreifen, der aus dem geoffneten Tor der Glashutte auf den Weg fiel, die gro?e Gestalt Paolos, dann Giannina und Giovanni, die Unzertrennlichen, und zum Schlu? er, der dumme Marco. Giovanni fror irr dieser windbewegten, kuhlen Nacht, weil er noch nicht einmal Strumpfe anhatte. Und er hatte Mitleid mit ihm, empfand gute freundschaftliche Gefuhle. Damals nahm er sich vor, dem Freund zu helfenÅ Freund?
        Er wollte dieses Wort im Zusammenhang mit Giovanni nie mehr gebrauchen. Er suchte nach einem Ausdruck fur seine Empfindungen, fand aber keinen.
        Die hei?e Zornesaufwallung begann sich abzukuhlen; Traurigkeit und Selbstmitleid breiteten sich aus. Sie hatte die Kleider zuruckgebracht und wieder in die Truhe getan, weiter war nichts geschehen. Ganz unten lagen sie. Er konnte sich gut vorstellen, wie die beiden miteinander gesprochen hatten. ëNimm die Kleider zuruck, Giannina. Von ihm nehme ich keine Geschenke an. Wie kannst du das von mir denken.» - ëRecht hast du, Giovanni. Ich lege sie einfach in die Truhe zuruck, vielleicht merkt er es gar nicht.» - ëSage es ihm nur. Ich wunsche, da? er es merktÅ»
        Marco wanderte im Zimmer auf und ab; er wunderte sich, da? die Sonne schien, ging zum Fenster, offnete es und steckte den Kopf hinaus. Welch ein schoner, klarer Tag! Die Luft kuhlte sein Gesicht, ein Mann schritt auf das geoffnete Tor des gegenuberliegenden Hauses zu, zogerte ein wenig und ging hinein. Das Herz pochte ruhig. Er setzte sich an den Tisch und spielte zerstreut mit dem Federkiel.
        Mudigkeit und Stille und Glockenklang! Jetzt ware es gut, ein wenig zu schlafen. Dann wachst du auf und bist froh, da? alles nur ein Traum gewesen ist, gehst zu Giannina und sagst: Was ich da fur ein Zeug zusammengetraumt habe? Ich kann es dir nicht einmal erzahlen, sonst lachst du midi aus.
        Das Herz klopfte wie in einem weiten, stillen Raum, ohne Aufregung. Es hallt wie Hammerschlage gegen eine dunne Bootswandung. Der Teppich ist dunkelrot, du horst kein Gerausch, nur deine Atemzuge.
        Auf dem Tisch steht der kleine Elefant, aus Elfenbein geschnitzt, ein Geschenk des Vaters. Die Mutter ist gestorben, es ist noch nicht so lange her, aber es scheint doch eine Ewigkeit zuruckzuliegen.
        Es wird nun Zeit, Vater, da? du kommst. Die Mutter siehst du nicht mehr, sie schlaft auf San Michele. Aber ich bin noch da!
        Ein Tor wird geoffnet, Schritte klappern uber das Pflaster, hastige Madchenschritte. Geh nur! Ich lasse ihn schon gru?en. Vergi? es nicht!
        Als Giannina mit ihren wenigen Habseligkeiten das Haus verlassen hatte und um die Ecke biegen wollte, stie? sie mit einem hochgewachsenen Herrn zusammen. Verstort sah sie auf.
        ëVerzeiht, Messer Bocco!» rief sie und wollte an ihm vorbeieilen.
        ëWohin willst du?» fragte er, mi?trauisch ihr Bundel betrachend.
        ëEine Besorgung, Herr. Ich bin gleich wieder zuruck», erwiderte sie schnell.
        ëIst Marco im Hause?» ëJa, Herr, er ist in seinem Zimmer.»
        Messer Bocco musterte sie mit finsterem Gesicht, ging dann weiter.
        Giannina lief auf den Steg zu, der uber den Kanal fuhrte. Plotzlich blieb sie stehen, als hielte sie einer an der Schulter zuruck. Wenn er jetzt zu Marco ging, mit diesem unheilverkundenden Gesicht. Was wollte er von Marco? Immer wenn er kam, gab es Zank und Aufregung. Sie setzte den Fu? auf den Holzsteg, ging bis zur Mitte und blieb abermals stehen. Unter ihr flo? das Wasser. Kein Boot, kein Mensch war in der Nahe. Unschlussig schwenkte sie ihr kleines Bundel, drehte sich in schnellem Entschlu? um und lief in das Haus zuruck. Sie konnte ihn jetzt nicht allein lassen. Er hatte ihr bose Worte gesagt im ersten Zorn, doch sie war im Innersten schon bereit, sie zu vergeben.
        Messer Pietro Bocco, von Maria angstlich begru?t, ging ohne ein Wort an ihr vorbei auf Marcos Zimmer zu. Er ri? die Tur auf und sagte, kaum hatte er sie geschlossen: ëDa sitzt er, der junge Herr.» Kalt und schneidend klang seine Stimme. Er kam von Bruder Lorenzo und hatte erfahren, da? sein Neffe trotz ausdrucklicher Ermahnung wiederum nicht zum Unterricht erschienen war. Mit nervoser Bewegung fa?te er in seinen Bart. ëSteh auf, wenn dein Vormund kommt. Hoflichkeit kennst du nicht, ich wei?. Aber ich werde dafur sorgen, da? man sie dir beibringt.»
        Marco nahm ein Blatt in die Hand und rollte es zusammen. ëSteh auf, sage ich!» wiederholte sein Oheim, etwas leiser, drohender. Marco stand auf. ëBuon giorno, Oheim!»
        Pietro Bocco glaubte, der Junge wolle ihn verspotten. Wutend eilte er auf ihn zu, packte ihn am Arm und zog ihn halb uber den Tisch. ëIn eine Klosterschule stecke ich dich!» schrie er und hob die Hand zum Schlage.
        ëLa?t mich los», zischte Marco und wand sich unter dem festen Griff. Er sah die erhobene Hand und das verzerrte Gesicht, schnellte seinen Korper uber den Tisch und befreite sich. Der Schlag, der seinen Kopf treffen sollte, fiel auf die Schulter nieder, begleitet von wutenden Schimpfworten.

        Marco zog den Dolch; er wich in die au?erste Ecke zuruck, bereit zu stechen, wenn der Oheim sich naherte.
        Dieser bemuhte sich, seine kalte Ruhe wiederzufinden. ëDu bedrohst deinen Oheim mit der Waffe», sagte er. ëAnderes habe ich von dir nicht - erwartet. Das wird dir teuer zu stehen kommen.»
        ëWenn Ihr mich noch einmal schlagt, steche ich!» erwiderte Marco.
        Pietro Bocco spurte, da? das keine leeren Worte waren. ëStecke deinen Dolch ein!» befahl er. ëDu verla?t das Haus nur noch mit meiner Erlaubnis. Ich schicke einen Diener, der auf dich achtgibt. Im Fruhjahr kommst du in ein Kloster. Hast es dir selbst zuzuschreiben.»
        Einen Herzschlag lang fuhlte sich Marco versucht, ihm das Wort ëSchmuggler» ins Gesicht zu schreien, aber er erinnerte sich rechtzeitig an Kapitan Matteos Mahnung, mit keinem uber diese Angelegenheit zu sprechen. Au?erdem war es nur eine Vermutung von ihm. Bevor er eine Erwiderung gefunden hatte, war Pietro Bocco aus dem Zimmer verschwunden.
        Marco sprang auf den Tisch zu, hob die Hand und stie? den Dolch in das Holz, ri? ihn heraus und stie? ihn wieder hinein, immer wieder!
        Als Giannina sicher war, da? Messer Pietro Bocco das Haus verlassen hatte, eilte sie mit Angst im Herzen zu Marco. Alles was vorher geschehen war, erschien ihr jetzt bedeutungslos. Sie verstand nicht mehr, warum sie hatte weglaufen wollen, den Freund im Stich lassenÅ
        Der Dolch stak im Tisch, und Marco sah finster auf ihn nieder. Er tat so, als bemerke er Gianninas Kommen nicht. Seine Wut kuhlte sich ab und machte nuchterner Uberlegung Platz. Der Oheim wollte ihn im Fruhjahr in eine Klosterschule stecken. Gut, da? er es wu?te! Bis dahin war er uber alle Berge. Er lachte kurz auf.
        Die Anwesenheit des Madchens ubte eine beruhigende Wirkung auf ihn aus. Er hatte geglaubt, sie ware weggerannt.
        ëEr hat mich geschlagen», sagte er. ëEs war das letzte Mal, schwore ich dir.»
        ëHast du ihm etwas getan?» fragte Giannina mit einem Seitenblick auf die Waffe.
        Marco nahm den Dolch aus der Tischplatte.
        ëWenn er es noch mal wagt, ermorde ich ihn», sagte er. Ein wenig Stolz schwang im Ton seiner Worte. ëAber er wagt es nicht wieder. Hast du gesehen, wie er aus dem Zimmer gesturzt ist?» Giannina nickte.
        ëVorhin dachte ich, du warest weggelaufen», fuhr er nach einer kleinen Pause fort. ëBleib nur hier! Was sollst du auch dort? Wir sprechen noch einmal daruber, aber Giovanni will ich fur das erste nicht sehenÅ Du siehst ja, da? ich es hier nicht leicht habe; mir genugt es, wenn mein Oheim mich beleidigt!»
        Giannina, noch unter dem Eindruck der Geschehnisse, wagte nichts zu erwidern. Und als Marco bat, sie moge ihn allein lassen, ging sie an ihre Arbeit zuruck. Sie nahm sich vor, bei der nachsten Gelegenheit wieder mit jhm zu reden; wenn er dann nicht vernunftig mit ihr sprach, wurde sie nach Murano zuruckgehen.
        Der Oheim hatte vor, ihm einen Aufpasser zu schicken. Marcos Widerstandswille erwachte. Sollte er nur kommen. Er wurde keine gro?e Freude erleben in diesem Hause. Vielleicht schickte er ihm den angstschlotternden Diener, mit dem Marco im Hausgang gesprochen hatte.
        Der Oheim hatte ihm verboten, das Haus zu verlassen. Er dachte nicht daran, sich dem Verbot zu fugen. Nach der Auseinandersetzung war die geheime Furcht, die er bis jetzt vor Pietro Boccos kalten Augen empfunden hatte, betrachtlich geringer geworden. Er redete sich ein, da? er ihn mit seinem Auftreten in Furcht und Schrecken versetzt hatte. Dieses Hochgefuhl trug mehr als alles andere dazu bei, ihn wieder unternehmungslustig zu machen und die schwachen, einsamen Minuten zu vergessen. Jetzt, da er wu?te, was Pietro Bocco im Schilde fuhrte, war jeder Augenblick kostbar. Marco holte seinen Mantel hervor und verlie? das Haus, ohne Nachricht zu hinterlassen, wohin er gehe und wann er zuruckkomme.
        Er ging dorthin, wo das Herz Venedigs schlug: zum Campo di Rialto, wo mit Gold, Perlen, Schiffen, Besitzungen, Schuldscheinen und Waren aus den entferntesten Erdteilen gehandelt wurde, wo in den Bogengangen und Gassen Hunderte von Goldschmieden das edle Metall formten und mit feinen Sticheln bearbeiteten, wo die von der Republik zugelassenen Wechselbanken bayrische Schillinge gegen venezianische Lire di grossi oder alexandrinische Munzen tauschten, wo sich Laden und Magazine befanden.
        Er wollte hinaus aus der Enge der dumpfen Stube, Wasser, Schiffe, Menschen sehen, die Geruche von Mehl, Fisch, Ambra, Moschus und Gewurzen einatmen.
        An der Ponte della moneta mu?te er warten, weil die beiden mittleren Teile, die an Ketten hingen, gerade hochgezogen wurden, damit ein Schiff hindurchfahren konnte. Der Canal Grande war an dieser Stelle von Hunderten Booten und Barken belebt, die so dicht aneinander vorbeifuhren, da? man gerade noch die Handflachen dazwischenhalten konnte. Es summte von tausend Stimmen, schrie aus Barken und Verkaufsstanden, sprach italienisch, deutsch, spanisch, arabisch, franzosisch und russisch.
        Stolz schritten die Beamten der Ufficiale sopra Rialto durch das Gewuhl der buntgekleideten Menschen. Sie trugen als Vertreter der obersten Behorde des Rialto das Schwert an der Seite wie die Caposestieri und die Rate des Dogen; sie hatten fur die offentliche Sicherheit auf dem Rialto zu sorgen, uberwachten die Versteigerungen der Schiffe und Waren und achteten darauf, da? die Statuten und Vorschriften fur die Schiffahrt und den Handel eingehalten wurden.
        Marco stand eingezwangt zwischen den vielen Menschen auf der Brucke und wartete, bis das Schiff vorbeigefahren war und die Bruckenteile wieder heruntergelassen wurden. Immer von neuem packte ihn die Erregung, wenn er die Nahe des Campo di Rialto spurte, dieses engen, von Bogengangen umgebenen Platzes vor der alten Kirche San Giacometta, auf dem tagsuber Geschafte riesigen Ausma?es getatigt wurden.
        Er verga? seine personlichen Sorgen, lie? sich an der Stagiera publica vorbeitreiben, wo die Waren gewogen und die Abgaben in Rechnung gestellt wurden, und ging auf der Fondamente entlang dem Fischmarkt zu.
        Er sah schon von weitem den Dunst, der aus den Bratkuchen aufstieg, und roch das brutzelnde Ol. Auf dem anderen Ufer lag Schiff neben Schiff vor dem Fondaco der Deutschen, die hier wohnten und ihre Waren lagerten. Schon mancher Kaufmann, der in jungen Jahren von Augsburg oder Nurnberg nach Venedig gereist war, hatte hier sein Gluck gemacht und war als reicher Mann zuruckgekehrt. Auch einige deutsche Handwerker gab es in den engen Gassen, vor allem Schuster, die schon ein Menschenalter hier wohnten und die venezianische Mundart so gut beherrschten, da? man sie von den Einheimischen kaum unterscheiden konnte.
        Vom Fondaco der Deutschen aufwarts lagen die Weinschiffe und Olschiffe, zogen sich zu beiden Seiten des Kanals die Gewolbe der Kaufleute hin, wuchsen die Bauten der Magazine empor, uberragt vom Getreidemagazin, in dem nach einem Beschlu? des Senats jahrlich 80 000 Scheffel Getreide vorratig sein mu?ten. Verantwortlich fur die Herbeischaffung, die Festsetzung der Preise und den Verkauf des Getreides war die Camera del frumento, gleichzeitig das wichtigste Geldinstitut der Republik. Benotigte die Regierung Geld fur gro?e Unternehmungen, so lieh sie es von reichen Privatleuten und verpflichtete die Camera del frumento, es zuruckzuzahlen. Die Frist betrug meist sechs Monate.
        Marco kaufte sich einen knusprig gebratenen Fisch. In der freien Atmosphare des Rialto war sein Appetit zuruckgekehrt. Die bosen Erlebnisse der vergangenen Stunden sollten ihn nicht wieder unterkriegen. Alles in allem genommen hatte er doch richtig gehandelt. Der Oheim war sich nun hoffentlich daruber klar, da? man ihn nicht wie einen kleinen Jungen behandeln konnte.
        Er lehnte sich an die grauen Steine eines Brunnens am Rande des Marktes, fuhrte mit spitzen Fingern, uber die das duftende Ol flo?, den Fisch zum Mund und lie? ihn sich schmecken. Der Rauch der Holzfeuer stieg zum Himmel, auf Banken und auf der Erde standen gro?e und kleine Fasser mit eingesalzenem Fisch, gedorrte und geraucherte Fische hingen an Holzspeilern. In einem Wasserbehalter schwamm der Fang der vergangenen Nacht; die Hand des Verkaufers griff hinein, holte einen armlangen, zappelnden Fisch heraus und hielt den wei?en Leib mit den silberglanzenden Schuppen gegen die Sonne.
        ëFrische Fischlein gibt es heute, kauft ihr Leute, frische Fischlein gibt es heute!» sang er in den hochsten Tonen. Die Adern an seinem Halse schwollen an vor lauter Anstrengung; aber es nutzte ihm nichts, sein Gesang ging unter in dem vielstimmigen Anpreisen, Verhandeln, Schimpfen und Lachen.
        Der Fischmarkt am Rialto: Sonne, Stimmen, ein buntes Menschengewoge und der Geruch nach Wasser, Fisch, Qualm und appetitanregendem Bratendunst.
        Marcos Blicke blieben wie gebannt an einem breitschultrigen Matrosen haften, der sich gemutlich seinen Weg durch das Gewuhl bahnte. Er uberragte die Menschen um Haupteslange. Marco wurde an Paolo erinnert. An dem kurzen Hauserschatten erkannte er, da? die Mittagszeit nahe war. Jetzt wurden sie zu Hause ungeduldig werden. Ob der Oheim schon den Aufpasser geschickt hatte?
        Es war wohl nicht alles richtig gewesen, was er Giannina in der Erregung gesagt hatte; wenn er nach Hause kam, wurde er sich mit ihr noch einmal in aller Ruhe daruber unterhalten. Vielleicht hatte er auch Giovanni unrecht getan? Es konnte ja moglich sein, da? dieser wirklich nichts von den Kleidern gewu?t hatte.
        Der Matrose blieb neben einem Bratstand stehen und scherzte mit zwei Dienstmagden. Er bot sich wohl an, wie Marco an den Gebarden zu erkennen glaubte, die Korbe zu tragen, und erfuhr eine lachende Abweisung. Er breitete die Arme aus - wenn ihr nicht wollt, kann ich nichts machen - und ging wohlgemut weiter.
        Marco folgte ihm mit abwesenden Blicken. Seine Gedanken weilten bei dem Freund. Giovanni baute Boote. Sein Vater hatte ein Bein verloren. Marco wu?te, wie sehr Giovanni seinen Vater liebte. Er hatte nicht geklagt, sondern war zu Meister Benedetto in die Lehre gegangen. Nun traumte er davon, ein beruhmter Schiffsbauer zu werden. Eigentlich war es richtig, wenn man das Leben so anpackte, nicht lamentierte, sondern mit zusammengebissenen Zahnen Zugriff.
        Man durfte aber das Traumen nicht vergessen, dann kam die Freude von selbst zuruck und besiegte die Traurigkeit. Menschen, die so wie Giovanni waren, lie?en sich nicht gern etwas schenken, auch wenn es aus der Hand des Freundes kam.
        Und er hatte gesagt: Ihr steckt alle unter einer Decke, der Oheim, Giovanni und du. In der Erregung sagt man manchmal Dinge, die oft nicht wiedergutzumachen sind.
        Giannina sollte nun nicht etwa denken, da? er mit einer Verbeugung zu ihr kame: Bitte vielmals um Verzeihung. Nein! Es wurde nicht schaden, wenn auch sie sich bemuhte, ihn zu verstehen und weniger an Murano zu denken. Wir wollen nicht mehr uber die vergangenen Dinge reden, wurde er sagen. Das konnte ihr wohl genugen.
        Der gro?e Matrose ging eben in das Gasthaus. Zur Glocke. Dieses Haus, am Rande des Fischmarktes gelegen, brachte dem Eigentumer, einem reichen Tuchhandler, jahrlich
900 Dukaten an Miete ein. Die Besitzer der Verkaufsladen im Erdgescho? hatten 700 Dukaten und der Wirt des Gasthauses im ersten Stock 200 Dukaten zu zahlen. Bis die
200 Dukaten verdient waren, mu?te viel Wein aus den Fassern flie?en, manches Stuck Fleisch am Spie? gebraten werden, um die Munzen aus den Borsen der Zecher in den eisenbeschlagenen Behalter des Wirtes wechseln zu lassen.
        Der Matrose, der Marino hie? und Paolo ahnlich sah, setzte sich an den einzigen noch freien Tisch, der in der Mitte stand, umgeben von den anderen Tischen mit den trinkenden, essenden, schwatzenden Gasten.
        Marco, der beobachtet hatte, wohin der Matrose gegangen war, befreite sich von seinen Gedanken, zumal er ja zu einem gewissen Abschlu? in seinen Uberlegungen gekommen war, und meinte, da? die Zeit zum Handeln gekommen sei. Er war nicht ohne Absicht zum Rialto gegangen. Als er die Stufen zum Gasthaus hinaufstieg, kostete es ihn einige Anstrengung, das innere Widerstreben zu uberwinden. Er besuchte zum erstenmal allein ein Gasthaus, nahm sich vor, mit gelangweiltem Gesicht uber die Gaste hinwegzusehen und geradewegs auf den Tisch zuzugehen, an dem der Matrose sa?. Das ubrige wurde sich dann von selbst ergeben.
        Die Gaste nahmen von seinem Eintritt keine Notiz; sie lachten, erzahlten, schlugen mit den Fausten auf den Tisch und hoben die Glaser; nur der Wirt warf einen kurzen Blick auf den Jungen mit dem ernsten Gesicht. Befriedigung erfullte Marco, als er den Matrosen, eine Huhnerkeule in der Hand haltend, sitzen sah.
        Ihr erlaubt?» fragte er und lie? sich, ohne die Antwort abzuwarten, nieder. Bis dahin war alles gut verlaufen. Er trommelte mit den Handen auf den Tisch. Der Matrose nagte an seinem Knochen und schob ein Stuck Brot in den Mund. Er war von langsamer Art, ein Mensch, der eins nach dem anderen tat: Jetzt esse ich meine Huhnerkeule, dann spule ich mit einem Schluck Wein nach, und dann werde ich mir das Knablein genauer betrachten.
        Die erste Schwierigkeit ergab sich, als der Wirt kam und fragte, was der junge Herr wunsche. ëZitronenlimonade?» Nein, die gabe es in seinem Gasthaus nicht, da musse der junge Herr zum Limonadiere auf der Gasse gehen. ëVielleicht ein leichtes Weinchen?»
        Der Matrose lachte in sich hinein und leckte sich genie?erisch die Finger ab.
        ëBringt mir Wein, Wirt», sagte Marco prahlerisch, ëguten Wein!» Er hoffte, da? der Matrose in dem dammerigen Licht nicht bemerkt hatte, wie rot er geworden war.
        Der Wirt brachte den Wein und eine gro?e Karaffe Wasser. Marco runzelte argerlich die Stirn. Hatte er denn Wasser bestellt? Aber er sagte nichts. Er fuhrte das Glas an die Lippen und nahm einen tuchtigen Schluck. Es war nicht der erste Wein, den er trank, allerdings hatte er ihn sonst nur zum Essen und stark mit Wasser verdunnt getrunken.
        Der Matrose warf den Knochen auf die Tischplatte und wischte sich die Hande an der Hose ab. Zufrieden lehnte er sich zuruck, musterte ungeniert sein Gegenuber, sagte aber nichts. Nach einer Weile trank er einen Schluck.
        Marco fuhlte sich verpflichtet, es ihm gleichzutun. Da er glaubte, auf dem Gesicht des Matrosen wohlwollende Zustimmung zu lesen, leerte er sein Glas bis zur Halfte und wagte ein Lacheln. Der Wein schmeckte ihm ubrigens nicht besonders gut.
        Der Matrose lachte. Irgend etwas - Marco erriet nicht, was es sein konnte - schien ihn ungemein zu erheitern. Als er sich nach einer Weile beruhigt hatte, sagte er noch immer nichts.
        Marco meinte, da? es am besten sei, einen dritten Schluck zu nehmen. Danach wollte er den Matrosen anreden.
        Er leerte in kuhnem Entschlu? das Glas. Es schmeckte, wenn man es so schnell hintereinander trank, schon etwas besser. Die Gedanken wurden leicht, schwebten wie auf Flugeln dahin und gaben ihm die Worte ein, nach denen er vorher vergeblich gesucht hatte.
        ëEin gutes Weinchen, Matrose, was meint Ihr dazu? Wurde mich interessieren, wie Ihr hei?t. Mein Name ist Marco Polo.»
        Wieder wurde der Matrose von der Marco unverstandlichen Heiterkeit ergriffen, bequemte sich aber endlich, den Mund zur Erwiderung zu offnen.
        ëMarino nennt man mich!» Er setzte die Worte langsam. ëDu hei?t also Marco. Wie alt bist du denn?»
        Marco war der Ansicht, da? es in diesem Falle angebracht sei, ein. paar Jahrchen mehr zu sagen.
        ëSiebzehn!» schwindelte er.
        Der Matrose wiegte den Kopf und hielt das leere Glas hoch. Marco tat das gleiche.
        Der Wirt kam geschwind gelaufen und nahm sie ihnen ab. Bald standen sie gefullt wieder vor ihnen.
        Sehr gesprachig war Marino nicht. Da sa? er schon wieder und schwieg. Als er mit den Magden scherzte, war sein Mundwerk schneller gewesen. Aber Marco sagte sich, da? er aus ihm herausholen werde, was er wissen wollte. Er geriet in einen Zustand heiterer Beschwingtheit und konnte plotzlich verstehen, warum der Matrose so gelacht hatte. Der Wein war es gewesen!
        Es war wirklich lustig, zu beobachten, wie die Kopfe der Gaste gleichsam zu tanzen begannen, sich zu verdoppeln schienen, zwei Munder, zwei Nasen bekamen und dann wieder zu einem Gesicht zusammenruckten. Freundliche Nebelgeister schienen in Marcos Gehirn am Werke zu sein.
        Aus Marinos Unterarm wuchsen zwei Hande heraus, die nach zwei Glasern griffen. Marco fand diese Verdoppelungen au?erordentlich belustigend und kicherte in sich hinein. Fast hatte er vergessen, warum er gekommen war.
        Wie lange sa? er eigentlich schon hier? Er schlo? die Augen in der Hoffnung, da? die seltsamen Erscheinungen verschwunden waren, wenn er sie wieder offnete. Die freundlichen Nebelgeister begannen jetzt kleine Windrader in Bewegung zu setzen; diese drehten sich, drehten sich immer schneller, wurden gro? und gro?er und drohten, ihn vom Stuhl zu schleudern. Schnell offnete er die Augen und atmete erleichtert auf, als er bemerkte, da? er noch auf seinem Stuhle sa?. Instinktiv hatten sich seine Hande an der Tischplatte festgehalten.
        In seinem Kopf sauste es, und vom Magen her schlich ein sonderbares Gefuhl den Korper hoch. Marco mu?te die Zahne zusammenbei?en.
        ëTrink ein Glas Wasser!» horte er aus weiter Ferne die Stimme des Matrosen. Eine Hand schob ihm ein Glas zu; er ergriff es und trank es begierig aus. Kostliches, kuhles Zisternenwasser!
        ëNoch ein Glas», bat er.
        Marino schenkte ein. Marco trank. ëIch konnte jetzt immer Wasser trinken», meinte er zu dem Matrosen. Sein Gesicht, das wei? wie ein Schafskase gewesen war, nahm wieder eine gesunde Farbe an. Er wagte einen Blick in die Runde zu werfen. Anscheinend hatte keiner seine Ubelkeit bemerkt. Die Gaste hatten jeweils nur noch eine Nase im Gesicht, und aus Marinos Unterarm wuchsen nicht mehr zwei Hande. Alles hatte wieder seine Ordnung.
        Marco hatte das Gefuhl, eine gro?e Gefahr bestanden zu haben. Der Tag war wirklich reich an Ereignissen. Nun wu?te er auch, wie es war, wenn man Wein trank.
        Marino winkte den Wirt heran. ëBring eine Huhnerkeule fur ihn», bestellte er.
        Nachdem Marco die Huhnerkeule verspeist hatte, war seine Schwache endgultig uberwunden. Er empfand fur den Matrosen, der sich so fursorglich um ihn bemuht hatte, eine ehrliche Zuneigung und nahm sich vor, ihm zu erzahlen, warum er ihm nachgelaufen war.
        ëIch mochte gern wissen, weshalb du so schnell getrunken hast?» fragte der Matrose.
        ëIhr wart so stumm, Marino!» erwiderte Marco. Der Geruch des Weines stieg ihm in die Nase und erinnerte ihn an seine Ubelkeit. Er schwor sich, nie wieder einen Tropfen von diesem Teufelszeug zu trinken.
        ëBin eben kein Schwatzer», meinte Marino. ëAber nun verrate mir, was dich druckt.»
        ëWerdet Ihr es niemand weitererzahlen?»
        ëMit wem sollte ich daruber reden?» Der Matrose legte die Unterarme auf den Tisch und beugte sich vor.
        ëHort also zu, Marino», begann Marco mit wichtiger Miene. ëIch will Euch nichts verschweigen, damit Ihr wi?t, da? ich es mir reiflich uberlegt habe. Als ich sagte, ich sei siebzehn, habe ich Euch beschwindelt.


        Funfzehn Jahre bin ich, aber Ihr seht ja selbst, da? ich nicht schwach bin, nicht wahr?»
        Marino nickte ernst. ëEin Riese bist du, mochte nicht gern mit dir anbinden.»
        Marco lie? sich nicht beirren. Er setzte die Worte wie ein Geschichtenerzahler auf der Piazzetta, berichtete, da? die Mutter gestorben sei, der Vater schon seit vierzehn Jahren kein Lebenszeichen gegeben habe und der Oheim ihn in eine Klosterschule stecken wolle.
        ëWas wurdet Ihr nun an meiner Stelle tun, Marino?» fragte er.
        Der Matrose wiegte in seiner bedachtigen Art den Kopf hin und her. ëDa mu? ich erst mal einen Wein trinken», sagte er.
        Marco bestellte Wein. ëNichts anderes bleibt mir ubrig, als wegzulaufen, weit weg», sagte er. ëIch habe mir das genau uberlegt. Was meint Ihr dazu?»
        Marino trank den Wein, den der Wirt gebracht hatte, mit einem Zug leer und fuhr sich mit der Zunge uber die Lippen. ëDu willst also von zu Hause durchbrennen?» meinte er. ëWas soll ich aber dabei tun?»
        ëIhr sollt mich auf ein Schiff schmuggeln. Ich will nach Damaskus, hab da so einiges zu erledigen.» Marco, froh, da? er sein Anliegen vorgebracht hatte, blickte den Matrosen erwartungsvoll an.
        ëNach Damaskus willst du?»
        ëEs hat Zeit bis zum Fruhjahr», warf Marco ein.
        ëErwischt dich jemand, wirst du sagen: Marino hat mich auf das Schiff geschmuggelt - und mich legen sie in KettenÅ»
        ëKein Sterbenswortchen werde ich sagen. Ich schwore es Euch!»
        ëKann sein, da? der Kapitan dich einfach uber Bord werfen la?t. Was dann?»
        Marco, der alle Zweifel zerstreuen wollte, unterdruckte ein Angstgefuhl und erwiderte gro?sprecherisch: ëSoll er mich nur uber Bord werfen. Ich kann ja gut schwimmenÅ»
        Marino lachte. ëIn Damaskus hast du also einiges zu tun», sagte er dann, ëes kann sein, da? ich im Fruhjahr mit dem Geschwader der Republik nach Beirut, Damaskus und Palastina fahreÅ»
        Marco konnte seine Freude nicht mehr zuruckhalten. ëGleich als ich Euch auf dem Fischmarkt sah, wu?te ich, da? Ihr mir helfen wurdet!» rief er begeistert.
        Marino hob die Hand. ëNicht so sturmisch, mein Junge! Bis zum Fruhjahr ist noch eine lange ZeitÅ»



        DER KONIG DER FELDER

        IM JAHRE 1267 HATTE SICH IN EINEM KLEINEN DORF, das zum Konigreich Neapel gehorte, die folgende Geschichte zugetragen. Angiolino, ein armer Bauer mit einem schmalen Streifen Pachtland, borgte sich von seinem Herrn, auf dessen Feldern er vier Tage in der Woche schuftete, einen Esel, um mit seiner Hilfe das Heu von einer entfernt liegenden Wiese einzubringen. Es fiel ihm auf, mit welcher Bereitwilligkeit der Verwalter des Herrn ihm den Esel uberlie?; er machte sich aber keine Gedanken daruber, sondern zog los, um so schnell wie moglich aus der Rufweite zu kommen; denn es konnte doch sein, da? der Verwalter es sich im letzten Augenblick noch anders uberlegte.
        Die Sonne schien schon am Morgen sengend hei? vom Himmel hernieder. Angiolino blieb von Zeit zu Zeit stehen und wischte sich mit dem Hemdsarmel den Schwei? von der Stirn. Das Lavagestein brannte unter seinen nackten Fu?sohlen, aber die dicke Hornhaut war so unempfindlich wie die Ledersohle unter dem Stiefel eines vornehmen Herrn. Besorgt betrachtete er den Esel, der aus Gewohnheit Huf vor Huf setzte, bei der Rast jedoch taumelnd stehenblieb und sich nur muhsam aufrecht halten konnte. Als der Bauer einmal zufallig die Nustern beruhrte, merkte er, da? sie ganz hei? waren. Was sollte er tun? Das Heu mu?te an den beiden Tagen in der Woche, da er keinen Frondienst zu leisten hatte, eingebracht werden, sonst mu?te es wieder sechs Tage liegenbleiben, und Gott wu?te, wie das Wetter dann sein wurde. Auch fehlte ihm der Mut, das Tier wieder zuruckzubringen; denn der Verwalter war ein gestrenger Herr und schnell mit Prugel zur Hand. So ging er denn weiter, der Esel setzte gehorsam Huf vor Huf und bewegte sich eben, so gut es ging.
        Als Angiolino an den Bach kam, der durch das Weideland des Herrn flo?, sagte er sich: Wirst dem Eselchen einen Trunk gonnen und ihm eine Handvoll Gras hinwerfen, damit es wieder zu Kraften kommt. Er fuhrte das Tier also an das Wasser.
        ëSauf, Freundchen!» sagte er. ëDas Wasser gehort zwar dem Herrn, aber er sieht es ja nicht, und weniger wird es auch nicht, wenn du deinen Durst stillst. Ich werde dir inzwischen eine Handvoll Gras holenÅ»
        Die Luft zitterte vor Hitze. Die Wiese zog sich bis zu einem grauen Lavafelsen hin, hinter dem in einer Riesenschale das Meer glei?te und funkelte und die Sonnenstrahlen hunderttausendfach auf das ausgedorrte Land zuruckwarf. Fur Angiolino war das ein gewohnter Anblick, der ihn weniger erregte, als es ein Stuck fetter Ziegenkase mit einem Krug brunnenkuhlen Wassers getan hatte. Er vergewisserte sich, nach allen Seiten spahend, da? niemand in der Nahe war, beugte sich nieder und rupfte vom Rande des Baches mit geubten Handen das Gras ab.
        ëSo, mein Freundchen», sagte er, ëgleich wirst du wieder munter werden. Bei Angiolino sollst du nicht hungern, der wei?, was es hei?t, wenn man nichts zu bei?en hat.»
        Wohlgemut drehte er sich um und wollte dem Esel das Futter bringen. Was er sah, jagte ihm einen solchen Schrecken ein, da? er mit offenem Munde stehenblieb. Das Gras fiel ihm aus der Hand. Der Esel namlich lag neben dem lustig uber die Steine sprudelnden Wasser, streckte alle viere von sich und lie? seine Zunge heraushangen.
        Nachdem Angiolino sich von seinem Schrecken erholt hatte, sprang er auf das Tier zu und versuchte es wieder auf die Beine zu bringen.
        ëSteh doch auf, mein Guter», klagte er verzweifelt, ëkriegst das feinste Gras, auf Handen will ich dich tragen, wenn du nur aufstehst, damit ich dich zum Herrn zuruckfuhren kannÅ Oh, du storrisches Vieh», er stie? mit dem Fu? nach dem bewegungslos vor ihm liegenden Korper, ëwillst du mich um mein letztes Hab und Gut bringen? Du Teufelstier! Hundesohn, steh auf, sonst sollst du Angiolinos Fauste spurenÅ Ach, mein Guter, was machst du da fur Sachen. Verstell dich doch nicht, steh aufÅ» Doch weder Bitten noch Drohen half; Schwarme von Fliegen lie?en sich auf Zunge, Augen und Nustern nieder. Das Eselchen ruhrte sich nicht mehr, lag stocksteif auf der Erde und grinste, so schien es Angiolino, hohnisch mit den gro?en gelben Zahnen.
        Als es dem Bauern zur Gewi?heit geworden war, da? der Esel durch nichts mehr zum Leben erweckt werden konnte, ging er einige Schritte abseits, setzte sich auf die Boschung und hangte die Fu?e in das Wasser. Mit finsterem Gesicht starrte er auf die Wellen, die unbeschwert ihres Weges zogen.
        Angiolino war jetzt drei?ig Jahre alt, von Kindesbeinen an diente er dem Grafen, so wie es seine Gro?eltern und seine Eltern getan hatten. Er verdiente immer gerade so viel, um die Pacht fur den schmalen Streifen Land aufbringen zu konnen. Vier Tage in der Woche arbeitete er fur den Herrn, und oft wurden es auch funf Tage. In den wenigen freien Stunden hatte er sich aus Felssteinen ein armseliges Haus gebaut; in einem Bretterschuppen standen zwei Ziegen und drei Schafe. Im nachsten Jahr hatte er heiraten wollen. Da passierte ihm nun die Geschichte mit dem Esel.
        In Angiolino, der bis jetzt alles geduldig ertragen hatte, begann es zu garen. War er denn schuld am Tode des Esels? Jetzt verstand er, warum der Verwalter ihm das Tier so bereitwillig uberlassen hatte. Hatte er ihn nur zuruckgewiesen und das Heu auf seinem Rucken nach Hause geschleppt.
        Aber jetzt half kein Lamentieren. Der Bauer stand in plotzlichem Entschlu? auf; eine stille Hoffnung begann sich in ihm zu regen. Sie konnten ihn doch nicht fur den Tod des Esels verantwortlich machen. Angiolino legte sich eine Rede zurecht und gab sich selbst die Antworten, die er von dem Herrn zu erwarten hatte. ëEr taumelte ja schon, als der Knecht ihn mir gab, Herr.» - ëDu hast ihn zu Tode geschunden, du mu?t ihn bezahlen!» - ëHolt doch den Knecht, Herr. Er kann bezeugen, da? der Esel krank war.» - ëWerde nicht frech, Angiolino, schon einmal mu?te ich dich auspeitschen lassen.»
        Die Hoffnung starb in seinem Herzen. Er kannte die Herren, sein ganzes Leben lang hatte er sich gebeugt. Aber diesmalÅ Er hob die Fauste zum Himmel: ëHerrgott, wenn du mir dieses Mal nicht hilfst!»
        Es kam so, wie Angiolino vorausgesehen hatte. Es kam sogar noch schlimmer. Er durfte die hohe Summe, die der Herr fur den Esel verlangte, nicht einmal an den zwei freien Tagen der Woche abarbeiten, sondern sollte sie sogleich bezahlen. Da er das naturlich nicht konnte, befahl der Herr, ihm das Land zu nehmen und sein Vieh - zwei Ziegen und drei Schafe - aus dem Stall zu treiben. Angiolino sei noch einmal billig davongekommen, lie? er bestellen.
        Angiolino ging in der Nacht zu seiner Braut und verabschiedete sich von ihr.
        Er wurde bald wiederkommen, sagte er, sie solle sich keine Sorgen um ihn machen.
        Sie weinte, als er ging; denn sie furchtete sich vor dem fremden, wilden Ausdruck in seinem Gesicht. Was hatten die Herren nur mit dem gutmutigen Angiolino gemacht?
        Angiolino hielt sein Versprechen. Er kam bald wieder. Kaum hatte der Mond zweimal gewechselt, da war Angiolino wieder da. Zu Pferde kam er geritten, mit einer Schar von Stra?enraubern, denen er sich zugesellt hatte. Ein heruntergekommener Adliger mit einem zarten, kindlichen Gesicht fuhrte das Kommando. ëMilchgesicht» hie? er bei den anderen, und Milchgesicht war beruchtigt wegen seiner Grausamkeit. Er machte nicht viel Federlesens. ëAufhangen!» war seine standige Redensart. Fur ihn ging es nur darum, gro?e Beute zu machen. Doch Angiolino, der sich durch gro?e Tapferkeit auszeichnete, begann den Raubereien bald einen anderen Sinn zu geben.
        Zunachst aber wollte er die Rechnung mit dem Herrn begleichen, der ihm sein kummerliches Pachtland und sein Vieh genommen hatte. Er widersprach nicht, als Milchgesicht befahl, den Herrn aufzuhangen. En wurde an jener Stelle gehenkt, wo Angiolino einst auf seinen Befehl wegen einer Geringfugigkeit ausgepeitscht worden war. Das Schlo? des Herrn wurde niedergebrannt.
        Ein Jahr spater war die Schar der Stra?enrauber schon auf 120 Mann angewachsen, und ihr Ruf drang weit uber die Grenzen des Konigreiches Neapel hinaus. Angiolino hatte in kurzer Zeit lesen und schreiben gelernt und war zum Anfuhrer der Schar geworden. Milchgesicht redete noch sein Wort mit, wenn uber ein neues Unternehmen beraten wurde, und fugte sich widerwillig den Anordnungen Angiolinos.
        Sie durchstreiften Stadte und Provinzen. Angiolino hielt Gericht, wenn er erfuhr, da? einem armen Bauern oder Handwerker durch seinen Herrn Unrecht geschehen war. Und er sprach besser Recht, als es die gewohnlich bestochenen Richter getan hatten.
        Einem reichen Benediktiner Abt, der mit seinem Gefolge von Neapel nach Rom reiste, nahm er die Halfte des Geldes, 1250 Unzen ab, wovon ein Teil dazu diente, um ein armes Madchen auszustatten, der andere Teil, um Familien armer Landleute zu unterstutzen und der Rest zum Unterhalt seiner Truppe. Angiolino war zur Plage der adligen Herren geworden, die alles mogliche versuchten, um seiner habhaft zu werden. Vom Volke aber wurde er geliebt und geachtet, und keiner dachte daran, ihn zu verraten. Man nannte ihn den Konig der Felder.
        Als Paolo in jener sturmischen Nacht von Bord der Schmugglerbarke gesprungen war und seine Arme und Beine zu regen begann, um nicht unterzugehen, hatte er zuerst einen furchtbaren Schmerz verspurt, der ihm fast die Besinnung raubte. Er horte auf, sich zu bewegen, und sank wie ein Stein nach unten. Die Wellen schlugen uber ihm zusammen; er offnete den Mund, um zu atmen, und schluckte Wasser; ringsumher war es dunkel, er schwebte durch einen von brausenden Gerauschen erfullten Raum, verga? seine Schmerzen und empfand ein wohliges Gefuhl des Geborgenseins in einer geheimnisvollen Welt abseits von allem irdischen Geschehen. Er wu?te genau, wo er sich befand, seine Gedanken arbeiteten ganz klar, aber sein Lebenswille war gelahmt.
        Wasser stromte durch Mund und Nase ein; in seinen Ohren sauste es; seine Beine beruhrten den Grund. In diesem Augenblick aber, als habe ein Zauberstab ihn beruhrt, kehrte sein Lebenswille zuruck. Er kauerte sich nieder und stie? sich mit einem Ruck vom Grund der Lagune ab. Endlos lange schwebte er durch das tosende Dunkel, das Wasser schien durch alle Poren in ihn einzudringen, es klopfte in rasendem Wirbel gegen sein Trommelfell, in schneller Folge zogen Erinnerungen aus seiner Kindheit, die verschuttet in seinem Unterbewu?tsein geschlummert hatten, an seinen Augen voruber; wahnsinnige Furcht packte ihn, er glaubte, wieder auf den Grund des Wassers hinabzusinken. Ein kuhles nasses Grab umfing ihn.
        Da tauchte sein Kopf uber dem Wasser auf, die Wellen klatschten in sein Gesicht. Er befand sich auf der Oberflache des wildbewegten Wassers und wu?te, da? er, wenn ihm sein Leben wert war, weiter gelebt zu werden, oben bleiben musse. Nichts arideres hatte mehr Platz in seinem Denken, weder Marco noch Giovanni oder Giannina. Er dachte jetzt nur an sich selbst. Die Schmerzen im rechten Schultergelenk waren so stark, da? er laut schrie, aber er bewegte den Arm trotz alledem. Er spie das Wasser aus, das eine Welle in seinen Mund gespult hatte, und begann sich seines Wamses zu entledigen. Es gelang ihm, Stuck fur Stuck der Oberkleidung abzuwerfen.
        Er legte sich auf den Rucken und bewegte sich gerade so viel, da? er nicht untersank. Mit tiefen Zugen atmete er die Luft ein. Uber ihm wolbte sich ein wolkenbehangener Himmel mit nur wenigen Sternen. Von Zeit zu Zeit lie? der Mond sich sehen. Paolo hob den Kopf und versuchte sich zu orientieren, in welche Richtung er schwimmen musse.
        Um ihn her Wasser, Wellen, Rauschen, wei?e Schaumkamme und das Heulen des Windes!
        Er wu?te, da? der Strand des Lido in der Nahe war. Aber wo lag er? Immer wieder hob er, die Schmerzen unterdruckend, den Kopf und suchte den dunklen Schatten des Landes. Nichts war zu sehen. Er uberlegte, da? der Wind, wenn er seine Richtung nicht geandert hatte, parallel zum Ufer wehte, er sich also links halten, quer durch die Wellen schwimmen musse. Die leichte Benommenheit, die wie ein Reif um seine Stirn gelegen hatte, war gewichen. Mit kraftigen Bewegungen, den rechten Arm moglichst schonend, schwamm Paolo los. Er wollte nicht untergehen, alles in ihm baumte sich gegen den nassen Tod auf, der ihn von allen Seiten umlauerte. Wie lange schwamm er schon? Er hatte jeden Sinn fur die Zeit verloren. Seine Bewegungen waren matter geworden, er hob auch nicht mehr den Kopf, um nach dem Land Ausschau zu halten. Das ware eine unnotige Anstrengung gewesen. Seine Kraft reichte gerade noch aus, um sich uber Wasser zu halten und langsam, unendlich langsam vorwartszubewegen.
        Paolo wurde mude, er schlo? die Augen, traumte, er lage geborgen in einem Bett, das Heulen des Windes und das Tosen des Wassers klang immer ferner, er verga? die Schwimmbewegungen, die Beine sanken und fanden Grund. Paolo wachte mit einem Schlage aus seiner Betaubung auf. Er war in der Nahe des Landes, stand auf festem Boden. Das Wasser reichte ihm kaum bis zur Brust, und vor ihm lag das Ufer.
        Die Wellen hatten nachgelassen, er war unbemerkt in eine schutzende Bucht hineingeschwommen. Langsam ging er auf das Ufer zu. Er taumelte, als das Wasser ihm nur noch bis zu den Waden reichte, schleppte sich mit seiner letzten Kraft weiter und sank auf dem weichen gelben Dunensand nieder.


        Funfzig Schritt entfernt von der Stelle, wo Paolo fest und ohne Traume schlief, stand die Hutte des alten Dimitro, von dem man sagte, da? er schon hundert Jahre alt sei. Er selbst wu?te das Jahr seiner Geburt nicht mehr, nur soviel konnte er sagen, da? er zu jener Zeit, als Kaiser Barbarossa und Papst Alexander III. in Venedig sich trafen, schon ein denkender Knabe gewesen war. Und diese Begegnung zwischen den beiden gekronten Hauptern der Christenheit hatte vor einundneunzig Jahren stattgefunden.
        Acht andere mit Schilf gedeckte Fischerhauser befanden sich, in einem unregelma?igen Halbrund gebaut, in der Nahe von Dimitros Hutte. Er selbst fuhr zwar nicht mehr zum Fang hinaus, machte sich aber den anderen durch vielerlei Arbeiten nutzlich - Netze flicken, Fische dorren, Kahne reparieren, Reusen flechten - so da? man ihm gern seinen Anteil von der Ausbeute des Fanges gab.
        Dimitro war der erste, der sich von seinem Lager erhob. Der Sturm hatte sich ausgetobt, die Lagune schimmerte im Zwielicht, als sei nichts geschehen in der vergangenen Nacht. Der Mond stand am Himmel, bla? und ohne Leuchtkraft, und die Lichter der Sterne verloschten.
        Neben einem Fischerkahn, der zum Schutz gegen die gierigen Wellen auf den Strand gezogen worden war, lag ein dunkler Gegenstand: Dimitros hundertjahrige Augen waren noch so scharf wie die eines jungen Menschen, nichts entging ihnen, was den gewohnten Anblick storte. Er glaubte zuerst, es handele sich um ein Stuck angeschwemmtes Holz, bemerkte dann aber, da? ein Mensch dort lag, der nur mit einer Hose bekleidet war.
        Dimitro stand lange vor dem ruhig atmenden Korper, bis er sich entschlo?, ihn wachzurutteln. Als er sich niederbeugte, erkannte er an der Schwellung, da? die Schulter des Mannes verletzt war. Vorsichtig weckte er ihn.
        Der Herbstmorgen stieg kuhl aus dem Wasser. Noch verbarg sich die Sonnenkugel hinter dem Horizont. Paolo fror, als er die Augen offnete, und spurte bei den ersten Bewegungen den Schmerz im Schultergelenk. Er sah in ein uraltes Greisengesicht und glaubte, er traume noch. Aber Dimitro lie? ihn nicht lange im unklaren daruber, da? er keine Traumerscheinung, sondern ein lebendiger Mensch sei. Paolos Erinnerung an die Erlebnisse der vergangenen Nacht kehrten zuruck. Und da er keinen Augenblick daran zweifelte, da? die Schmugglerbarke des Kapitans Matteo von den Schergen aufgebracht worden war, redete er mit beschworenden Worten auf den alten Fischer ein.
        ëVersteckt mich, Gro?vaterchen, die Schergen sind mir auf den Fersen. Ihr konnt mir glauben, da? ich kein Verbrechen begangen habe. Ich bin da in eine Sache hineingeratenÅ nachher erzahl ich Euch alles. Versteckt mich jetzt, ehe es Tag wird.»
        Das trube Licht der Dammerung breitete sich uber Wasser und Land aus und lie? die Konturen der Hutten und Kahne deutlicher werden. Der Alte sah aufmerksam in Paolos Gesicht. Eine bange Weile dauerte die schweigende Musterung. ëKomm!» sagte er dann und winkte.
        Paolo erhob sich muhsam und folgte dem Alten. Im Gehen versuchte er, seinen rechten Arm zu bewegen. Er schmerzte zwar sehr, aber er glaubte festzustellen, da? er nicht ernsthaft verletzt war.
        Dimitros Hutte bestand nur aus einem Raum, in dem es so stark nach Fisch roch, da? Paolo einen Augenblick lang den Atem anhielt. Dimitro brannte eine Olfunzel an und wies auf ein Schilflager in der Ecke des Raumes.
        Paolo legte sich, erschopft von dem kurzen Weg, nieder und lie? es geschehen, da? der Alte ihn mit einer zerlumpten Decke zudeckte. Er horte im Halbschlaf, wie es sich in den benachbarten Hutten regte, leise Stimmen, Gerausche zuschlagender Turen, Schritte im Sand, dann schlief er fest ein und erwachte erst, als die Sonne durch das winzige Fenster hereinschien.
        Mit offenen Augen lag er da und uberlegte, was nun weiter zu tun sei. Zunachst blieb ihm nichts anderes ubrig, als sich der Pflege und Verschwiegenheit des Alten anzuvertrauen. Das Wichtigste war, da? die Schulter ausheilte, damit er wieder in den vollen Besitz seiner Krafte kam. Au?er seiner Hose besa? er nichts auf dem Leibe. Seine Lage war wirklich nicht beneidenswert. Aber er war schon froh daruber, den Schergen entronnen zu sein; nun galt es, sich auch weiterhin ihrem Zugriff zu entziehen, denn er hatte keine Lust, ins Gefangnis geworfen oder zu lebenslanger Galeerenarbeit verurteilt zu werden.
        Er beschlo?, sobald sein Gesundheitszustand es erlaubte, das Gebiet der Republik von San Marco zu verlassen und nach Suden zu ziehen. Irgendwo wurde er schon eine Arbeit und ein Unterkommen finden. Es fiel ihm schwer, von Venedig Abschied zu nehmen, besonders wenn er an Giovanni, Marco und Giannina dachte. Aber er wu?te sich in seiner Not keinen anderen Rat. Das einzige, was ihm zu tun ubrigblieb, war, den Kindern auf irgendeine Weise Nachricht zu geben, da? er sich noch am Leben befand und nach Jahren vielleicht wieder nach Venedig zuruckkehren wurde.
        Wahrend er so grubelte, horte er, wie leise die Tur geoffnet wurde. Er wandte den Kopf und sah ein etwa achtzehnjahriges schlankes Madchen im Turrahmen stehen.
        ëGro?vater schickt mich», sagte sie mit scheuer Zuruckhaltung, ëschlaft Ihr noch?»
        Paolo lachelte. ëNein», erwiderte er, ëich schlafe nicht mehr. Aber tretet doch naher, ich mochte gern mit Euch reden.»
        Sie schuttelte den Kopf. ëGro?vater hat mir verboten, mit Euch zu reden.»
        Aber die Neugierde stand in ihrem Gesicht geschrieben. Sie warf einen Blick hinaus, sah, da? Dimitro zum Strand hinunterging, und schlupfte hinein.
        ëNur auf einen Sprung», sagte sie hastig, ësagt, wo kommt Ihr her? Gestern wart Ihr noch nicht hier. Und warum tut Gro?vater so geheimnisvoll?»
        ëIhr durft doch nicht mit mir reden!» mahnte Paolo. Sie verzog argerlich das Gesicht. Da war wieder einer, der sie wie ein kleines Madchen behandeln wollte. ëDann gehe ich eben, Messer Unbekannt», sagte sie. ëDenkt nicht, da? ich neugierig auf Eure Geschichte bin.»
        ëBleibt nur», sagte Paolo, ëes war doch nur Spa?. Gern will ich Euch erzahlen, was mir geschehen ist, wenn Ihr mit keinem Menschen daruber redet.»
        Ihr Unmut verflog im Nu. ëErzahlt es mir», bat sie eifrig, ëvon mir wird keiner etwas erfahren. Aber beeilt Euch, ehe der Gro?vater zuruckkommt.»
        Sie lie? sich neben seinem Lager nieder und sah ihn mit neugierig funkelnden Augen an.
        Paolo meinte, da? es besser sei, ihr nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Ihr Mund sah gar zu geschwatzig aus. So erzahlte er ihr, er sei wahrend einer nachtlichen Segelfahrt uber Bord gespult worden und hatte sich hier mit letzter Kraft an Land gerettet. Es machte ihm Freude, ihr Mienenspiel zu beobachten, das zwischen Mitleid und Enttauschung schwankte. Mitleid, weil er verletzt worden war und erschopft vor ihr lag; Enttauschung, weil sie eine geheimnisvolle Geschichte an Stelle dieser alltaglichen erwartet hatte.
        ëNun will ich zum Gro?vater laufen und ihm sagen, da? Ihr wach seid», sagte sie. Da wurde schon die Tur geoffnet. Dimitro trat herein. Das Madchen sprang auf. ëEben wollte ich zu Euch kommen, Gro?vater», rief sie und druckte sich an ihm vorbei.


        Der Alte ging wortlos zu Paolos Lager. ëErzahle», sagte er, und Paolo wunderte sich uber den kraftvollen Klang seiner Stimme.
        Paolo berichtete. Dimitro bereitete ihm indes ein Fruhstuck. An gelegentlichen Bemerkungen erkannte Paolo, da? er jedes Wort verfolgte.
        ëI? erst mal», sagte der Alte, als Paolo geendet hatte. ëWirst Hunger haben!» Er setzte ihm Brot und gedorrten Fisch vor, den er einer Holzkiste in der Ecke entnahm. Paolo, der lange Zeit nichts gegessen und gro?e Anstrengungen hinter sich hatte, verspurte merkwurdigerweise keinen Appetit. Er a? einige Bissen Brot, schob das Essen dann von sich.
        ëEntschuldigt, Gro?vater», sagte er, ëaber ich kann jetzt nichts essen.» Seine Stirn und seine Wangen gluhten, und der Kopf schmerzte ihm.
        Dimitro, der ihn beobachtet hatte, befahl ihm, sich umzudrehen. ëBrauchst dir keine Sorgen zu machen», sagte er, ëich spreche heute abend mit den anderen. Du bleibst hier, bis du wieder gesund bist. Wir liefern keinen an die Schergen aus, wenn er nicht gerade ein Dieb oder ein Morder istÅ Nun bei? die Zahne zusammen!»
        Dimitro untersuchte die verletzte Schulter, bewegte den rechten Arm des Kranken und murmelte unverstandliche Worte. Paolo spurte gro?e Schmerzen und eine fliegende Hitze, die den ganzen Korper ergriff.
        ëBleib liegen!» befahl der Alte. Er verlie? die Hutte und kam bald darauf mit einer Salbe zuruck. Wieder die unverstandlichen Worte murmelnd, bestrich er die kranke Schulter und band sie mit einem Tuch fest ein.
        ëDu darfst dich nicht bewegen, Junge», murmelte Dimitro, ëich werde dich wohl langere Zeit beherbergen mussen.»
        Am Abend standen funf Fischer um Paolos Lager und beratschlagten, was zu tun sei. Dimitro hatte ihnen die Geschichte des Fremden erzahlt. Sie beschlossen, ihm Obdach zu gewahren, bis er gesund sei, und ihm dann zu helfen, ungesehen fortzukommen. Das schlanke Madchen, eine Urenkelin des Alten, sollte ihn pflegen.
        Paolo horte von alledem nichts. Ein heftiges Fieber hatte ihn befallen. Die Fischer hatten ihm zwei Decken gebracht, damit er nicht friere in der Nacht. Sie lagen wie eine Bergeslast auf ihm; er versuchte sie abzuwerfen, aber als er sich aufrichtete, ri? ihn ein furchtbarer Schmerz in der Schulter zuruck, der eine Feuerlohe uber den ganzen Korper jagte.
        Ein Tor tat sich auf, davor gahnte ein Abgrund, in dem tosend das Wasser brauste. Er wollte zuruckweichen; eine fremde Gewalt zwang ihn, den Fu? vorzusetzen, und als er zu sturzen drohte, wurde es hell. Eine breite Treppe, von Sonne uberstrahlt, fuhrte zu einem stillen See, dessen Ufer von Marmor eingefa?t waren. Am Ufer winkten Giovanni, Giannina und Marco. ëKomm zu uns, Paolo. Wir warten auf dich. Komm!» Er sprang die Treppe hinunter, die winkenden Kinder wichen zuruck, je schneller er lief, um so weiter entfernten sie sich von ihm. ëGiannina!» rief er. ëGiovanni! Marco! Bleibt doch. Warum rennt ihr weg?»Å Es wurde finstere Nacht, der stille See verwandelte sich in ein brullendes Meer, das uber die Ufer trat und sich auf ihn warf. Er versank in dem grundlosen Wasser.
        ëGiannina», rief er mit letzter Kraft.
        Giulia, die Urenkelin des Alten, pflegte ihn. Sie horte seine Fieberschreie. Wenn er aus seinen Phantasien erwachte und die schweren Lider hob, kam sie zu ihm, um den Verband zu erneuern oder kalte Umschlage auf seine Stirn zu legen, die das innere Feuer, das ihn zu verzehren drohte, bannen sollten. Oder sie flo?te ihm kuhles Wasser zwischen die rissigen Lippen. Er wollte die Zunge bewegen, um einige Worte zu sagen, und wunderte sich, wieviel Muhe das kostete. Wochen vergingen, bis er wieder richtig sprechen und klar denken konnte.
        Er bewegte den rechten Arm und stellte erfreut fest, da? die Schmerzen verschwunden waren. Giulia freute sich mit ihm, als sei sie selbst von der schweren Krankheit genesen. Aber mager war er geworden.
        Als das Madchen die Stube verlie?, tastete er mit den Fingern sein Gesicht ab. ëIch mu? ja wie ein Totenschadel aussehen», sagte er fur sich, ëuberall spure ich die Knochen. Und einen Bart habe ich wie ein Seerauber.»
        An den Fischgeruch in der Hutte hatte er sich gewohnt, der gehorte dazu wie das winzige Fenster mit der Aussicht zum Strand und zur Lagune und die geschickten braunen Hande des alten Dimitro, der abends beim Schein der truben Olfunzel am Tisch sa? und Heiligenfiguren oder kleine Segelschiffe schnitzte.
        Paolo richtete sich von seinem Lager auf, stutzte sich auf die Arme und blickte stolz umher. Giulia kam wieder in die Stube und schlug uberrascht die Hande zusammen. ëIhr konnt ja schon sitzen», jubelte sie. ëDas mu? ich dem Gro?vater erzahlen. Ich will Euch gleich das Essen zubereiten. Ihr mu?t viel essen, damit Ihr wieder zu Kraften kommt.» Sie kochte ihm eine Fischsuppe, die er mit gro?em Appetit verzehrte.
        Langsam erholte sich der von der Krankheit geschwachte Korper, so da? er daran denken konnte, in den nachsten Tagen aufzubrechen. Er sagte es Dimitro.
        ëBleib noch eine Woche, dann kannst du gehen», sagte der Alte. Er hatte Paolo in sein Herz geschlossen und wurde ihn gern noch langer beherbergt haben. Aber er spurte mit der Weisheit des Alters, da? Paolo unruhig war, solange er sich auf venezianischem Boden befand.
        Giulia hatte ihn die ganze Zeit aufopfernd gepflegt. An einem Abend hatte er ihr auch wahrheitsgetreu erzahlt, wie er auf die Schmugglerbarke gekommen war, seinen Kampf mit Kapitan Matteo und den Sprung uber Bord geschildert. Sie wu?te nun, da? er weggehen wurde, um vielleicht niemals zuruckzukehren.
        Eine Frage qualte sie, die sie nicht langer zuruckhalten konnte.
        Drau?en regnete es. Die Fischer waren mit ihren Booten und Netzen hinausgefahren. Gro?vater Dimitro war in das nahe Dorf gegangen, um gedorrte Fische zu verkaufen. Paolo sa? am Tisch und schaute durch das kleine Fenster auf den verlassenen Strand. Giulia bereitete in einer holzernen Mulde den Brotteig zu. ëGro?vater hat mir gesagt, da? Ihr bald weggeht», sagte sie. Paolo nickte.
        ëWas wird aber Giannina sagen, Eure Braut?» Sie richtete sich auf und strich mit dem Unterarm die blonden Haare aus der Stirn. Ihr Gesicht war gerotet. ëImmer fallen mir die Haare ins Gesicht», sagte sie und lachte dabei.
        ëWas Giannina sagen wird?» fragte Paolo erstaunt. ëMeine Braut?» Sie knetete den Brotteig und war ganz in ihre Beschaftigung vertieft.
        ëNun ja», warf sie hin. ëIhr habt in Euren Fiebertraumen so oft von Giannina gesprochenÅ Mir ist es ja gleich. Ich habe nur einmal gefragt.»
        ëSo so», erwiderte Paolo, ëja, was wird sie wohl sagen?»
        ëSie wird sehr traurig sein, meint Ihr nichtÅ Ach, da habe ich doch vergessenÅ» Sie lief in den Regen hinaus, ohne Tuch, mit dem Brotteig an den Handen. Nach einer Weile kam sie mit nassen Haaren zuruck.
        ëEin Wetter!» sagte sie.
        Paolo sah wieder zum Fenster hinaus. Unaufhorlich fielen die Regentropfen auf das Wasser. Er dachte an Marco; er hatte Sorge, da? Messer Pietro Bocco etwas gegen ihn unternehmen wurde. Fur Giannina und Giovanni befurchtete er nichts, er war nur traurig, weil er sie wahrscheinlich lange Zeit nicht wiedersehen wurde, vielleicht niemals mehr. Bevor er wegging, wollte er Dimitro bitten, da? er Marco einen Gru? ubermittelte.
        Giulia hatte ihn etwas gefragt und war in den Regen hinausgerannt. Jetzt stand sie wieder vor der holzernen Mulde. Warum war er ihr die Antwort schuldig geblieben? ëIch sehe, da? Ihr traurig seid», sagte sie.
        ëGiannina ist nicht meine Braut», erwiderte er. ëAber Ihr habt recht, Giulia, sie wird sehr traurig sein, auch Giovanni und MarcoÅ»
        Giulias Gesicht wurde froh und traurig zugleich. Sie konnte sich vieles, was sie bewegte, nicht erklaren. Ihre Hande steckten im Brotteig, und ihr Gesicht war uber die holzerne Mulde geneigt. ëAuch ich werde traurig sein, wenn Ihr weggeht, Paolo», sagte sie.
        Am nachsten Abend nahm Paolo Abschied von Venedig, von der schweigenden Gastfreundschaft der Fischer, von Dimitro, dem Hundertjahrigen mit den jungen Augen in dem braunen, faltigen Greisengesicht.
        Von Giulia.
        ëVielleicht kommt Ihr einmal wieder?» sagte das Madchen. Sie standen im Kreis um ihn herum. Es war dunkel. Die Fu?e in den groben Fischerschuhen standen im Sand. Das Wasser schimmerte fahl. ëIch danke euch allen», sagte Paolo.
        Und zu Giulia: ëBestimmt komme ich einmal zuruck, Giulia.»
        Der Abschied war schwer. Er hatte eine neue Heimat gefunden und mu?te sie schon wieder verlassen.
        Ein Boot brachte ihn zum Festland. Die Fischer hatten Paolo ein Hemd, eine Jacke und Schuhe gegeben.
        Da stand er nun auf der Landstra?e, ein Leinensackchen mit gedorrtem Fisch und Brot in der Hand, ganz allein auf sich gestellt, gesund und kraftig nach der langen Krankheit und mit einem frohen, freien Gefuhl, das starker war als der Abschiedsschmerz. Jetzt begann sein eigenes Leben, bisher hatte er nur fur andere gelebt, war immer dagewesen, wenn man ihn brauchte, treu und zuverlassig, die eigenen Wunsche und Sehnsuchte tief im Herzen verborgen. Ein braves kleines Leben!
        In der sturmischen Nacht, als er mit den Fausten auf Kapitan Matteo losgegangen war, hatte etwas Neues begonnen.
        Wie wird es weitergehen, Paolo? Vor ihm liegt die Landstra?e, die nach Suden fuhrt, durch Stadte, deren Namen man mit Ehrfurcht nennt, uber Hugel, Berge und Felsen, an der Meereskuste entlang, durch dichte Walder und Olivenhaine.
        Und Paolo wanderte uber diese staubige Stra?e, arbeitete als Lasttrager in einer kleinen Hafenstadt, trug in einer Butte Erde den Berg hinan, die der Regen hinuntergespult hatte, half bei der Orangenernte am Golf von Gaeta, bettelte um Brot in der heiligen Stadt Rom, schlief in Stallen, Scheunen und Gasthausern, wanderte, wanderte und traumte vom Canal Grande und einer Fischerhutte am Strande der Lagune.
        Sein nachstes Ziel war Neapel, die Stadt am Fu?e des Vesuvs, der duster aus dem blauen Meer aufsteigt.
        Seine Bischofliche Gnaden reiste von Neapel nach Rom. Papst Clemens IV. war vor einiger Zeit, am 29. November 1268, gestorben, und noch immer war kein Nachfolger gewahlt worden. Da war es gut, des ofteren in Rom zu weilen. Der Bischof fuhrte dreitausend Unzen mit sich, geborgen unter dem Sitz seiner Kutsche. Seine Bischofliche Gnaden reiste mit bewaffneten Kriegsknechten; denn auf dieser Stra?e trieb ein Stra?enrauber sein Unwesen, von dem man sagte, da? er den adligen Herren nicht wohlgesinnt sei.
        Die Rader der Kutsche rollten uber den Staub der Stra?e. Die ersten Januartage des neuen Jahres hatten Wind und Regen gebracht, heute aber war der Himmel blau, und die Sonnenstrahlen kundigten den Fruhling an. Schon bedeckte sich das Land mit einem zartgrunen Schleier, und die Knospen begannen aufzubrechen. Rechts am schroffen Felsabhang hingen die Hauser eines jahrtausendealten Felsennestes, das nur auf schmalen Mulipfaden und uber in den Fels gehauene Treppen erreicht werden konnte. Seine Bischofliche Gnaden mu?te genau hinsehen, wenn sie die grauen Hauser vom Grau der Felsen unterscheiden wollte.
        uber eine Treppe schritten zwei Frauen, hohe Tonkruge frei auf den Kopfen tragend. Sie schritten wie Koniginnen, stolz, mit edlen, unnahbaren Gesichtern, und verschwendeten keinen Blick an die auf der Landstra?e Vorbeiziehenden.
        Die Hufe der Pferde bewegten sich im leichten Trab. Die Kriegsknechte hatten die Hellebarden uber die Schultern gelegt. Funfundzwanzig ritten vor der Kutsche, funfundzwanzig hinter der Kutsche - ein ganzer Hellebardenwald. Und in der Mitte Seine Bischofliche Gnaden mit dreitausend Unzen Gold und einem Korb voll leckerer Speisen.
        Die Rader rollten uber den Staub der Stra?e. Die Sitze der Kutsche waren mit rotem Samt uberzogen. Die Schuhe des Bischofs standen auf einem Teppich, kleine Schuhe an kleinen Fu?en, die einen schweren Korper tragen mu?ten. Seine Bischofliche Gnaden nahm einen Platz ein, der sonst fur zwei gereicht hatte. Die Sonnenstrahlen schienen durch die Scheiben. Der Bischof zog die Vorhange zu.
        Er war den zweiten Tag unterwegs, nichts war bisher geschehen. Warum sollte nicht auch heute alles gut gehen? Er lehnte sich zufrieden und einigerma?en beruhigt in die Polster zuruck. Noch immer war nicht entschieden, wer der Nachfolger des Heiligen Vaters werden wurde. Konnte es nicht sein, da? man ihn in die engere Wahl zog? Seine Bischofliche Gnaden gab sich langere Zeit diesem angenehmen Gedanken hin.
        Die Kriegsknechte naherten sich einem Wald. Sie packten die Hellebarden fester. Einsam lag die Landstra?e, kein Kaufmannszug, kein fahrendes Volk, kein Hund und keine Katze. Der Schatten des Waldes nahm sie auf, dichter Laubwald mit ersten, noch zusammengefalteten Blattern an den Spitzen der Zweige, von Sonne durchflutet, glatte und rauhe Stamme und Gestrupp auf dem kuhlen Waldboden.
        Ein hochgewachsener, breitschultriger und hungriger Mann kam dem Bischofszug entgegen. Sie trafen sich an der Stelle, wo die Baume links und rechts der Stra?e zuruckwichen, als hatte die Natur sich hier einen Festraum geschaffen.
        Paolo war es, der dem Bischof begegnete. Er wanderte nach Neapel und freute sich, weil die Sonne schien. Der Bischof reiste nach Rom und hatte die Vorhange zugezogen. Paolo hielt den Hut in der Hand und trat zur Seite, um die Bewaffneten vorbeizulassen. Die Scheiben der Kutsche klirrten.
        Seine Bischofliche Gnaden verspurte Hunger und griff in den Korb, der ihm gegenuberstand.
        Hinter den Baumen wieherten Pferde, aber sie befanden sich in genugender Entfernung, so da? die Bewaffneten sie nicht horen konnten.
        Angiolino, der Konig der Felder, stand hinter einem glatten Baumstamm und beobachtete, wie der Bischofszug sich der Mitte der Lichtung naherte. Es war sehr still im Wald, nur die Vogel zwitscherten oder flogen in den Zweigen umher.
        Milchgesicht hatte, wie es in der letzten Zeit des ofteren geschehen war, einige Kruge Wein getrunken. Er rulpste laut. Angiolino warf ihm einen wutenden Blick zu.
        Hinter jedem Baumstamm stand ein bewaffneter Mann. Im Hintergrund hielten zehn andere die Pferde bereit. Der Uberfall war bis in alle Einzelheiten vorbereitet worden. Drei Spaher hatten Angiolino standig uber Ziel und Reisegeschwindigkeit unterrichtet, funf andere hatten den gunstigsten Platz fur den Angriff ausgemacht und einen Pfad durch das Dickicht bis zu einer kleinen Lichtung mitten im Wald geschlagen, wo die Pferde untergebracht werden konnten. Ein zweiter Pfad, der als Fluchtweg dienen sollte, fuhrte von dort wieder zur Stra?e zuruck.
        Angiolino hob die Hand. Das Zeichen wurde von Baum zu Baum weitergegeben. Die Bewaffneten sturmten mit eingelegten Lanzen ohne Geschrei auf die Stra?e zu. Angiolino hatte es so angeordnet, damit die Begleiter des Bischofs erst im letzten Augenblick gewarnt wurden. Er wollte, da? die Uberfalle moglichst ohne Blutvergie?en abgingen.
        Milchgesicht aber, angefeuert durch den Wein und aus Widerspruchsgeist gegen Angiolinos Oberbefehl, stie? einen durchdringenden Schrei aus.
        Der Konig der Felder erreichte an der Spitze eines zehnkopfigen Trupps als erster die Stra?e. Bevor die Kriegsknechte des Bischofs zur Besinnung kamen, starrten ihnen von drei Seiten die Lanzen der Stra?enrauber entgegen. Die vierte Seite war offengehalten worden zur Ermutigung fur diejenigen, die ihr Leben mehr liebten als den Geldsack des Bischofs.
        Es hatte sich in der Gegend von Rom bis Neapel in Windesschnelle das Gerucht verbreitet, da? der Konig der Felder mit seinen Leuten den Kriegsknechten, die als Begleiter reicher Herren angeworben worden waren, kein Haar krummte, wenn sie keinen Widerstand leisteten. Auf der anderen Seite war es so, da? sie ja ihren Sold nicht erhielten, um davonzulaufen, wenn Gefahr drohte. Sie konnten dafur zur Rechenschaft gezogen werden.
        Der Anfuhrer der Kriegsknechte befand sich im Angesicht der verwegenen Gesichter der Stra?enrauber und der starrenden Lanzenspitzen fur einen Augenblick in heftigem Zwiespalt, aber da er der Anfuhrer war und ziemlich weit hinten stand, gab er den Befehl zum Angriff.
        ëDrauf und dran!» schrie er mit gellender Stimme und wendete sein Pferd, so da? es den Stra?enraubern sein kraftiges Hinterteil zeigte.
        Bevor jedoch die Kriegsknechte ohne Begeisterung ihrer Pflicht nachkommen konnten, gab es eine uberraschende Wendung. Da war ja noch Paolo, der hungrige Mann mit dem Hut in der Hand, der wieder einmal ohne sein Zutun in eine Sache hineingeraten war, die bose auszugehen drohte. Er uberlegte nicht so lange wie die Kriegsknechte, ri? einem die Hellebarde aus der Hand und sturmte dem Trupp entgegen, der von Angiolino gefuhrt wurde.
        Im gleichen Augenblick gab es eine zweite Uberraschung. Die Tur der Kutsche offnete sich, zwei kleine Schuhe an kleinen Fu?en sprangen behende vom weichen Teppich auf den Staub der Stra?e und prasentierten den Blicken der Stra?enrauber einen dickleibigen, in Brokat und Samt gekleideten Korper mit unerschrockenem Gesicht. Seine Bischofliche Gnaden verfugte uber gewaltige Worte, die schon manchem armem Sunder in der Kirche und im stillen Kammerlein hei?e und kalte Schauer uber den Rucken gejagt hatten.
        ëHebt euch hinweg, ihr Teufelssohne!» rief er und hob in heiligem Zorn die Arme. ëVergreift euch nicht an einem Diener des Herrn.» Er trat, das uberraschte Schweigen ausnutzend, auf Milchgesicht zu in der edlen Absicht, den Jungling auf den rechten Weg zuruckzufuhren. ëUnd du, mein Sohn, mit dem sanften, kindlichen Gesicht, was hat dich in diese bose Gesellschaft gefuhrt? Kehre um, ehe es zu spat istÅ»
        ëAufhangen!» krahte die wutende Stimme Milchgesichts dazwischen. Seine Bischofliche Gnaden erbleichte, die gewaltigen Worte erstarrten auf seinen Lippen. Die kleinen Schuhe an den kleinen Fu?en trippelten aufgeregt zur Kutsche und stiegen aus dem Staub der Stra?e auf den weichen Teppich.
        Paolo war, nachdem er zwei Stra?enrauber niedergeschlagen hatte, von den anderen uberwaltigt worden. Als er sah, wie die Kriegsknechte auf Befehl Angiolinos die Hellebarden wegwarfen und ihrem Anfuhrer schleunigst auf der fursorglich offengehaltenen Seite in den Wald hinein folgten, sagte er sich, da? er ein Narr gewesen sei. Aber was geschehen war, lie? sich nicht mehr andern, er mu?te die Folgen tragen.
        Der Kutscher sa? auf seinem Bock und wickelte seinen Bart um den Zeigefinger. Mit der freien Hand hielt er die Zugel straff.
        Die Stra?enrauber standen in guter Ordnung auf ihren Platzen. Auf einen Wink Angiolinos trat der gewahlte Schatzmeister der Truppe vor und bestieg die Kutsche. Dem Bischof, der ihm entsetzt in das sachliche, zum Geldzahlen bereite Gesicht starrte, bedeutete er, auf der anderen Seite auszusteigen. Er hielt es nicht der Muhe wert, Seine Bischofliche Gnaden nach dem Aufbewahrungsort des Geldes zu fragen, warf nur einen fluchtigen Blick auf Samt und Goldbrokatdeckchen, hob mit kundiger Hand den Sitz an und trat gleich darauf mit einem wohlgefullten Sackchen auf die Stra?e. Seine Miene strahlte vor Zufriedenheit uber seine sichere und erfolgreiche Arbeit. Als er die Tur der Kutsche zuschlug, fiel die Scheibe heraus und zerbrach auf dem festen Boden der Stra?e.
        Der Schatzmeister sah Angiolino fragend an. ëWie ublich», sagte dieser.
        ëNimm doch alles!» rief Milchgesicht entrustet. ëHangt den Dicken auf. Kann Bischofe nicht leiden.» ëSchweig!» herrschte Angiolino ihn an.
        Der Schatzmeister zahlte gewissenhaft. Er sortierte die Munzen zu zwei gleichma?igen Haufen. ëDreitausend Unzen», sagte er, zog einen oft benutzten Beutel aus der Tasche und schuttete tausendfunfhundert Unzen hinein. Die anderen wanderten in den Beutel seiner Bischoflichen Gnaden zuruck. Er war nur halb gefullt, aber immer noch recht stattlich anzusehen. Angiolino nahm ihn und ging zum Bischof, der angstlich neben der Kutsche stand.


        ëHier habt Ihr funfzehnhundert Unzen», sagte er, ëund nun geleite Euch Gott.»
        Dann gab er den Befehl zum Aufbruch. Schneller als seine Bischofliche Gnaden erwartet hatte, waren die Stra?enrauber im Wald verschwunden.
        Auf der Stra?e lag eine zerbrochene Hellebarde, stand eine Kutsche mit einer fehlenden Scheibe und ein Bischof mit funfzehnhundert Unzen und einem verblufften Gesicht.
        Der Himmel war blau, die Sonne schimmerte durch das Filigran der Zweige, es roch nach Wald und Fruhling.
        Ein Bauerlein kam wohlgemut seines Weges daher. Er zog einen Handwagen, auf dem ein liebevoll mit einem Stuck Leinentuch bedeckter Ziegenbock stand. Als er an die Stelle kam, wo soeben der Uberfall geschehen war, und die Kutsche, die zerbrochene Hellebarde und den um seine Pferde und den Bischof besorgten Kutscher gewahrte, verbeugte er sich in Ehrfurcht vor dem hohen Herrn und wollte mit Handwagen und Ziegenbock eiligst vorbei.
        ëDu Teufelsbraten, siehst du denn nicht, da? man hier einen Diener Gottes uberfallen hat», schrie Seine Bischofliche Gnaden, ësofort eilst du und alarmierst die Schergen. Stra?enrauber haben mich uberfallen. Eine ganze Kompanie soll kommen. Lauf, so schnell dich deine Beine tragen!» ëJawohl, Euer Gnaden.»
        Das Bauerlein setzte sich gehorsam in Trab. Die Rader des Handwagens hupften uber die Stra?e, der Ziegenbock, angstlich bemuht, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, meckerte uber die unwurdige Behandlung.
        Nach einer Wegbiegung sah sich das Bauerlein vorsichtig um. Seine Bischofliche Gnaden und die Kutsche waren nicht mehr zu sehen. Er lief langsamer und bog in einen Waldpfad ein.
        Nachdem er sich genugend weit von der Landstra?e entfernt glaubte, hielt er an, offnete den Schub und halb dem Bockchen, vom Wagen zu kommen.
        ëSo, nun weide hier», murmelte er. ëWirst schon was finden. In die Geschafte hoher Herren soll man sich nicht hineinmischen.» Er band das Bockchen an einen Baum und legte sich an einer sonnigen Stelle zu einem Schlafchen nieder.
        Angiolino befahl, Paolo zum nahe gelegenen Schlupfwinkel der Rauber mitzuschleppen. Milchgesicht knurrte wutend, wagte aber keine Widerrede. Die Wirkung des Weins lie? nach. Die Worte des Bischofs hatten ihn zutiefst getroffen. Er ha?te jeden, der auf seine zarte Gesichtshaut und die kindlichen Zuge anspielte, die allerdings, wenn man genauer hinsah, Kalte und Grausamkeit nicht verbergen konnten. Er kochte innerlich vor Wut, da? er sich an dem Dicken nicht hatte rachen durfen.
        Die beiden Rauber, die Paolo niedergeschlagen hatte, waren wieder guter Dinge. Der eine trug an der Stirn mit Stolz eine riesige Beule zur Schau.
        Paolos Hande waren gefesselt. Man hatte ihm einen Strick um den Hals gelegt, dessen Ende sich in der Hand eines Reiters befand, so da? Paolo gezwungen war, wollte er nicht erdrosselt werden, schnell neben dem Pferd herzulaufen. Zum Gluck war die Strecke des Weges, die sie im Galopp auf der Stra?e zurucklegten, nicht weiter als tausend Schritt. Sie bogen in einen Seitenweg ein, der zum Fu? einer steilen Anhohe fuhrte. Angiolino lie? Paolo die Fesseln abnehmen. Milchgesicht ging dicht an ihm vorbei. ëOben wirst du gehangt!» flusterte er ihm zu.
        Paolo uberlegte, ob er den blutdurstigen Milchbart niederschlagen und einen Fluchtversuch unternehmen solle, sagte sich aber, da? das keinen Sinn habe. So beschlo? er, abzuwarten, was der Anfuhrer von ihm wollte, der einen guten Eindruck auf ihn gemacht hatte.
        Sie stiegen einen schmalen; steinigen Pfad hinan, zogen die Pferde an den Zugeln hinter sich her, hielten sich dicht an die Felsenmauer, stiegen hoher und immer hoher. Links klaffte ein Abgrund. Der Pfad war an manchen Stellen nicht breiter als funf Fu?; Steine, die sich unter den Tritten der Menschen und Pferde losten, fielen in die Tiefe.
        Unter ihnen lagen die grauen Hauser eines Dorfes, das wie das Nest eines Raubvogels in die Felsnischen gebaut war. Blickte man zuruck, sah man die gewundene Linie der Stra?e, einen schimmernden Flu?lauf und den Waldstreifen.
        Der Mulipfad fuhrte in das Felsgewirr und entzog die Schar den Augen neugieriger Beobachter. Lediglich vom Dorf aus waren sie noch zu sehen. Kamen aber die Schergen in dieses Dorf und fragten, ob die Bauern die Stra?enrauber gesehen hatten, zuckten diese mit den Achseln. Angiolino nahm den Reichen und gab den Armen. Man nannte ihn ëKonig der Felder», weil er starker und schlauer war als die Herren, denen die Acker, Wiesen, Gewasser und die armen Landleute gehorten.
        Paolo wischte sich den Schwei? von der Stirn. Leb wohl, Venedig, dachte er, lebt wohl, Dimitro und Giulia, lebt wohl, Giovanni, Giannina und Marco. Ein Schritt nach links und ich falle tausend Fu? tief in den Abgrund. Er war es nicht gewohnt, auf solchen halsbrecherischen Wegen zu gehen. Venedig war weit und eben und wurde nachts von den Wassern der Lagune in den Schlaf gewiegt.
        Der Weg stieg jetzt so steil bergan, da? Paolo auf allen vieren kriechen mu?te. Vom Dorf her sah es aus, als krochen seltsame Insekten eine Wand empor. Die Pferde setzten vorsichtig ihre Fu?e und hielten die Kopfe geneigt, da? die Mahnen fast den Boden beruhrten. Schimpfworte schallten durch die klare Luft, wenn die Hufe auf den Steinen ausrutschten.
        Endlich hatte Paolo die letzte steile Strecke uberwunden; er blieb einen Augenblick stehen, Wind zauste an seinem Haar und zerrte an den Kleidern. Ein rechteckiges weites Plateau, sparlich mit Gras und kniehohem Gebusch bewachsen, bot sich seinen Blicken dar. Kalt war es hier oben. Paolo bemerkte zu seinem Erstaunen eine ganze Anzahl Hauser, die vor Jahrtausenden aus Felssteinen erbaut worden waren und bisher jedem Sturm getrotzt hatten. Der Ackerbau hatte sich nicht mehr gelohnt auf dieser winddurchwehten ebenen Flache; aus diesem Grunde waren die Hauser seit uber hundert Jahren unbewohnt, bis Angiolino mit seiner Truppe hier eingezogen war.


        Nur der eine Pfad fuhrte zu dem Schlupfwinkel. Zwei Manner konnten ihn verteidigen, falls die Schergen einmal wagen sollten, sie anzugreifen. Nahrungsmittel lagen genugend bereit. Im Notfall konnte die Truppe eine zweijahrige Belagerung aushalten. Auch Wasser war vorhanden. Ein Bach, von einer Quelle gespeist, endete am Rand des Felsens in einem Wasserfall, der brausend in die Tiefe sturzte.
        Neben einem Haus brannte ein Feuer; zwei Manner brieten eine Ochsenkeule am Spie?. Ein Teil der Truppe blieb bei jedem Unternehmen zu Hause, um die notwendigen Arbeiten zu verrichten und von den Bauern der Umgebung Proviant einzukaufen. Sie zahlten gut, und die Bauern gaben ihnen gern von ihren Erzeugnissen ab.
        Paolo verga? beinahe, da? er als Gefangener herumlief. Er beobachtete mit regem Interesse, was hier oben geschah. Ganz unvermutet hatte sich seinen Blicken dieses seltsame Treiben auf dem Plateau, das den Himmel als Dach und die zerklufteten Felsen zu Wachtern hatte, dargetan, eine kleine Welt fur sich, in der andere Gesetze galten als einige tausend Fu? tiefer.
        Hier gab es keine Herren und keine Knechte. Angiolino war der gewahlte Anfuhrer, und wenn wichtige Entscheidungen zu treffen waren, rief er alle zusammen und beriet sich mit ihnen. Die Truppe bestand in ihrer Mehrheit aus armen Bauern, die ihren Herren davongelaufen waren, weil sie die Bedruckung nicht mehr ertragen wollten, oder aus Abenteuerlust an dem wilden, freien Leben, das sie in den Bergen zu finden glaubten. Es gab auch Raufbolde unter ihnen, der ubelste war Milchgesicht, Sohn eines heruntergekommenen Grafen aus Kalabrien. Er war vor Jahren von Hause weggelaufen, weil man ihn wegen eines Totschlages zur Rechenschaft ziehen wollte. Angiolino war bestrebt, einen nach dem anderen von diesen Gesellen zu entfernen.
        Der Kern der Truppe war gut und unterstutzte des Anfuhrers Gerechtigkeitssinn.
        Die Reiter hatten ihre Pferde versorgt, blieben in Gruppen stehen und unterhielten sich uber den gegluckten Uberfall oder gingen in die Hauser hinein. Paolo, statt uber einen Fluchtweg nachzudenken, stand noch immer im Banne des Lebens auf dem Plateau, das sich gleichsam auf einer riesigen steinernen Handflache, die in den Himmel hineingestreckt war, abspielte. Es hatte auch keinen Zweck gehabt, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Stand man am Rand der Hochflache, fielen die Felswande so steil bergab, da? jeder Abstieg den sicheren Tod bedeutete. Und der Mulipfad war bewacht, keine Maus konnte ungesehen vorbeischlupfen.
        Paolo hatte nicht langer Gelegenheit zum Schauen und Uberlegen. Ein junger Bursche, schlank, mit einem sommersprossigen Gesicht und rotlichem Haar, naherte sich.
        ëKomm, Fremder, ich mu? dich einsperren», sagte er, nicht unfreundlich, wie es Paolo schien.
        ëWas habt ihr mit mir vor?» fragte Paolo.
        ëWenn es nach Milchgesicht geht, wirst du aufgehangt.» Der Sommersprossige warf dem Gefangenen einen schnellen, prufenden Blick zu.
        Paolo erwiderte nichts. Im Augenblick war ihm alles gleichgultig. Hunger hatte er, seit Tagen hatte er nichts Vernunftiges gegessen. Sie gingen an dem Feuer vorbei, der Duft des gerosteten Ochsenfleisches stieg ihm in die Nase. ëIch hatte nichts dagegen, vor dem Aufhangen noch ein Stuck Ochsenfleisch zu essen», sagte er.
        Der Sommersprossige lachte auf. ëKomm nur», sagte er, ëdas Haus da druben ist es.»
        Er schob einen gro?en rostigen Riegel zuruck und offnete die Tur.
        Paolo ging hinein. Die Tur wurde wieder verriegelt. Er befand sich in einem gro?eren Raum, der fruher wohl als Stall fur zwei Pferde gedient hatte. Durch ein schmales, scheibenloses Fenster in der rechten oberen Ecke fiel Licht herein. Es genugte gerade, um die wenigen Einrichtungsgegenstande erkennen zu lassen: eine Bank, ein Krug, zwei Futterkrippen, eine Schutte Stroh, umgeben von nacktem Felsgestein.
        Paolo tastete die kuhlen Wande ab, setzte sich dann auf das Stroh. Er war mude nach dem wilden Lauf mit dem Strick um den Hals und der anstrengenden Kletterpartie. Durch die Tur horte er frohliche Zurufe, das Wiehern eines Pferdes und die Wortfetzen eines Gespraches, versuchte aber nicht, den Sinn der Worte zu erraten. Warum auch? Drau?en schien die Sonne, wehte der Wind. Und wenn es nach Milchgesicht ginge, wurde er heute abend aufgehangt werden.
        Er sa? eine Weile und wunderte sich, da? er den kommenden Ereignissen ohne sonderliche Gefuhlsregungen entgegensah. Er vermutete nach allem, was er unterwegs gehort hatte, da? er sich in der Gewalt des Mannes befand, dem man Gerechtigkeit und Liebe zu den Geringen nachsagte. Wenn es so war, konnte er dem Abend guten Mutes entgegensehen.
        Bevor er noch weitere Uberlegungen anstellen konnte, wurde wieder der Riegel zuruckgeschoben und die Tur geoffnet. Der Sommersprossige brachte ihm ein Stuck Ochsenfleisch, einen Kanten Wei?brot und einen Krug mit frischem Wasser.
        ëSollst nicht hungern bei uns», sagte er, ëbrauchst auch nicht angstlich zu sein. Milchgesicht hat nichts mehr zu bestimmen. I? nur!»
        Das waren gute Worte fur Paolo. Der Sommersprossige gefiel ihm. Das Stuck Ochsenfleisch war gro? genug, um ihn fur Tage mit Fleisch zu sattigen. Nachdem er gegessen hatte, legte er sich auf das Stroh, erfreute sich an dem Sonnenstreifen, der den Raum durchschnitt, und schlief schlie?lich ein.
        Am Abend versammelte sich die Truppe, etwa hundertzwanzig Kopfe, um ein Feuer, das windgeschutzt in einer Erdmulde brannte. Im weiten Rund sa?en die Manner auf der Erde und warteten auf den Gefangenen.
        Angiolino sa? im Kreis seiner Zehnerschaftsfuhrer und blickte duster in die Hammen. Er hatte vor einer Stunde mit Milchgesicht, der bereits wieder nach Wein roch, eine heftige Auseinandersetzung gehabt und einige Unverschamtheiten des Angetrunkenen schweigend eingesteckt. Es war hochste Zeit, da? er den Raufbold und Morder mit seinen Spie?gesellen aus der Truppe entfernte.
        Die Nacht war sternenklar, Uber die ebene Flache mit den wenigen Vertiefungen pfiff der ewige Wind und trug die Rauchwolken mit sich fort. Die Schatten der gezackten Berge wuchsen drohend in den nachtlichen Himmel. Die Gesichter der Manner, wei?e und braune, junge und alte, waren vom rotlichen Feuerschein getont, viele Augenpaare beobachteten erwartungsvoll, wie der Gefangene vor Angiolino gebracht wurde.
        Paolo uberflog die schweigende Versammlung, sah hinter den auf dem Boden sitzenden Mannern die eingezaunte Koppel mit den weidenden oder ruhenden Pferden, horte das Heulen des Windes, das Brausen des Wasserfalles und glaubte einen fluchtigen Augenblick lang, die heimatliche Nahe des Meeres zu spuren. ëKennst du mich?» fragte Angiolino.
        Paolo verneinte.
        Das Feuer lohte auf, spiegelte sich hundertfach in den funkelnden Augen, die wie die Lichter von Raubtieren auf den gro?en, breitschultrigen Mann gerichtet waren.
        ëMan nennt mich den Konig der Felder», sagte Angiolino stolz. ëWir nehmen den Reichen und geben den Armen. Hast du von uns gehort?»
        ëIch habe von Euch gehort.»
        ëUnd du Narr hast den dicken Bischof verteidigt?» fuhr Angiolino ihn an. ëWei?t du nicht, da? er die dreitausend Unzen, die er bei sich fuhrte, aus seinen Bauern herausgeschunden hat?»
        ëAls ich den Bischof verteidigte, wu?te ich noch nicht, wer Ihr seid.» Paolo sprach ohne Furcht.
        ëEr lugt!» schrie Milchgesicht dazwischen. ëHangt ihn auf!»
        ëHalt dein Maul!» Angiolinos Stimme klang hart und entschlossen. Milchgesicht knirschte wutend mit den Zahnen. Die Manner schwiegen.
        Angiolino, au?erlich vollkommen beherrscht, wandte sich wieder an den Gefangenen: ëErzahl, wer du bist und woher du kommst. Sprich laut, da? alle es horen!»
        Paolo senkte den Kopf. Er sollte erzahlen, wer er war. Die Hammen zogen seine Blicke auf geheimnisvolle Weise an. Und ringsum die Gesichter mit den geschwungenen Kerben der Munder, den hohen und niederen Stirnen, die um die Knie gefalteten Hande, das gespannte Schweigen! Es war ihm, als musse er jedem einzelnen Rechenschaft geben, warum er den Bischof verteidigt hatte. Vor ihm sa? eine Schar von Richtern, sie trugen keine kostbaren Roben, schauten nicht hochmutig auf ihn herab. Sie sa?en auf der Erde und wollten wissen, wer er war.
        Angiolino hatte die Gabe, nicht ungeduldig zu werden, wenn die Zeit verrann, wahrend der andere nachdachte. Einmal nur war er ungeduldig geworden, als man ihm fur einen krepierten Esel seine kummerliche Habe nahm.
        Wer bist du, und woher kommst du? Eine einfache Frage fur Paolo, von der es abhing, ob er weiterleben oder gehangt werden wurde. Er wollte nicht gehangt werden.
        Ein Diener war ich, ein Schmuggler wurde ich, weil Messer Pietro Bocco es befahl, ein Landstreicher bin ich. Das ist die Wahrheit. So wurde er antworten.
        Der eine, der dicht am Feuer sa?, hatte eine Beule an der Stirn von Paolos Faust. Aber er sah genauso ruhig und erwartungsvoll auf den Gefangenen wie die anderen. ëErzahle!» forderte Angiolino noch einmal.
        ëHangt ihn doch auf, den Hund!» schrie Milchgesicht. Was er sagte, war weniger gegen den Gefangenen gerichtet. Angiolino wu?te das. Ein drohendes Gemurmel ertonte.
        Angiolino sprang auf und schlug dem Uberraschten mit der Faust vor die Stirn.
        ëDu Bauernlummel!» brullte Milchgesicht. Er taumelte zuruck und zog das Schwert. ëJetzt ist es aus mit dir!»
        ëWeg mit ihm!» befahl Angiolino.
        Funf sturzten vor, uberwaltigten den wutend um sich Schlagenden. Das Schwert fiel klirrend auf die Steine.
        Sie brachten ihn zum Rand des Felsens, dort, wo der Wasserfall in die Tiefe sturzte.
        Ein gellender Schrei ubertonte das Heulen des Windes.
        Die Spie?gesellen Milchgesichts, funf oder sechs unter den Hundertzwanzig, senkten ihre Gesichter. Die anderen atmeten auf, von einem Alpdruck befreit. Einmal hatte es so kommen mussen. Angiolino hatte lange zugesehen, sehr langeÅ
        Die funf Manner kamen zuruck und setzten sich auf ihre Platze. ëNun sprich 1» forderte Angiolino den Gefangenen auf.
        Paolo war es, als erwache er aus einem Traum. Er bezwang sich, das Unbegreifliche, was er soeben erlebt hatte, zu vergessen.
        Und er erzahlte seine Geschichte. Keiner unterbrach ihn. Die Ohren horten die Worte, und die Herzen verstanden sie. Noch nie hatte Paolo von seinem Leben erzahlt. Noch nie hatte jemand gefragt: Wer bist du? Jetzt aber, im warmenden Schein des nachtlichen Feuers, kamen die Worte von selbst uber seine Lippen.
        Angiolinos dusteres Gesicht hellte sich auf.
        ëBei mir war es ein Esel», sagte er, als Paolo geendet hatte. ëBei dir waren es funfzehn Sacke Salz. Es kommt auf das gleiche hinaus. Immer kommt es auf das gleiche hinaus.»
        Die anderen nickten stumm und sahen gedankenvoll ins Feuer.



        IM FRUHLING DES JAHRES 1269

        EINMAL IN DEM VERGANGENEN WINTER HATTE der Wind dicke Schneeflocken auf Dacher, Brucken und Purpurmantel geweht, und die funf Kuppeln der Kirche von San Marco waren einen halben Tag lang mit wei?em Schnee bedeckt gewesen.
        Das Holzgeschaft der Obsthandler, die auf Anordnung der Proveditori fur den Holzhandel Buschel und anderes kleines Holz in ihren Schuppen lagerten, hatte wie in jedem Jahr einen guten Nebenverdienst gebracht. Selbst die Bettler und Obdachlosen hatten fur ihre Bettlerpfennige durre Zweige gekauft, um auf freien Platzen, neben Brucken, hinter den Kirchen und auf den Steinen der Anlegekais Feuer anmachen zu konnen. Holzbarken waren aus Istrien und Dalmatien gekommen, hatten bei den Proveditori die Ladung abschatzen lassen und die Zollgebuhren entrichtet.
        Auch Messer Pietro Bocco hatte sich am Holzhandel mit gutem Erfolg beteiligt.
        Die Wintermonate, angefullt mit den Festlichkeiten des Karnevals, waren schnell vorubergegangen.
        Nun trat der Fruhling seine Herrschaft an, saumte die Kanale und Wasserlaufe mit zartem Grun, lie? die Blatter und Bluten an Baumen und Strauchern hervorbrechen und fegte die Wolken von dem hochgespannten Himmelsgewolbe.
        Am Rialto hatte das geschaftige Leben auch im Winter keinen Augenblick geruht, jetzt aber begann die Zeit der Vorbereitungen fur die gro?en Reisen.
        Die Schiffsbauer im Arsenal und auf den privaten Werften legten die letzte Hand an die im vergangenen Jahr begonnenen Kauffahrteischiffe, die mit den Geschwadern der Republik im Fruhjahr oder Sommer zum ersten Male auslaufen sollten. In jedem Jahr mehrte sich die Zahl der venezianischen Schiffe, die die Hagge mit dem goldenen Lowen in alle Himmelsrichtungen trugen und den Einflu? Genuas, der gefahrlichsten Nebenbuhlerin, immer mehr zuruckdrangten.
        Jeder Kaufherr, der ein starkes Kauffahrteischiff bauen wollte, erhielt, wenn er fur wurdig befunden wurde, vom Senat eine Anleihe von drei?ig goldenen Pfund. Au?erdem rustete die Republik vier Geschwader aus, auf deren Schiffe die Kaufleute ihre Waren laden konnten. Die Schiffe wurden vor der Fahrt durch die Beamten der Ufficiale sopra Rialto offentlich versteigert. Der Kaufherr, der ein Schiff fur eine Summe, die bis zu dreitausend Dukaten betragen konnte, zugesprochen erhielt, war der Patrone und verfugte uber den Laderaum. Meist taten sich vier oder funf Kaufleute zusammen. Das Schiff wurde von den Sohnen vornehmer Familien begleitet, die fur seinen Schutz verantwortlich waren und nicht versaumten, in den fremden Hafen Nebengeschafte zu tatigen.
        Das erste Geschwader, bestehend aus funf oder sechs Galeeren, war fur die Fahrt nach Alexandria, dem bedeutendsten Hafen im Orienthandel, vorgesehen; das zweite Geschwader reiste nach Beirut in Syrien, nach Damaskus, Palastina, beruhrte Famagosta und andere cyprische Hafen; das dritte Geschwader ging in Byzanz vor Anker, kreuzte durch das Schwarze Meer und drang bis zu der Mundung des Don-Flusses vor; das vierte Geschwader endlich, das man die ëReisegaleeren von Flandern» nannte, bestrich die nordliche Kuste des schwarzen Erdteils, segelte durch die Meerenge von Gibraltar nach England und Handern, lief auf der Ruckreise die spanischen und franzosischen Kusten an und kehrte uber Sizilien nach Venedig zuruck. Die Reise des vierten Geschwaders dauerte ein Jahr und brachte den hochsten Gewinn, war allerdings auch mit dem gro?ten Risiko verbunden. Seerauber machten die sizilischen, spanischen und portugiesischen Gewasser unsicher, wenn sie auch selten wagten, die venezianischen Galeeren, die sich ihrer Haut zu wehren wu?ten, anzugreifen.
        Die vier Geschwader brachten die Waren Indiens, Griechenlands, Palastinas, Syriens, Agyptens, Afrikas und der Lander um das Schwarze Meer nach Venedig, die von hier aus uber ganz Europa verteilt wurden.
        Messer Pietro Bocco lie? sich mit seinem Secretario zum Alten Rialto bringen. Er war gut gelaunt, hatte er doch von drei Geschaftsfreunden den Auftrag bekommen, auf der Versteigerung ein Schiff des zweiten Geschwaders fur das Hochstgebot von zweitausendfunfhundert Dukaten zu erwerben. Er zweifelte nicht daran, da? er mit dieser Summe alle anderen Bewerber aus dem Felde schlagen wurde. In der Mitte des Monats April sollte das Geschwader auslaufen.
        Pietro Bocco war wahrend der Wintermonate nicht mu?ig gewesen. In dem Lager seines Hauses und in einem gemieteten Gewolbe am Ufer des Canal Grande lagen die Waren bereit, die er fur den Austausch vorgesehen hatte: Glaser, Spiegel, Waagen, Beile, Waffen, elfenbeinerne Kamme und andere Gegenstande, die im Orient gern gegen Gewurze, Goldstaub, Seide, kostbare Steine, Perlen und Tapeten getauscht wurden.
        Er glaubte auch allen Grund zu haben, mit seinem Neffen zufrieden zu sein. Seit der letzten Auseinandersetzung hatte dieser keine Aufsassigkeit mehr gezeigt und regelma?ig den Unterricht bei Bruder Lorenzo besucht. Er schien sich damit abgefunden zu haben, im April in die Schule des Benediktinerklosters zu San Nicolo einzutreten. War er erst hinter den dicken Mauern in der Obhut der Monche, wurde sich das Weitere schon finden. Der Prokurator, der diesseits des Canal Grande fur die Betreuung der Waisen verantwortlich war, ein ehrwurdiger Greis aus der vornehmsten Familie der Stadt, hatte Pietro Boccos Vorschlag wohlwollend zugestimmt.
        So wendete sich unter den Handen des ehrgeizigen Kaufmanns alles zu seinem Besten.
        Er ahnte nicht, wie falsch er seinen Neffen beurteilte. Wohl verstand er es, sein Geld so gewinnbringend wie moglich anzulegen und sich durch ein freundliches Wesen bei den Senatoren und Prokuratoren in Gunst zu bringen. In den Seelen der Menschen kannte er sich weniger gut aus, ein Fehler, der ihm noch manche Uberraschung bereiten sollte.
        Selbst Kapitan Matteo hatte ihm vor einiger Zeit eine Abfuhr erteilt, als er ihn mit einer neuen Schmuggelfahrt beauftragen wollte. Nicht alles lie? sich mit Geld erreichen. Pietro Bocco aber glaubte an die Allmacht des Geldes. Die Fahigkeit, sich in das Wesen anderer hineinzuversetzen, ihre Gedanken und Gefuhle nachzuempfinden und in das Gespinst der eigenen Plane einzubeziehen, war ihm fremd. Er war aus groberem Holz geschnitzt: ëHier hast du hundert Dukaten, bring mit deiner Barke das Getreide an den und den Ort. - Hundert Dukaten sind dir zuwenig? Gut, du sollst hundertfunfzig Dukaten haben, aber keinen Soldo mehr.» Kapitan Matteo aber hatte sich schweigend umgedreht und war hinausgegangen.
        Pietro Bocco dachte nicht gern an diese ihm unverstandliche Niederlage, die er erlitten hatte. Er zog es vor, sich im Schein seiner geschaftlichen Erfolge zu sonnen.


        An der Ponte della moneta stieg er mit seinem Secretario aus der Barke und ging durch die Gassen der Goldschmiede, Edelsteinschneider und Geldwechsler zum Alten Rialto, auf dem sich schon viele Kaufleute eingefunden hatten. Er begru?te Bekannte, wandelte durch die Bogengange, die zum Schutz gegen den Regen und zur Forderung des geschaftlichen Verkehrs von der Regierung erbaut worden waren, fuhrte Gesprache, die der Vorbereitung neuer Geschafte dienten, gab seinem Secretario, der ihm auf dem Fu? folgte, die Anweisung, auf der nahen Riva di ferro Eisenwaren einzukaufen und begab sich zu einem kuhlen Trunk in das Gasthaus neben der Kirche San Giacomo, dem Treffpunkt der Kaufleute.
        Er hielt sich hier nicht lange auf. Diener brachten bereits Stuhle und einen Tisch fur die Beamten der Ufficiale sopra Rialto, welche die Versteigerung leiteten, und stellten sie unter dem Feigenbaum vor der Kirche auf. Nach und nach kamen auch die Kaufleute, fanden sich in Gruppen zusammen und tauschten Bemerkungen uber den voraussichtlichen Verlauf der Versteigerung aus. Dabei versuchten sie, einander vorsichtig uber die Hohe der Angebote auszuhorchen.
        Es gab den Ausspruch eines witzigen Kaufmannes, der jedes Jahr von neuem in den Gesprachen auftauchte: Bei uns in Venedig werden die Schiffe erworben wie anderswo ein Sack Biscotto.
        Die Kaufleute Venedigs waren stolz darauf, durch ein einfaches ëJa» fur die Dauer einer weiten Seereise in den Besitz eines Schiffes der Republik kommen zu konnen.
        Die Versteigerung begann in der althergebrachten Weise mit der Ausbietung der Schiffe, die zum ersten Geschwader gehorten. Die Gesprache der Kaufleute verstummten. Jeder war auf die ersten Angebote gespannt. Interessiert lauschten sie der Beschreibung des Schiffes: Masten, Segelzeug, Anzahl der Ruder, Lange, Breite und - was das Wichtigste war - Fassungsvermogen des Laderaumes.
        Der Beamte forderte die Kaufleute auf, ein Angebot zu machen. Erwartungsvolles Schweigen. So war es jedes Jahr, man scheute sich, als erster zu bieten. Der Beamte runzelte die Stirn. Endlich nannte einer eine niedrige Summe, wurde aber gleich darauf von einem anderen uberboten.
        Der Schreiber notierte, und der hinter dem Tisch stehende Beamte wiederholte laut das letzte Angebot. Erregtes Gemurmel erhob sich, als einer von funfhundert auf tausend Dukaten erhohte.
        In den Zweigen des Feigenbaumes, der bereits seine Bluten offnete, larmten die Spatzen, unberuhrt von dem Treiben der Menschen. Das Kreuz auf dem Turm der alten strohgedeckten Kirche hob sich scharf vom blauen Himmel ab. Ein frischer Fruhlingswind strich uber die Hauserdacher.
        Die Versteigerung am Rande des wogenden Verkehrs des Alten Rialto nahm ihren Fortgang. Gegen Mittag waren die funf Galeeren des ersten Geschwaders fur die Reise nach Alexandria versteigert. Nach dem Mittagessen sollten die Schiffe des zweiten Geschwaders an die Reihe kommen. Die Kaufleute waren uber den bisherigen Verlauf der Versteigerung zufrieden. Die Preise, die geboten worden waren, schienen ihnen nicht zu hoch gewesen zu sein. Auch der Beamte der Republik war zufrieden. So trennte man sich mit frohen Zurufen und begluckwunschte die funf neuen Patroni der Schiffe.
        Messer Pietro Bocco hegte keinen Zweifel mehr, da? es ihm gelingen wurde, fur zweitausend Dukaten in den Besitz des seetuchtigsten Schiffes des zweiten Geschwaders zu kommen. Er hatte dann fur sich und seine Geschaftspartner funfhundert Dukaten gespart. Vielleicht wurde er sogar mit funfzehnhundert Dukaten auskommen. Auch das Gluck spielte bei der Versteigerung eine Rolle.
        Er lie? sich das Mittagessen gut schmecken, zumal ihm sein Secretario berichten konnte, da? er auf der Riva di ferro gut eingekauft hatte.
        Eine Stunde nach dem Essen kamen die Beamten der Ufficiale sopra Rialto; die Kaufleute versammelten sich im Halbkreis um den Tisch; der Schreiber legte Papier, Tintenbehalter und Federkiel zurecht, und die Versteigerung der Schiffe des zweiten Geschwaders begann.
        Die Sonne stand im Mittag, der Wind hatte sich gelegt. Es war so warm geworden, da? die Kaufleute ihren Dienern winkten und ihnen die Mantel zur Aufbewahrung gaben. Der kurze Schatten des Feigenbaumes war nicht viel gro?er als der Umfang der machtigen Baumkrone, in deren Zweigen Spatzen und Singvogel sa?en und mude blinzelnd in die sich unter den Sonnenstrahlen offnenden Bluten schauten.
        Zwei deutsche Kaufleute mit ihrem Dolmetscher, die gerade vorbeigingen, blieben einen Augenblick stehen und lie?en sich erklaren, was hier geschah. Lasttrager, begleitet von einem aufgeregt sie dirigierenden Schreiber, trugen Tuchballen vorbei. Im Turm von San Giacomo lautete die Glocke.
        Der Alte Rialto war erfullt von dem Gerausch langsamer und eiliger Schritte, dem Klang der Stimmen, die wurdevoll, beschworend, uberredend, spottisch, hitzig oder mit gelassener Ruhe Worte formten, um den Gesprachspartner von der Gute einer Ware und ihren wunderbaren Aussichten auf gewinnbringenden Absatz zu uberzeugen. Namen ferner Lander und Meereskusten wurden genannt, die Basare des Orients und die Karawanen auf der Seidenstra?e durch die Wusten Asiens bis nach dem sagenhaften China, Elefantenjagden in den Dschungeln Indiens und der Verkauf schwarzer und wei?er Sklaven auf den Markten Kairos lebten in den Gesprachen der venezianischen und fremden Kaufleute auf dem Alten Rialto.
        Der Beamte, unberuhrt von dem, was um ihn geschah, rief das letzte Angebot aus und wartete, ob einer mehr bote. Zwei Schiffe waren zu fur beide Teile annehmbaren Preisen versteigert worden. Messer Pietro Bocco wu?te, da? die dritte Galeere, die jetzt aufgeboten wurde, am seetuchtigsten war und den gro?ten Laderaum hatte. Aber auch die anderen Kaufleute wu?ten es, so da? eine starkere Beteiligung als bei den ersten beiden Schiffen zu erwarten war. Der Beamte pries mit heiserer Stimme die Vorzuge der Galeere und forderte die Herren auf, zu bieten.
        Messer Pietro Bocco hielt sich noch zuruck; erst als er sah, da? der Beamte sich vorbereitete, das Zeichen zur Bestatigung des letzten Angebotes von zwolfhundert Dukaten zu geben, mischte er sich ein.
        ëFunfzehnhundert Dukaten!» rief er, bemuht, die fiebernde Erwartung zu verbergen. ëSechzehnhundert!» sagte eine Stimme im Hintergrund. Ein gro?er, schlanker Kaufherr war es. Er hatte sich bisher an der Versteigerung noch nicht beteiligt.
        Pietro Bocco merkte, da? er einen ernsthaften Mitbewerber bekommen hatte. ëAchtzehnhundert!» sagte er laut.
        Der Beamte sah fragend in die Runde.
        ëZweitausend!» uberbot der andere gleichgultig. Die Kaufleute wurden auf das Duell, das zwischen den beiden begonnen hatte, aufmerksam. Zweitausend Dukaten waren eine hohe Summe. Das Hochstgebot fur die beiden ersten Schiffe war funfzehnhundert gewesen.
        Pietro Bocco sah die vielen Blicke, die auf ihn gerichtet waren. Zeit zu langem Uberlegen blieb ihm nicht.
        ëZweitausendzweihundert!» rief er.
        ëZweitausendfunfhundert!» sagte der andere. Kein Zug in seinem Gesicht veranderte sich.
        Pietro Bocco verbarg seine Enttauschung hinter einem spottischen Lacheln. Mehr als zweitausendfunfhundert Dukaten durfte er nach der Vereinbarung, die er mit seinen Geschaftsfreunden getroffen hatte, nicht bieten. Es sei denn, da? er aus seiner eigenen Tasche eine Summe dazulegte und dafur dann mehr Laderaum beanspruchte. Und er hatte gehofft, mit zweitausend oder gar funfzehnhundert Dukaten auszukommen. Er kannte den anderen Kaufherrn nicht; eines war ihm jedoch klar: Der Schlanke mit dem gleichmutigen Gesicht mu?te uber ein gro?es Kapital verfugen. In diesen Zeiten konnte ein unbekannter Kaufmann uber Nacht ein Vermogen verdienen, wenn ein Unternehmen gluckte, ebenso konnte er auch uber Nacht ein Vermogen verlieren.
        ëZweitausendsiebenhundert!» sagte Pietro Bocco. Es war dies, wie er sich vornahm, sein letztes Angebot fur die beste Galeere des zweiten Geschwaders.
        ëDreitausend!» uberbot der andere ohne Zogern. Ein unwilliges Gemurmel lie? sich horen. Die Kaufleute waren mit der hohen Summe nicht einverstanden, mu?ten sie doch furchten, da? dadurch die Preise fur die anderen Galeeren in die Hohe getrieben wurden. Der Kaufherr kummerte sich nicht um die Erregung, die er verursachte. Er sagte seinem Diener einige leise Worte ins Ohr und sah dann fordernd auf den Beamten.
        Pietro Bocco kniff die Lippen zusammen, als die Galeere dem anderen zugesprochen wurde.
        Die Versteigerung dauerte bis in die Abendstunden hinein. Wer ein Schiff erworben hatte, ging zufrieden davon. Die anderen blieben, bis die letzte Galeere versteigert war.
        Messer Pietro Bocco hatte die vierte Galeere des zweiten Geschwaders, ein kleineres, aber gutes, seetuchtiges Schiff fur zweitausend Dukaten zugesprochen erhalten und war mit gemischten Gefuhlen nach Hause gegangen. Die Geschaftsfreunde, die fest mit der Erwerbung des gro?eren Schiffes rechneten, wurden ihm kein gro?es Lob ausstellen. Aber sie wurden schlie?lich einsehen mussen, da? es nicht seine Schuld war. Und wenn das Gluck sie begunstigte, war auch mit diesem Schiff ein gro?er Verdienst zu erzielen. Vielleicht war es eine Fugung des Schicksals, da? sie gerade diese Galeere bekommen hatten. Wer konnte das wissen?
        Die nachsten Tage und Wochen waren angefullt mit Arbeit. Matrosen mu?ten angeworben, die Ware verstaut und viele Formalitaten auf der Ufficiale sopra Rialto erledigt werden.
        Messer Pietro Bocco wurde selbst nicht mitfahren, die vier Kaufherren hatten den Jungsten unter ihnen, einen unternehmungslustigen vierzigjahrigen Mann, zum Patrone des Schiffes fur die Fahrt nach Beirut, Damaskus und Cypern bestimmt.
        Einer der Matrosen, die sich fur die Reise anwerben lie?en, hie? Marino. Er tat es Marco zuliebe und weil es ihm eigentlich gleichgultig war, ob er nach Alexandria, Massilia, Amsterdam, Byzanz oder irgendeinem anderen Hafen ging. Er kannte sie alle, jede Stadt hatte ihren besonderen Reiz. Im Gasthaus ëVenezia» in Amsterdam sa? es sich ebensogut wie in der kleinen Hafenschenke in der Rue de la Mure von Massilia.
        Er hatte sich in den vergangenen Monaten mehrmals mit Marco getroffen, von dessen Auseinandersetzungen mit seinem Oheim erfahren und sich gesagt: Gut, soll er sich die Welt ansehen. Dummer wird er nicht davon. Warum soll er sich in ein Kloster sperren lassen, wenn er keine Lust dazu hat?
        Eine Woche, nachdem Pietro Bocco das Schiff erworben hatte, kamen Marco und Marino wieder im Gasthaus Zur Glocke zusammen. Vor Marco stand ein Glas, das mehr Wasser als Wein enthielt. Seit der ersten Begegnung mit Marino hatte er keinen unverdunnten Wein mehr getrunken.
        Marino berichtete, da? das Geschwader in drei Wochen auslaufen werde. Marco atmete auf. Endlich hatte er Gewi?heit. Der Termin lag noch vor seinem geplanten Eintritt in die Klosterschule. Es erfullte ihn mit Genugtuung, da? er ausgerechnet auf Pietro Boccos Schiff die Reise in die Welt antreten wurde.
        Marino sa? vor ihm und schwieg, aber dieses Schweigen storte Marco nicht. Er wu?te ja, da? der Matrose nicht viel Worte machte; versprach er aber etwas, konnte man sich fest auf ihn verlassen. Marco entdeckte an dem Matrosen manche Zuge, die ihn an Paolo erinnerten. So hatte sich zwischen ihnen eine stille Kameradschaft gebildet, die beide zu schatzen wu?ten. Von Paolo hatte der Knabe nie wieder etwas gehort, obwohl er in seinen Bemuhungen, etwas zu erfahren, nicht nachgelassen hatte. Er war noch zweimal bei Kapitan Matteo gewesen, aber auch dieser hatte ihm keine gute und keine schlechte Kunde geben konnen, so da? alles in ein geheimnisvolles Dunkel gehullt blieb, das, je nach der Stimmung, die verschiedenartigsten Deutungen, einmal traurig, einmal voll Hoffnung, hervorrief.
        Marco hatte auch, so schwer es ihm fiel, sein Verhalten Pietro Bocco gegenuber geandert, so da? dieser den Diener, den er als Aufpasser in Marcos Haus geschickt hatte, nach einiger Zeit wieder zuruckrief.
        Marino trank aus seinem Glas und setzte es auf die Tischplatte. ëNoch drei Wochen», sagte er.
        Ein Schwarm Gaste kam zur Tur herein und setzte sich an die leeren Tische. Es ging auf die Mittagszeit zu.
        Noch drei Wochen, dachte Marco. Wie war das eigentlich mit Giovanni? Er hatte ihn nicht wieder gesehen. Oft hatte er an ihn gedacht. Eine echte Freundschaft, wie sie zwischen ihnen bestanden hatte, konnte man nicht einfach mit einer Handbewegung beiseiteschieben. Eigentlich war es doch eine unbedeutende Sache gewesen, uber die er sich so aufgeregt hatte. Ein zuruckgeschicktes Kleiderbundel! Deshalb hatte er Giannina und Giovanni beschuldigt, mit seinem Oheim unter einer Decke zu stecken. Aber es war damals so vieles zusammengetroffen: das Verschwinden Paolos, die Drohungen des Oheims und einiges andere, uber das es sich nicht mehr lohnte, nachzudenken.
        Die Rufe und Gesprache, die in der Gaststube laut wurden, das ruhige, von der Seereise und den fremden Hafen traumende Gesicht Marinos, die Gewi?heit, da? die Reise in drei Wochen beginnen wurde, und die Ungewi?heit, ob auch alles gut gehen werde, weckten in Marco den Wunsch, mit einem vertrauten Menschen uber das zu reden, was ihn bewegte. Es war leichter, den kommenden Ereignissen in die Augen zu schauen, wenn jemand da war, der einen verstand, dem man ohne Scheu von seinen Vorstellungen und Wunschen erzahlen konnte, der einfach neben einem sa? und zuhorte, mit dem Kopf nickte oder hier und da einen Satz einwarf, der half, die ferne Welt mit den bunten Farben der Erwartung und Sehnsucht auszuschmucken.
        An einem Vormittag ging Giovanni zu Meister Benedetto und bat ihn um Urlaub.
        ëIch mochte gern einmal nach Venedig fahren, Meister», sagte er, ëhabe da etwas Wichtiges zu erledigen.»
        Meister Benedetto legte die Axt aus der Hand und sah ihn prufend an. ëDu hast da etwas Wichtiges zu erledigen? Willstwohl wieder Kapitan Matteo besuchen? Dann geh nur, er freut sich immer, wenn du kommst.» Nach einer Pause setzte er hinzu: ëHast du die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben?»
        ëIch glaube nicht, da? Paolo tot ist», erwiderte Giovanni. Er wurde verlegen und zogerte eine Weile, bevor er weitersprach: ëIch will aber nicht zu Kapitan Matteo, es ist etwas anderesÅ»
        ëSo, so, eine geheimnisvolle Sache alsoÅ» Meister Benedetto zog drohend die wei?en Brauen zusammen, doch Giovanni kannte ihn, er sah an seinen Augen, da? es nicht bose gemeint war.
        ëGeh!» befahl Meister Benedetto. ëMach schnell, da? du mir aus den Augen kommst!»
        ëIch hole alles nach, Meister», sagte Giovanni.
        Er legte seine Schurze ab, packte sein Handwerkszeug zusammen, brachte seinen Arbeitsplatz in Ordnung und eilte nach Hause. Er zog seine neuen Kleider an und machte sich auf den Weg zur Landestelle. Die Lagune lag ruhig, nur von einem leisen Luftzug bewegt, der die Oberflache krauselte und in die Segel der Barken und Schiffe griff. Ein Boot brachte Giovanni in zwanzig Minuten nach der Piazzetta. Er achtete nicht auf die vielen Menschen, die den Platz belebten, auch die Bauart der Schiffe, die im Kanal San Marco lagen, interessierten ihn heute nicht. Seine Schritte fuhrten ihn den bekannten Weg. Vor Marcos Hause blieb er stehen.


        Was er sich vorgenommen hatte, war nicht so leicht auszufuhren. Giannina wu?te nichts von seinem Kommen. Lange, lange hatte er nachgedacht und auch mit seinem Vater daruber gesprochen. ëGeh nur zu ihm», hatte der Vater gesagt, ëwirst ja sehen, wie es mit euch steht, wenn du mit ihm sprichst.»
        Es war, als hatte der Fruhling die guten Erinnerungen an die gemeinsamen Erlebnisse geweckt. Wenn Giovanni von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatte er oft an den Freund gedacht und sich gewunscht, da? sie wieder wie fruher zusammenkommen und alles Bose vergessen wurden. Der letzte Ansto? zu seinem Besuch aber war Gianninas Mitteilung gewesen, da? Messer Pietro Bocco den Freund in eine Klosterschule stecken wollte. Giovanni konnte sich vorstellen, wie es Marco zumute war.
        Da stand er also vor dem Haus und uberwand das letzte Zagen. Maria empfing ihn. Giannina sei gerade zum Krautermarkt gegangen, sagte sie, aber der junge Herr sei da, er wurde sich bestimmt sehr freuen, Giovanni solle nur auf sein Zimmer gehen, er wisse ja den Weg. Giovanni war es recht, da? Giannina nicht im Hause war. Er meinte, es sei besser, wenn er sich mit dem Freund zuerst allein aussprache. Er klopfte an die Tur und ging ohne Zogern hinein. ëBuon giorno, Marco», sagte er munter, ëich bin einmal zu dir gekommen.»
        Marco sah uberrascht auf. Giovanni stand vor ihm. Im ersten Augenblick schien ihm das so selbstverstandlich, da? ihm nichts anderes einfiel, als ohne Scheu und Verlegenheit zu sagen: ëDu bist es, Giovanni. Setz dich nur hin.» Er schob ihm einen Stuhl zu, auf dem der Freund Platz nahm.
        Sie vermieden es, sich anzusehen. Eine Pause entstand; sie spurten beide ehrliche Freude uber das Zusammentreffen und gleichzeitig Beschamung, weil sie so lange Zeit nebeneinander gelebt hatten, als hatte es nie eine Freundschaft zwischen ihnen gegeben. Es war notwendig, einige Worte zu sagen, damit das alte, gute Verhaltnis wiederhergestellt wurde.
        ëWie geht es dir denn, Giovanni?» unterbrach Marco das Schweigen. ëDu siehst gut aus, bist ordentlich breit geworden.»
        ëDas macht die Arbeit. Sieh dir zum Beispiel meine Hande an!» Er streckte Marco seine geoffneten Hande hin. Dieser betrachtete sie fachmannisch, strich mit zwei Fingern uber die Hornhaut auf dem Handteller und zog anerkennend die Augenbrauen hoch. Dann sahen sie sich an und lachten befreit auf.
        ëDa stehen wir nun und sehen uns meine Hande an», sagte Giovanni froh.
        ëIch freue mich wirklich, da? du gekommen bist», erwiderte Marco. Sie verbargen ihre Bewegung und ihre tiefe innere Freude hinter alltaglichen Worten.
        ëImmer wollte ich schon zu dir kommen», begann Giovanni zu erzahlen, ëich habe ja zuerst gar nicht gewu?t, da? du mir die Kleider geschickt hast. Das war gut von dir gemeint, Marco. Ich verstehe schon, da? du dich geargert hast, als Giannina sie zuruckbrachte. Aber du kennst doch meinen VaterÅ Heute sagte er zu mir: Geh zu ihm und sprich mit ihm. Da bin ich also hierÅ Ich habe auch meine Sorgen gehabt. Mein Vater mit seinem einen Bein - jetzt will er fischen gehenÅ»
        ëHat dir Giannina erzahlt, was ich in meiner Wut gesagt habe?» fragte Marco. ëSie wird es dir sicher erzahlt haben», beantwortete er seine Frage selbst. ëSie war sehr bose daruberÅ Ich habe das naturlich nicht so gemeint.»
        ëGiannina hat mir nichts davon erzahlt», erwiderte Giovanni, ëin seiner Wut sagt man manchmal etwas. Ich kenne das.»
        So sprachen sie miteinander und redeten sich vom Herzen herunter, was ihre Freundschaft getrubt hatte. Sie erinnerten sich an die schonen Tage des vergangenen Sommers, als sie im Schilf auf dem Boden des alten Fischerkahns gesessen hatten, als Marco die Geschichte von den kostbaren Diamanten und der schonen, hartherzigen Julia erzahlte und Giannina in ihrer schnellen Begeisterung am liebsten auf einem Seerauberschiff mitgefahren ware. Sie dachten auch an die sorgenvollen Stunden: wie Marco in der engen Gasse uberfallen worden war und Giovanni ihm durch sein mutiges Dazwischentreten das Leben gerettet hatte, wie sie Giannina auf der Landstra?e nach Aquileja gesucht hattenÅ Die gemeinsamen Erlebnisse waren fur immer in ihre Herzen geschrieben, und beinahe hatte ein einziger boser Satz, in der Wut gesprochen, die Freundschaft zerstort.
        Die Freundschaft war ein kostbarer Schatz, den man huten und pflegen mu?te, damit er seinen Glanz und seine Schonheit nicht verlor.
        ëGiannina wird sich freuen, wenn sie hort, da? alles wieder wie fruher zwischen uns ist», sagte Giovanni.
        Marcos Gesicht aber wurde sehr ernst nach diesen Worten. Der Freund bemerkte es. In seiner Freude hatte er beinahe vergessen, da? Messer Pietro Bocco den Neffen in eine Klosterschule bringen wollte.
        Der Kastanienbaum im Hof steckte schon seine rotlichen Kerzen an, in den Vorgarten grunte die Erde und bedeckte sich mit den wei?en und farbigen Blutenblattern, die von den Baumen fielen. Selbst durch die Ritzen der Steine spro? das frische Fruhlingsgrun. Venedig war wie neugeboren. Mit Grausen dachte Marco an die weltentfernte Stille inmitten des Klosters von San Nicolo. Nackte, tote Steine, Monche im Kreuzgang, Gebete murmelndÅ Und vor den grauen Mauern atmete das Meer, lagen Schiffe im Hafen, handelte Umberto mit antiken Kopfen und kupfernen Schalen, ruhrte der Nudelmacher im Teig herum, spielten KinderÅ Ein junger Monch wandert einsam uber den gelben Sand, entfernt sich immer weiter vom Kloster, bis er kaum noch zu erkennen ist. Neben ihm das Meer, gewaltig und schon. Giovanni sa? schweigend auf seinem Stuhl. Die Augen des Freundes waren dunkel geworden, ernst und grublerisch stand eine Falte uber der Nasenwurzel.
        ëEs ist gut, da? du gekommen bist, Giovanni», sagte Marco. ëSchwore mir, da? du niemandem sagen wirst, was ich dir jetzt erzahlen werde.»
        ëIch schwore es!» sagte Giovanni feierlich. ëBei der Heiligen Mutter Gottes.»
        Marco ging auf die Truhe zu und offnete den Deckel. ëKomm her!» Er schlug die oben liegenden Kleider zuruck. Vor Giovannis erstaunten Blicken lagen zwei Dolche, der kleine Elefant aus Elfenbein, der sonst auf dem Tisch gestanden hatte, ein breites goldenes Armband, eine gefullte Geldborse und zwei Sackchen mit Biscotto.
        ëIhr mu?t dann allein fertig werden, wenn ich nicht mehr da bin», sagte Marco geheimnisvoll. ëEs geht nicht andersÅ»
        Giovanni sah ihn fragend an. ëIch verstehe dich nicht. Was hast du vor, Marco?»
        ëAuch Giannina darf vorher nichts erfahren. Niemand! Nur dir sage ich es. Ich fahre mit einem Schiff nach Damaskus. Wie du siehst, ist alles schon vorbereitet. Das Armband hat der Mutter gehort, auch der kleine Elefant. Ich nehme beides mit. Vielleicht treffe ich meinen Vater. Dann zeige ich es ihmÅ Du wei?t doch, da? ich in eine Klosterschule kommen soll! Daraus wird nun nichtsÅ» Marco nahm einen Dolch heraus und gab ihn dem Freund. ëDieser Dolch ist fur dich bestimmt, Giovanni. Nimm ihn. Du hast deinen Dolch Paolo geschenkt, damit er mich beschutzen soll; er hat es mir erzahltÅ Nimm diesen dafur.»
        Marco legte vorsichtig die Kleider wieder uber die kostbaren Gegenstande und klappte die Truhe zu. Sein ernstes Gesicht hatte sich aufgehellt. Wie erlost war er, weil er dem Freund sein streng gehutetes Geheimnis mitgeteilt hatte.
        ëDu willst also weg», sagte Giovanni, den Dolch in der Hand haltend. Er rang mit einem schweren Entschlu?. Nach all dem, was zwischen ihnen gewesen war, glaubte er, dem Freund beweisen zu mussen, da? er ganz auf seiner Seite stehe in diesen schweren Stunden.
        ëWenn du willst, Marco, gehe ich mit dir!»
        Nun hatte er den folgenschweren Satz gesagt, und er lie? sich nicht mehr zurucknehmen. Er wollte ihn ja auch nicht zurucknehmen. Wie konnte er den Freund im Stich lassen? Aber der Vater und Giannina, die Arbeit bei Meister Benedetto? Mit dem Schiffsbau war es dann vorbei. Wir machen Venedig zur Konigin, hatte Meister Benedetto gesagt. Was ware Venedig ohne unsere Schiffe?à- Holzerne Perlen sind sie, merke es dir, sonst wirst du nie ein richtiger Bootsbauer werden. Diese Gedanken gingen Giovanni durch den Kopf.
        Marco sah die hellen Augen des Freundes fragend auf sich gerichtet. Er ahnte, da? ihm sein Entschlu? nicht leichtgefallen war.
        ëDu kannst nicht mitfahren, Giovanni», sagte er. ëDenke doch an Giannina. Du mu?t dich um sie kummernÅ Es geht nicht, da? du mitkommst. Marino, der Matrose, hat Muhe, einen auf das Schiff zu schmuggelnÅ»
        Giovanni versuchte ihn zu uberreden, nach Murano zu kommen und sich bei ihm einige Zeit verborgen zu halten, aber Marco antwortete, da? Messer Pietro Bocco ihn dort zuerst suchen werde. Nein, es bliebe ihm nichts anderes ubrig, als Venedig zu verlassen. Giovanni wisse doch, wenn er sich einmal etwas vorgenommen habe, dann fuhre er es auch durch.
        Marco schilderte die Seereise und die Abenteuer, die er in Damaskus erleben werde, mit gluhenden Worten. Und Giovanni horte ihm zu. Es war wie fruher, als sie auf den Steinstufen gesessen und im Angesicht der Lagune getraumt hatten: Nur Giannina war nicht bei ihnen.
        Marco schuttelte verneinend den Kopf, als Giovanni fragte, ob sie die Freundin nicht einweihen sollten. ëDu mu?t das verstehen», sagte er, ëeinem einzigen Menschen habe ich es erzahlt, und das bist du, Giovanni.»
        Giovanni verstand den Freund und war so glucklich uber das gro?e Vertrauen und den Dolch, da? der Abschiedsschmerz gemildert wurde.
        Erst wenn Marco mit dem Schiff auf dem weiten Meer schwamm, sollte Giovanni der Freundin von der Flucht Nachricht geben.
        So wollte es Marco.
        An dem Tage, da das zweite Geschwader zu seiner Reise aufbrechen sollte, regnete es. Die Lasttrager verstauten, schimpfend uber das schlechte Wetter, die letzten Waren. Messer Pietro Bocco stand mit dem Patrone des Schiffes am Kai und gab ihm Ratschlage. Dieser wehrte gelangweilt ab. Hundertmal schon hatte er die Ermahnungen gehort.
        Der Kapitan des Schiffes stand mi?mutig an Deck und trieb die Matrosen zu irgendwelchen unnotigen Arbeiten an, nur damit sie in den letzten Augenblicken nicht mu?ig herumstanden. Am liebsten hatte er gewartet, bis der Regen vorbei war, aber die Schiffe des zweiten Geschwaders mu?ten den Hafen verlassen, andere warteten schon darauf, abgefertigt zu werden.
        Der Beamte der Ufficiale sopra Rialto, stolz den Degen tragend, ging an Bord, nachdem alles verladen war. Der Schreiber folgte ihm mit der Warenliste. Ein letztes Mal wurde uberpruft, ob die Zollgebuhren entrichtet, ob sich keine verbotene Ware an Bord befand, ob alle Vorschriften befolgt worden waren.
        Marino sah die Beamten mit gemischten Gefuhlen in den Laderaum steigen. Er hatte den Jungen unter gro?en Schwierigkeiten ungesehen auf das Schiff gebracht. Es wurde ihm sehr leid tun, wenn sie ihn im letzten Augenblick noch erwischten.
        Messer Pietro Bocco, der wenig Zeit hatte und auch nicht langer im Regen stehen wollte, ging zum Alten Rialto, wo ihn sein Secretario erwartete. Er war keinen Augenblick mu?ig und betrieb mehrere Geschafte zur gleichen Zeit. In diesem Jahr hoffte er, ein tuchtiges Stuck voranzukommen.
        Marco sa? mit seinen zwei Sackchen Biscotto in einer dunklen Ecke und wartete mit fieberhafter Ungeduld auf die Abfahrt des Schiffes. Er hatte tausend Angste ausgestanden, als die Lasttrager und Matrosen die letzten Waren verstauten. Die Holzkisten standen so dicht aneinander, da? keine Handbreit Zwischenraum war. Marco hatte sich am Ende des schmalen Mittelganges niedergelassen und hoffte, da? die Dunkelheit ihn verbergen wurde.
        Der Beamte, der das Schiff abfertigte, war stolz auf seine Stellung und sehr gewissenhaft, wenn der Patrone verga?, ihm einige Dukaten zuzustecken. Mit klopfendem Herzen horte Marco die Manner in den Laderaum herabsteigen. Ein Matrose leuchtete mit der Ollampe. Der Patrone erklarte auf Befragen, was sich in den einzelnen Kisten befand.
        Sie kamen jetzt durch den engen Gang gerade auf Marco zu, blieben hier und dort stehen, sprachen einige Satze und gingen dann weiter. In seiner Aufregung horte Marco das Gemurmel der Worte, ohne ihren Sinn zu verstehen. Wenn sie nicht bald umkehrten, wurden sie ihn entdecken. Er pre?te sich an die Planken und hielt den Atem an. Am liebsten hatte er geschrien: ëNun kommt doch schon und holt mich heraus», nur damit das qualende Warten ein Ende hatte.
        Der Beamte stie? mit dem Fu? an die Biscottosackchen, die Marco vor sich liegengelassen hatte. ëWas ist denn das?» fragte er verwundert. ëMatrose, gib mal die Lampe her.» Im truben Lampenschein entdeckte er den Jungen, der ihn mit finsterem Gesicht anstarrte.
        ëPatrone!» rief er. ëSeht, was ich da gefunden habe! Und Ihr sagtet, alles sei in Ordnung bei Euch.» Er lachte gemutlich auf. ëWolltest wohl eine Seereise machen?» sagte er zu Marco. ëKomm nur hervor aus deiner Ecke. Du bist noch ein bi?chen zu jung dazu. Sieh mich nicht so finster an, du kannst froh sein, da? ich dich gefunden habe.»
        Der Patrone zwangte sich argerlich nach vorn. Als er das Gesicht des Jungen sah, unterdruckte er die zornigen Worte, die ihm auf der Zunge lagen. ëDu bist es?» fragte er erstaunt. Und zum Beamten: ëEs ist der Neffe Pietro Boccos. Ich lasse ihn zu seinem Oheim bringen.»
        Er nahm dem Matrosen die Lampe aus der Hand und befahl ihm, den Jungen bei Messer Pietro Bocco mit einigen erklarenden Worten abzuliefern.


        ëDa seht Ihr, was fur eine Spurnase der Ufficiale sopra Rialto hat», horte Marco die selbstgefallige Stimme des Beamten, als er an Deck stieg.
        Willenlos folgte er dem Matrosen. Seine Enttauschung war so gro?, da? er nichts von dem fiebernden Leben sah und horte. Der Regen spruhte vom Himmel herab. Marco schritt mit gesenktem Kopf durch Schlamm und Pfutzen zum Campo di Rialto.
        Der Matrose sagte einige trostende Worte. Marco erwiderte nichts.



        EIN MADCHEN BRAUCHT EIN BRAUTKLEID

        VIER TAGEREISEN VON ROM ENTFERNT, NICHT weit von der Grenze des Konigreiches Neapel, lag das Dorf Rocca Secca. Dicht an den felsigen Hang geschmiegt, schauten seine Hauser auf die alte romische Heerstra?e hinab. In diesem Dorf war die Armut zu Hause; sie ging in armseligen Kleidern einher, die Schone und Ha?liche, Kinder und Greise bedeckten, sie lief auf nackten Fu?en uber den steinigen Boden und trug zur Fruhlingszeit rote Blumen im Haar.
        Der Olivenhain am sonnigen Hang, der Brunnen im schattigen Talgrund, die Acker und Wiesen, die Hasen auf den Feldern und die Forellen im Bach gehorten dem Herrn. Die Steine, der Wind, die Sonne und die Luft zum Atmen gehorten den Bauern. Sie lebten etwas besser als die umherstreunenden Hunde. So hatte Gott es eingerichtet. Stolz ragte der schlanke Kirchturm uber die Hutten, der junge Pfarrer trug ein abgeschabtes Gewand und hatte ein bleiches Gesicht mit leidenschaftlichen, gerechten Augen. Und wenn eine Hochzeit war, lauteten die Glocken.
        Isabella und Alberto wollten heiraten. Alberto ging zum Herrn und fragte, ob er die Erlaubnis dazu gabe. Der Herr gab die Erlaubnis; denn er wollte seinen Bauern zeigen, wie gro?mutig und edel er ware. Als Alberto aber die Bitte aussprach, da? der Herr ihm die Abgaben fur dieses Jahr erma?igen moge, damit er seiner Isabella ein Brautkleid kaufen konne, geriet er in Wut und lie? den jungen Bauern mit den Hunden von seinem Hof jagen. Die Hunde fugten ihm kein Leid zu; denn Alberto hatte einen Blick, der sie im Sprung noch bannte.
        So hatte Alberto nun die Erlaubnis zum Heiraten, aber er wu?te nicht, woher er ein Brautkleid fur Isabella bekommen konne.
        Am Sonntag ging er nach der Messe mit Isabella zum Pfarrer, der im Schatten des Kirchgartens in einem verfallenen Hause wohnte und nur wenig besser als die Bauern lebte. Hand in Hand traten sie vor ihn hin und sagten, da? sie gern heiraten wollten, aber nicht viel mehr besa?en, als sie gerade auf dem Leibe trugen. Isabella schlug die Augen nieder, weil sie sich ihrer nackten braunen Fu?e schamte. Und Alberto erzahlte dem Pfarrer, wie es ihm bei dem Herrn ergangen ware. Er hatte Vertrauen zu den gerechten Augen.
        Flammende Rote uberzog das bleiche Gesicht des Pfarrers. Er hob wie segnend die Hande und sagte: ëDie Herren prassen, und die Armen darben. Aber geht nach Hause, euch wird geholfen werden.»
        Gleichen Tages noch warf er sich die Soutane um und ging in die Berge.
        ëGott verzeih mir!» murmelte er, ëaber ich mu? ihnen helfen, ich kann nicht anders. Hast du, o Herr, mich nicht als ihren Hirten bestellt?»
        Die Eltern des Pfarrers, Bauern in dem Nachbardorf auf halber Hohe des Berges, empfingen ihren gelehrten Sohn mit demutiger Freude und wiesen ihm, weil es sein fester Wille war, nach einigen Seufzern den Weg zu Angiolino, dem Konig der Felder.
        Der Pfarrer schritt den gleichen Pfad, den vor Monaten Paolo als Gefangener gegangen war. Die Felsenmauern warfen die Sonnenhitze in die Schluchten; Sonnenstrahlen beleuchteten grell die Adern und Sprunge in den Steinen. Das bleiche Gesicht des immer hoher steigenden, einsamen Wanderers rotete sich von der Anstrengung; die schwarze Soutane blieb an einem Vorsprung hangen und zerri?. Er zog das storende Kleidungsstuck aus und warf es uber die Schulter.
        Als er auf das Dorf hinabblickte, das sich in seiner armen, wilden Schonheit in den Scho? der steinigen Erde duckte, sah er auf der Stra?e den Vater und die Mutter stehen, die seinen Weg angstvoll verfolgten. Er winkte ihnen, und sie winkten zuruck. Die Stimme in seinem Innern, die sein Herz gluhend und seinen Sinn gerecht machte, trieb ihn weiter. Ohne Furcht trat er den beiden Posten entgegen, die ihm die Pike auf die Brust setzten und nach seinem Begehr fragten.
        ëBringt mich zu Angiolino, dem Konig der Felder!» sagte er.
        ëWer seid Ihr, und was wollt Ihr von ihm?»
        ëIhr seht, wer ich bin.» Er hielt den beiden seine Soutane hin. ëUnd was ich begehre, werde ich Eurem Anfuhrer selbst sagen.»
        Die Wachposten sahen sich an und wu?ten nicht, was sie denken sollten uber diesen ungewohnlichen Besuch. Wohl kamen ofter Bauern aus der Umgebung zu ihnen, um wichtige Nachrichten zu bringen oder Wunsche auszusprechen. Ein Pfarrer aber? Sie flusterten miteinander.
        ëSetzt Euch hier in die Felsennische, Hochwurden, ruht Euch aus vom Aufstieg», sagte der Hagere mit dem harten, wettergegerbten Bauerngesicht, ëDimitro wird Eure Ankunft melden.»
        Der Pfarrer lie? sich auf das Strohlager im Schatten der Steine nieder. ëSag ihm, da? mein Begehren keinen Aufschub duldet!» rief er dem Weggehenden nach.
        Angiolino und Paolo sa?en am Rand des Felsens und lie?en die Beine herunterhangen. Zehn Schritte entfernt brauste der Wasserfall in die Tiefe, hinter ihnen weideten Maultiere und Pferde, vor ihnen ragten die Felsen auf, grau, hei?, uralt. Paolo erzahlte dem Konig der Felder von Venedig. Angiolino horte die Sehnsucht in den Worten.
        ëDu mochtest zuruck zum Meer und zur Lagune», sagte er, ëeines Tages wirst du verschwunden sein.»
        ëHeute nacht habe ich getraumt, ein Berg sei uber mir zusammengesturzt. Ich lag zwischen den Steinen und sah durch einen winzigen Spalt in den Himmel. Die scharfe Kante, die ich anfa?te, um mir einen Ausweg zu bahnen, zerri? mir die HandeÅ»
        ëIch bin in den Bergen gro? geworden», sagte Angiolino. ëDas Meer kenne ich nur aus der Ferne. Es ist immer anders. Aber die Berge umgeben dich wie stumme Bruder. Du kannst dich auf sie verlassen, wenn du ihre Schluchten und Felsenwande nicht furchtest.»
        ëDie Fischer haben mich gesund gepflegt. Sie sind arm, aber sie haben mir Decken und Brot gebracht. Eines Tages komme ich vielleicht zuruck, habe ich Guilia zum Abschied gesagt.»
        So sprachen sie miteinander in einer stillen Stunde zwischen den Ritten auf den Landstra?en und offneten ihre Herzen.
        Die Wasserperlchen, vom Wind durch die Luft getragen, wehten in ihre Gesichter. Ein Stein loste sich vom Abhang, sein Fall in die Tiefe ging im Brausen des Wassers unter. Schritte naherten sich. Eine Stimme sagte: ëAngiolino, hore, ein Pfarrer sitzt unten. Er will dich sprechen. Sein Begehren duldet keinen Aufschub, sagte er.» Angiolino und Paolo standen auf.
        ëEin Pfarrer, sagst du?»
        ëEin junger Mensch ist es, Angiolino. Sein Gesicht ist gut.» Der Konig der Felder dachte nach. ëBring ihn zu mir», sagte er dann. ëKomm mit mir, Paolo. Wir werden ihn in meinem Haus empfangen und mit gutem Wein bewirten. Unser Pfarrer im Dorf liebte den Wein und nahm gern an den Gelagen des Herrn teil.»
        Der Raum, in dem Angiolino wohnte, war wie die Unterkunfte der anderen eingerichtet. Teppiche verdeckten die kahlen Wande und warmten den kuhlen Fu?boden. Mobel aus kostbaren Holzern, mit viel Flei? von kunstfertigen Handwerkern hergestellt, schufen Behaglichkeit und Freude am Leben zwischen den schutzenden Mauern, besonders wenn nachts der Wind um das Haus heulte. Die Teppiche, die Mobel, die Schinken in den Rauchfangen und der Wein in den Kellern waren auf Maultieren beim Mondenschein muhselig heraufgebracht worden. Angiolino sorgte dafur, da? jeder seinen gerechten Teil erhielt.
        Der Tisch in der Mitte des Raumes, der Stuhl, auf dem Angiolino Platz nahm, das Schreibgerat, die Bucher und die Teppiche stammten aus einem Schlo? am Fu?e der Berge, eine halbe Tagesreise entfernt von hier. Der Herr hatte sich gern von seiner Einrichtung getrennt, als er horte, da? man auf sein Leben weniger Wert lege als auf seine Teppiche. Aber als Angiolino mit seiner Truppe abgezogen war, hatte er nichts Eiligeres zu tun gehabt, als seine Bewaffneten zusammenzutrommeln und den Raubern nachzujagen. Er fand sie nicht; keiner hatte sie gesehen. Menschen, Pferde, Teppiche, Mobel waren verschwunden; denn die Berge waren mit dichten Waldern bedeckt, und die Bauern verschlossen Augen und Ohren, wenn sie beim Holzfallen fluchtige Schatten vorbeihuschen sahen oder das Wiehern der Pferde und leise Menschenstimmen horten.
        ëNehmt Platz, Hochwurden», sagte Angiolino.
        Der junge Pfarrer sah um sich, sein Gesicht verzog sich unwillig, als er die prunkvolle Einrichtung in dem Haus auf dem Dach der Berge sah, das jahrhundertelang nur Armut und kalte Steine gekannt hatte.
        ëWir leben wie die Herren», sagte Angiolino, ëgonnt es uns, Hochwurden. Wir werden nicht hochmutig dabei. Unser Alltag ist gefahrlich. Wir nehmen von denen, die im Uberflu? haben, und geben denen, die arbeiten und Hunger leiden nach Brot und schonen Dingen.»
        ëDarum komme ich zu Euch», sagte der junge Pfarrer.
        ëHol Wein und Heisch, Paolo, Hochwurden wird hungrig sein nach dem muhevollen Aufstieg.»
        ëIch danke Euch, Angiolino, aber ich wunsche nichts, als eine Bitte vorzutragen.»
        ëSo trinkt Ihr keinen Wein, Hochwurden?» ëNicht darum bin ich gekommen.»
        Angiolinos Gesicht wurde freundlich. ëE?t nur mit uns und tragt mir Eure Bitte vor. Wir werden Euch helfen, wenn es in unserer Macht steht.»
        Sie a?en Brot und Schinken und tranken auch einen Becher Wein. Und der junge Pfarrer erzahlte Albertos Geschichte und bat fur Isabella um ein Brautkleid.
        Angiolino dachte an seine Braut, die er lange nicht gesehen hatte, und an den Pfarrer seines Heimatdorfes, der Wein trank und Fleisch a? und seinen Pfarrkindern alle Strafen der Holle androhte, wenn sie im Bach einen Fisch fingen oder in den Waldern Holz sammelten.
        ëDer Herr hat ihn mit den Hunden vom Hof jagen lassen», sagte Angiolino mit Ha? im Blick. ëEs ist gut, Hochwurden, da? Ihr zu mir gekommen seid. Sagt Alberto und Isabella, da? sie bald Hochzeit feiern konnen.»
        In den Abendstunden stieg der Pfarrer, die Soutane uber die Schulter gelegt, wieder bergab. Zwei Manner aus Angiolinos Truppe begleiteten ihn bis zum heimatlichen Dorf, das er noch vor dem Einbruch der Dunkelheit erreicht. Die Sonne war hinter dem Berg verschwunden, in Schluchten, Talern und an den Abhangen breitete sich die Dammerung aus.
        Der Vater empfing den Sohn mit fragenden Augen, und die Mutter kam mit eiligen Schritten uber den Hof gelaufen. ëIch habe recht getan, Vater», sagte der junge Pfarrer nachdenklich.
        Vier Tage spater stieg eine Gruppe von zwanzig Mannern mit ihren Pferden vom Gipfel des Berges in das Tal hinab. Sie ritten nach Rocca Secca, gefuhrt von Angiolino und Paolo.
        Die Pferde trabten frohlich durch den Morgen. Sie trugen gutes Zaumzeug, auch die Lanzen und Schwerter der Reiter waren in gutem Zustand. Die Bauern auf den Ackern hielten in ihrer Arbeit inne und sahen ihnen nach.
        ëDas wird also dein letzter Ritt mit uns sein», sagte Angiolino. ëSchade, da? du weggehst, Bruder!»
        ëVielleicht bin ich bald wieder bei euch», erwiderte Paolo. ëDoch la? uns jetzt nicht daran denken.»
        Sie gaben den Pferden die Sporen, ritten in gestrecktem Galopp durch das einsam daliegende Dorf, bogen an der Kirche in den breiten Herrenweg ein und erreichten bald das Herrenhaus, dessen rote Ziegelmauern sich in einem stillen Teich spiegelten. Die Reiter umstellten das Haus, trieben das Gesinde in die Stalle und uberwaltigten einige bewaffnete Knechte, die ihnen entgegentraten.
        Angiolino und Paolo waren indes mit gezogenem Schwert in das Haus eingedrungen und suchten nach dem Herrn, der Alberto gro?mutig die Erlaubnis zum Heiraten gegeben und mit Hunden von seinem Hof gehetzt hatte.
        Da stand er in der au?ersten Ecke seines Zimmers, den Degen in der Hand. Als er die gro?e, kraftige Gestalt Paolos neben dem schlanken Angiolino gewahrte, lie? er die Waffe sinken. ëWas wollt Ihr von mir?» fragte er zitternd.
        ëGeld fur einen guten Zweck», sagte Angiolino. ëWerft Euren Degen hin!»
        Der Degen fiel auf die Dielen.
        ëIch habe nur wenig Geld im Hause», sagte der Herr. Angiolino kannte diese Ausfluchte. Hundertmal hatte er sie gehort. ëSchafft sofort funfhundert Dukaten herbei, oder wir knupfen Euch auf und suchen sie uns selber», sagte er drohend.
        Der Herr wurde wei? im Gesicht und brauchte einige Zeit, bis er sich so weit gefa?t hatte, da? er die schwere Tur des Eichenschrankes offnen und eine kleine, eisenbeschlagene Truhe mit Geld hervorholen konnte.
        ëZahlt funfhundert Dukaten auf den Tisch!» befahl Angiolino. Drau?en ertonte Waffenlarm und Geschrei. Angiolino und Paolo ruhrten sich nicht. Die Hande des Herrn zogerten, die Truhe zu offnen. In seinen Augen blitzte Hoffnung auf. Er erwartete den Besuch des Grafen von Casallvieri; vielleicht war er eben mit seinen Bewaffneten gekommen? Seine Ohren lauschten gespannt.
        ëBinde ihn», befahl Angiolino.
        Paolo lehnte sein Schwert vorsichtig an den Tisch, zog eine Schnur aus der Tasche und band den Herrn an einem Stuhl fest, da? er sich nicht mehr ruhren konnte.
        ëFunfhundert Dukaten wolltet Ihr uns nicht geben», sagte Angiolino, ëso nehmen wir denn alles und danken Euch dafur.»


        Der Waffenlarm war drau?en verstummt. Wut und feige Angst zeigten sich in den Mienen des Gefesselten, der bisher nicht mehr als funf Worte gesprochen hatte. Die Angst verstarkte sich, als Angiolino dicht an ihn herantrat.
        ëHort, was ich Euch sage, edler Herr!» rief er drohend. ëEure Bauern beklagen sich uber Euch. Ihr schindet sie und gonnt ihnen nicht das trockene Brot, jagt sie mit Hunden vom Hofe, wenn sie mit einem billigen Anliegen zu Euch kommen. Heute kommt Ihr noch mit dem Leben davon, das nachste Mal werdet Ihr aufgehangtÅ Der Konig der Felder hat mit Euch gesprochen. Nun seid gegru?t!»
        Paolo und Angiolino verlie?en das Haus und gaben das Zeichen zum Aufbruch.
        Die Reiter trabten wieder dem Dorfe zu. Das Herrenhaus hinter ihnen spiegelte sich in dem stillen Teich, der Herr schrie nach seinem Diener, da? er ihm die Fesseln lose. Magde und Knechte traten ohne sonderliche Eile aus den Stallen heraus. Es war ein schoner Tag. Zwei Schwane schwammen uber das Wasser.
        An der Kirche bogen die Reiter um die Ecke und ritten in gestrecktem Galopp den Weg zuruck, den sie gekommen waren. Die Bauern hielten in ihrer Arbeit inne und sahen den Bewaffneten nach, bis die von den Hufen der Pferde aufgewirbelten Staubwolken verschwunden waren. Einer von ihnen hie? Alberto. Er verrichtete seine Arbeit ohne Freude.
        Wenige Tage spater nahm Paolo Abschied von den schroffen Bergen und der windbewegten Hochebene, von Angiolino, dem Konig der Felder. Was trieb ihn davon? Er konnte es selbst nicht sagen. Vielleicht war es die Ungewi?heit um das Schicksal Marcos, die Erinnerung an das Zusammensein mit den beiden Knaben und Giannina. Noch immer trug er den Dolch bei sich, den Giovanni ihm eines Tages gegeben hatte. Er hatte die Worte und die vertrauensvoll auf ihn gerichteten hellen Augen des Jungen nicht vergessen: ëVielleicht brauchst du ihn einmal. Pa? nur gut auf, da? Marco nichts geschieht.» Vieles zog ihn nach Venedig zuruck. Nachts traumte er von Wasser, Booten und Gesang, von einer Fischerhutte und groben Schuhen, die im Sand standen, von einem uralten Greisengesicht und einem jungen Madchen, das mit seinen Handen Brotteig knetete und in den Regen hinausrannte.
        ëIch gehe nun nach Venedig zuruck, Angiolino», sagte er, ëwill nur einmal sehen, wie es dort steht. Ich mu? mich ja nachts wie ein Dieb einschleichen. Vielleicht kann ich dort irgendwo in der Nahe leben.»
        Sie standen vor dem Abstieg ins Tal. Paolo hatte sich den Bart abgenommen, den er wahrend der kurzen Monate getragen hatte. Er war wie ein vornehmer Herr gekleidet und fuhrte ein Pferd am Zugel, das Angiolino ihm geschenkt hatte.
        ëGeh nur, Bruder», sagte der Konig der Felder. ëIch kann dich nicht halten. Bald bricht die Dammerung herein. Wenn es dir schlecht geht, komm zu uns zuruck.»
        Sie umarmten sich zum Abschied. Die Manner der Truppe standen am Rand des Felsens und sahen ihm nach. Sie waren gern mit ihm zusammen gewesen.
        Paolo stieg bergab, passierte, dicht an die Wand sich pressend, die gefahrliche Stelle und achtete darauf, da? die Zugel locker blieben. Er atmete auf, als der Pfad breiter wurde. Die Sonne fullte den Talkessel mit goldenem Abendlicht. Der Sommersprossige, der damals den rostigen Riegel vor Paolos Gefangnis geschoben und ihm nachher Brot und am Spie? gebratenes Ochsenfleisch gebracht hatte, stand mit einem alteren, grimmig aussehenden Bauern, der aus einem Nachbardorf stammte, auf Posten.
        ëTrink noch einen Schluck Wein zur Starkung», sagte er und reichte ihm die Korbflasche hin. ëSchade, da? du uns verla?t!»
        Paolo trank. ëLebt wohl, Bruder», erwiderte er. ëEs war schon bei Euch!»
        Die beiden Wachposten sahen ihm nach, bis er hinter der Wegbiegung verschwunden war.
        Gegen Abend erreichte er das Dorf und ritt ohne Verzogerung den bekannten Weg nach Rocca Secca. Die Bauern, die mude von den Feldern kamen, gru?ten ihn, denn er sah wie ein vornehmer Herr aus. Keiner hatte in ihm ein Mitglied von Angiolinos Truppe vermutet.
        Isabella stand an der Hecke und sah den Reiter vorbeisprengen. Sie war barfu? und trug keine Blume im Haar.
        Paolo ritt durch die Dammerung, einsam lag jetzt die Stra?e. Einmal hielt er an und sah sich um. Da lagen die schattenhaften Umrisse der Berge, auf deren Hohe er monatelang gelebt hatte. In ihrem Schutze hatte er sich geborgen gefuhlt, aber wenn nachts der ewige Wind heulte, war die Sehnsucht nach der Ebene und den Kanalen von Venedig erwacht. Nun befand er sich auf dem Wege zuruck. Schwer trennte er sich von dem vertraut gewordenen Anblick.
        Im Kirchgarten von Rocca Secca band er sein Pferd an einen Baum und klopfte an die Tur des Pfarrhauses. Der junge Pfarrer offnete und lie? den Herrn ein. Er erkannte ihn nicht.
        Paolo sah sich in der Stube um, in der im truben Ollicht nicht viel mehr als ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und an der Wand ein Regal mit Buchern zu sehen war. Der Pfarrer bat seinen Gast, auf dem Stuhl Platz zu nehmen und fragte nach seinem Begehr. Er selbst setzte sich auf das Bett nieder.
        ëAnbieten kann ich Euch leider nichts, Herr, da ich nichts im Hause habe», sagte er. Seine bleichen Wangen roteten sich vor Verlegenheit uber seine Armut.
        Paolo nahm einen Beutel mit Dukaten aus der Tasche und stellte ihn auf den Tisch.
        ëIhr wart vor einiger Zeit bei uns und spracht fur zwei Eurer Pfarrkinder eine Bitte aus. Angiolino schickt mich nun, damit ich Euch diesen Beutel mit funfhundert Golddukaten ubergebe. Ein Madchen braucht ein Brautkleid, sagtet Ihr. Gebt ihm das Geld, Hochwurden!»
        Der Pfarrer sprang erregt auf. ëIhr seid es!» sagte er. ëJetzt erkenne ich Euch. Ihr habt mich mit Angiolino empfangen. Ich danke Euch, da? Ihr gekommen seid! Wartet, ich renne schnell ins Nachbarhaus, damit ich Euch bewirten kann!»
        Paolo wehrte ab und stand auf. ëIch habe wenig Zeit, Hochwurden.»
        Aber der junge Pfarrer druckte ihn auf den Stuhl, lief zu den Nachbarn und kam bald mit Brot, Kase und Wein zuruck. Schnell bereitete er ein Abendessen und forderte seinen Gast auf, zuzulangen.
        Paolo lie? sich nicht langer notigen. ëAngiolino la?t bestellen, da? Ihr jederzeit willkommen seid, wenn Ihr einen Wunsch habt», sagte er, nachdem er sich gestarkt hatte. ëAber nun bitte ich Euch: La?t mich gehen. Ich habe diese Nacht noch einen weiten Weg zuruckzulegen.»
        Der junge Pfarrer begleitete seinen Gast vor die Tur. Paolo loste die Leine, mit der er sein Pferd festgebunden hatte. ëLebt wohl, Hochwurden, ich reite in meine Heimat zuruck.»
        Er schwang sich auf sein Pferd und ritt davon. Die Luft war mild. Im Gebusch des verwilderten Gartens schlug eine Nachtigall.
        Seltsame Gedanken bewegten den Pfarrer, der auf der Stra?e stand und den verklingenden Hufschlagen nachlauschte.



        NACHTLICHER BESUCH

        ALS GIOVANNI VON DER ARBEIT KAM, WAR DER Vater nicht zu Hause. Wahrscheinlich befand er sich noch mit seinem Kahn auf der Lagune. Wenn die anderen langst an Land gefahren waren, zog Ernesto mit seinem Begleiter erst die Netze ein. Giovanni wu?te, warum der Vater sich keine Ruhe gonnte. Er machte sich Sorgen, da? er in zwei Jahren die zweihundert Zechinen nicht zuruckzahlen konne. Der Fischfang brachte gerade so viel ein, da? sie davon leben und sich kleiden konnten. Wie sollte er aber die Zinsen, die nach jedem Vierteljahr fallig waren, zahlen und au?erdem so viel zurucklegen, da? er die geliehene Summe punktlich zuruckgeben konnte?
        Das ëPapierchen» des Messer Celsi begann seine unheilvolle Wirkung auszuuben. Giovannis Vater verfolgten im tiefen Erschopfungsschlaf manchmal noch die schweren Gedanken seiner einsamen Tagesstunden. Er sah, wie er sich muhselig uber eine graue, endlose Landstra?e schleppte, an seiner Seite Giovanni, in Lumpen gekleidet, die hellen Augen anklagend auf den Vater gerichtet, und er horte das gellende Lachen Messer Celsis, der riesengro? am Stra?enrand stand und die beiden heimatlosen Vagabunden hohnisch zum Weitergehen antrieb.
        Um den Sorgen zu entgehen, besuchte Ernesto von Zeit zu Zeit mit seinem Begleiter, der den Wein liebte, das Weinhaus La Malvagia, um sich mit den Maurern und Steinbauern, die er von fruher her kannte, zu treffen. Es geschah dann, da? er einen Schoppen Wein mehr trank, als ihm und seinem Geldbeutel gut war, damit er nicht mehr an das ëPapierchen» zu denken brauchte. Nachher machte er sich Vorwurfe uber jeden unnutz ausgegebenen Soldo.
        Giovanni arbeitete im Garten, in dem es jetzt grunte und bluhte, zupfte das Unkraut heraus, lockerte den Boden auf und besprengte ihn mit Wasser. Dann setzte er sich auf die Bank und wartete das Dunkelwerden ab. Der Sommer, der sich in den milden Fruhlingsnachten und den kleinen grunen Fruchten an Baumen und Strauchern ankundigte, schien nicht viel Gutes fur ihn bereitzuhalten. Wie schon und sorgenlos hatten sie im vergangenen Jahr gelebt, bis das Ungluck mit dem Vater geschehen war, bis Paolo plotzlich verschwand und die Freundschaft mit Marco einen Ri? bekam. Eines war wieder so wie fruher geworden, noch tiefer und schoner sogar: die Freundschaft zu Marco. Gerade deshalb traf es ihn so schmerzlich, da? der Freund, nachdem seine Flucht mi?gluckt war, in seinem Zimmer eingesperrt wie ein Gefangener hausen mu?te, bis es dem Oheim gefiel, ihn in die Klosterschule zu bringen. Und das wurde schon in den nachsten Tagen geschehen, wie Giannina ihm mitgeteilt hatte.
        Giovanni grubelte nach, wie er dem Freund helfen konne, aber er sah keinen Ausweg. Manchmal sagte er sich sogar, da? das Schicksal es mit Marco vielleicht besser gemeint hatte, als dieser zunachst selbst glaubte. Wer wei?, wie es ihm in den fremden Landern ergangen ware. Wenn er aber an Marcos Sehnsucht nach der Ferne und seine kuhnen Traume dachte, wu?te er, was es fur ihn bedeutete, auf Jahre hinaus hinter die Mauern des Klosters gesperrt zu werden.
        Der Mond war aufgegangen, die Sterne leuchteten, und die Vogel schliefen. Gianninas Mutter zundete in der Stube die Kerzen an. Giovanni sah das Licht durch das Gebusch schimmern.
        Meister Benedetto hatte ihn heute gelobt und gesagt, da? er geschickte Hande und einen guten Blick fur das Holz hatte, wie es fur einen richtigen Bootsbauer erforderlich sei. Er soll sich aber ja nichts darauf einbilden. Dann hatte er Giovanni mit in seine Werkstatt genommen und das fertige Boot gezeigt. Er, Giovanni, durfte als erster das Boot sehen. Er verstand ja schon einiges vom Bootsbau und war ergriffen gewesen von der Schonheit der von der Hand des Meisters gebauten Barke. Sie war fur die Personenbeforderung bestimmt und trug einen Aufbau, in dem vier Menschen bei Regen wie in einem Zimmer sitzen konnten. Aber das Schonste war ihre fein geschwungene Form.
        ëBald wirst du viele solcher Barken auf den Kanalen in Venedig sehen», hatte der Meister gesagt und einen Schluck aus dem Krug genommen. ëUnd keiner wird bestreiten konnen, da? die erste dieser Art von Meister Benedetto auf Murano gebaut worden ist. Ich habe auch schon einen Namen fur sie: Gondola! Na, wie klingt das? Doch nun schnell an die Arbeit, du Faulpelz!»
        Aber Giovanni lie? sich nicht vertreiben. Er strich mit der Hand uber die Rundungen des Holzes und sagte ernst: ëMeister Benedetto, das Boot ist sehr schonÅ Ich kann gar nicht sagen, wie schon es ist.» Dann erst war er hinausgelaufen.
        Wenn Giovanni an seine eigene Zukunft dachte, hatte er keine Sorgen. Er wollte aber auch, da? der Vater und der Freund froh wurden. Die Nacht war dunkler, und der Mond war heller geworden. Giovanni horte an dem Aufsetzen der Krucken, da? der Vater nach Hause kam. Er lief ihm entgegen.
        ëHast wohl schon gewartet?» begru?te Ernesto seinen Jungen. ëEs ist ein bi?chen spat geworden, aber der Fang hat sich gelohnt.»
        Giovanni spurte den Weingeruch, der in den Kleidern sa?, und sah an den glanzenden Augen, da? der Vater noch einen Schoppen Wein getrunken hatte. Er war auch lustiger als sonst und schien alle Sorgen von sich geworfen zu haben. In einem Beutel, den er um die Schulter gehangt trug, brachte er einige Fische mit. Giovanni nahm sie aus und bereitete das Abendessen fur den Vater zu. Er erzahlte von dem Lob, das er von Meister Benedetto erhalten hatte.
        Ernesto horte ihm zu und lie? sich das Abendbrot gut schmecken. Die Arbeit und der Wein hatten ihn mude gemacht, so da? er sich hinlegte und in kurzer Zeit einschlief. Er mu?te ja morgen fruh vor Sonnenaufgang wieder auf den Beinen sein. Auch Giovanni blieb nicht langer wach.
        Bald war es still in dem kleinen Haus. Tiefe, regelma?ige Atemzuge zeugten davon, da? beide fest schliefen. Sie horten nicht die leisen Schritte, die sich drau?en naherten, und sahen auch nicht die dunklen Umrisse einer menschlichen Gestalt, die vorsichtig durch den Vorgarten schlich.
        Ein Gesicht beugte sich zur Scheibe, zwei Augen versuchten das von mattem Mondlicht beleuchtete Zimmer zu durchdringen.
        Ein Finger klopfte an das Fenster. Die Schlafer horten es nicht. Wieder das leise, eindringliche Klopfen, bis sich im Zimmer etwas regte. Giovanni erwachte zuerst. Er richtete sich auf. Der Vater lag auf seinem Bett und schlief.
        Was hatte ihn nur aufgeweckt? Kein Laut war zu horen, sicher hatte er getraumt. Er legte sich beruhigt zuruck, schreckte aber gleich wieder hoch, als es abermals klopfte.


        Eine tiefe, vertraute Stimme rief: ëGiovanni! Giovanni!» Der Junge warf die Decken von sich, lief zum Fenster und pre?te sein Gesicht gegen die Scheibe. Noch wu?te er nicht genau, ob ihm seine Augen ein Phantasiebild vorgaukelten oder ob das, was er sah, Wirklichkeit war.
        Vor dem Fenster, vom Licht des Mondes beschienen, stand ein vornehm gekleideter Herr, der Paolo ahnlich sah. Jetzt lachelte er und bedeutete dem Jungen, er solle doch die Tur offnen und ihn einlassen. Und als Giovanni das Lacheln sah, wu?te er, da? es Paolo war, der drau?en stand. Er sprang zur Tur und stie? mit dem Bein einen Stuhl um. Giovanni spurte keinen Schmerz.
        ëPapa!» rief er. ëPaolo ist gekommen. Wacht doch auf, Papa! Ach, ich kann die Klinke nicht finden.»
        Endlich gelang es ihm, aus dem Zimmer zu kommen. Er offnete die Haustur. ëPaolo!» schrie er in die Dunkelheit hinein. ëIch wu?te doch immer, da? du einmal wiederkommst.»
        Paolo umarmte den Jungen, hob ihn hoch und trug ihn in das Haus hinein. ëNicht so laut, Giovanni!» flusterte er.
        ëWas geht da vor sich?» tonte Ernestos Stimme durch die Stube. Giovanni, atemlos von der Umarmung und mit Freudentranen in den Augen, rief fast emport: ëAber Papa, Paolo ist doch gekommen, hort Ihr es denn nicht?»
        Er eilte voraus in die Stube, fa?te den Vater, der sich halb aufgerichtet hatte, um die Schultern und sagte: ëSeht doch, Papa, Paolo ist wieder bei uns!»
        Inzwischen war auch Paolo eingetreten. ëIch bin es wirklich, Ernesto, und bitte dich, mich diese Nacht aufzunehmen.»
        ëAber du kannst doch hierbleiben, solange du willst, Paolo», mischte sich Giovanni ein. Er lie? die beiden kaum zu Worte kommen. ëImmer kannst du bei uns bleiben, nicht wahr, Papa, sagt es ihm doch.»
        Ernesto nickte. ëNaturlich kann Paolo bleiben, solange er Lust hat. Aber nun setz dich, Paolo, und ruhe dich aus, du hast sicher einen weiten Weg hinter dir. Und du, Giovanni, solltest ihm einige Fischlein braten.»
        Paolo hielt Giovanni, der schon in die Kuche eilen wollte, zuruck. Er hatte keinen Hunger, sagte er. Und Giovanni blieb gern in der Stube; denn er wollte kein Wort von dem verlieren, was Paolo erzahlen wurde, und hatte ihm ja auch selbst so viel mitzuteilen.
        Ernesto war inzwischen aufgestanden und hatte die Lampe angezundet. Mit Erstaunen betrachtete er Paolos schone Kleider.
        ëGut siehst du aus, Paolo. Aber nun erzahle uns, wie es dir ergangen ist. Wir waren sehr traurig uber dein VerschwindenÅ Aber jetzt bist du ja wieder da.»
        ëAuch Kapitan Matteo wird sich freuen», redete Giovanni dazwischen. Vor lauter Freude konnte er seine Zunge nicht im Zaume halten.
        ëKapitan Matteo?» fragte Paolo und runzelte die Stirn. ëHat man ihn denn nicht eingesperrt?»
        Giovanni und Ernesto wurde es mit einem Male klar, warum Paolo nach seinem Sprung uber Bord so spurlos verschwunden war.
        ëDu hattest nicht wegzugehen brauchen, Paolo», sagte Ernesto. ëKapitan Matteo ist auf seiner Schmugglerfahrt den Schergen entronnen.»
        Eine Weile war es still in der Stube. Das Lampenlicht warf die Schatten der Kopfe auf den Tisch.
        Paolo sah nachdenklich in Giovannis Gesicht. Er war ernster und reifer geworden durch die Erlebnisse, die hinter ihm lagen.
        Ernestos Worte riefen viele Gedanken in Paolo hervor. Er konnte sich in Venedig frei bewegen, brauchte nicht wie ein Dieb in der Nacht an die Fenster zu klopfen? Er konnte am hellen Tage zu der Fischersiedlung am Lagunenstrand fahren, in Dimitros Hutte treten und sagen: Seht, da bin ich wieder, Dimitro und Giulia. Ich habe Euch eine Kleinigkeit mitgebracht, weil ihr so freundlich zu mir wart. Fur Euch, Dimitro, einen Satz damaszener Schnitzmesser und fur Euch, Giulia, ein goldenes Armband und eine Perlenkette.
        Paolo erinnerte sich an das Geschenk, das er fur Giovanni bei sich trug. Er zog es aus der Tasche, die er mit sich fuhrte, und sagte: ëDu hast mir einmal einen Dolch geschenkt, Giovanni. Ich hab ihn gut aufbewahrt. Heute habe ich dir einen anderen dafur mitgebracht. Nimm ihn!»
        Er reichte Giovanni die Waffe, deren Griff aus Elfenbein mit eingelegter Silberverzierung bestand.
        Giovanni betrachtete den Dolch mit ehrfurchtigem Blick. Er wagte nicht, nach ihm zu greifen. ëNimm ihn nur», ermunterte Paolo den Jungen.
        Da nahm Giovanni die kostbare Waffe und strich mit der Hand uber das mattglanzende Silber.
        ëIch habe nun zwei Dolche», sagte er. ëAuch Marco hat mir einen geschenktÅ Ich danke dir, Paolo.»
        Giovanni freute sich sehr, aber er konnte seiner Freude nicht Ausdruck geben. Es gab zuviel Ungeklartes zwischen ihnen. Paolo war anders geworden; nicht nur, weil er vornehme Kleider trug, seine Bewegungen waren freier, und seine Augen blickten durchdringend und kuhn.
        ëDu hast ein teures Geschenk mitgebracht, Paolo», sagte Ernesto, ëich kann das nicht so recht verstehenÅ» Er stand auf und hupfte zum Fenster, um es einen Spalt weit zu offnen. ëDu darfst es nicht falsch auffassen», setzte er seine Rede fort, ëwenn du schweigen willst, denke ich nichts Schlechtes von dir.»
        Paolo ruckte an den Tisch heran, legte beide Arme auf die Holzplatte und beugte den Oberkorper vor. ëIch werde dir alles erzahlen, was mir widerfahren ist, Ernesto. Auch Giovanni soll zuhoren. Und ihr konnt selbst entscheiden, ob ich recht gehandelt habe oder nichtÅ Ach, Ernesto, da? ich wieder in Venedig bin!»
        Paolo schaute uber die Gesichter der beiden hinweg in das trube Ol-licht. Und er berichtete von seinen Erlebnissen, ohne etwas hinzuzufugen oder etwas wegzulassen. Ernesto und Giovanni verfolgten jedes Wort. Durch den Fensterspalt drangen leise Nachtgerausche. Ein Zweig knackte, oder ein Vogel schlug verschlafen mit den Flugeln. Ganz fern bellte ein Hund. Die Gerausche schlichen wie auf Katzenpfoten durch die Nacht.
        Giovannis Augen waren gro? vor Staunen und schweigender Bewunderung uber Paolos Abenteuer.
        ëTausend Dukaten gab mir Angiolino zum Abschied. Funfhundert waren fur Alberto und Isabella bestimmt und funfhundert fur mich. 'Gott allein wei?, wie es dir in Venedig ergehen wird', sagte Angiolino. Ich habe ihn liebgewonnen wie einen Freund, aber irgend etwas trieb mich nach Venedig zuruck; ich tauge wohl nicht fur das Leben in den BergenÅ»
        Paolo schwieg. In der Stube roch es nach billigem Lampenol und dem schwarzgebrannten Docht. Eine atemlose Stille herrschte, in der man den Herzschlag zu horen glaubte. Giovannis Augen gluhten, er konnte kaum die Antwort des Vaters abwarten. Er hatte Furcht davor, da? sie nicht so ausfallen wurde, wie er sie sich wunschte.
        Ernesto rausperte sich. ëWie konntest du anders handeln?» sagte er, als sprache er zu sich selbst. ëEs war nicht deine Schuld, die dich auf die Landstra?e Kinausgetrieben hatÅ du hast nun ein Stuck Welt gesehen, und dein Herz hat dich wieder nach Venedig zuruckgefuhrt. Sei willkommen, Paolo!»
        Giovannis Freude machte sich in lauten Ausrufen bemerkbar; und Ernesto mu?te ihn zur Ruhe mahnen. Elena im Nachbarhaus hatte einen leichten Schlaf. Es war nicht notwendig, da? sie sogleich von dem nachtlichen Besuch Kunde bekam.
        Giovanni dachte nun auch an Marco und Giannina. Wie wurden sie sich freuen, wenn sie morgen von Paolos Ruckkehr erfuhren. Vielleicht wu?te Paolo einen Rat, wie Marco vor dem Besuch der Klosterschule bewahrt werden konnte. Er wollte sogleich vom Schicksal des Freundes erzahlen, wurde aber durch eine Frage Paolos abgelenkt. ëWie geht es dir, Ernesto?»
        ëWie soll es gehen?» antwortete Ernesto bitter. ëMit dem Beruf ist es vorbei. Ich habe mir einen Kahn gekauft und fahre jeden Tag zum Fischen hinaus.»
        Giovannis Gedanken waren augenblicklich bei dem, was den Vater bedruckte. ëMesser Celsi hat uns zweihundert Zechinen geliehenÅ»
        ëSchweig doch, Giovanni», unterbrach ihn der Vater. Giovanni sah den Vater verstandnislos an. Warum sollte er Paolo nicht von ihren Sorgen erzahlen? Er war doch wie ein gro?er Bruder, der zur Familie gehorte. Aber es war nicht notig, mehr zu sagen. Paolo wu?te wohl, was es bedeutete, wenn man sich von einem Mann wie Messer Celsi Geld leihen mu?te.
        ëIch habe oft an euch beide gedacht», sagte er und suchte nach den Worten, mit denen er Ernesto seine Hilfe anbieten konnte. ëWie mag es Ernesto und Giovanni gehen, habe ich mich gefragtÅ»
        ëUns geht es schon gut, brauchst dir keine Sorgen zu machen», sagte Ernesto.
        Giovanni spurte, da? er sich in das Gesprach jetzt nicht einmischen durfte.
        ëIch kann mir denken, wie dir zumute ist», sagte Paolo. ëDen Messer Celsi kenne ich. Du darfst nicht langer sein Schuldner bleiben, Ernesto. Morgen bringst du ihm seine zweihundert Zechinen zuruck.»
        Paolo zog aus der Ledertasche seinen Geldbeutel hervor und zahlte die Dukaten auf den Tisch. Er kummerte sich nicht um Ernestos Protest.
        ëIch handle so, wie Angiolino gehandelt hatte», sagte er. In dieser Nacht kehrte neue Lebensfreude in das Haus auf Murano ein. Zweihundert Golddukaten lagen auf dem Tisch.
        ëNun bin ich dein Schuldner, Paolo.» Ernesto reckte sich auf. ëDer Herr wird Augen machen, wenn ich ihm sein Geld zuruckbringe.» Paolo sah lachelnd vor sich hin. Er fuhlte sich daheim. Die vergangenen Erlebnisse verbla?ten. Morgen wollte er nach der Fischerhutte am Strand des Lido fahren und die Fischer fragen, ob sie ihn in ihre Gemeinschaft aufnehmen wurden.
        Er schlief kaum in dieser Nacht, lag mit offenen Augen auf dem Bett und dachte nach. Giovanni hatte ihm von Marco erzahlt, der in seiner Stube eingesperrt war und bald auf Jahre hinaus seiner Freiheit beraubt werden wurde.
        Aber Marco war noch zu jung, um allein in die weite Welt hinauszugehen.
        Sollte er ihm zur Flucht verhelfen? Paolo fand keine Antwort auf diese Frage.



        DIE GOLDENE TAFEL

        ZWEI MANNER IN ABGETRAGENEN REISEKLEIDERN, Gesichter und Hande von der sengenden Wustensonne verbrannt, waren nach einer langen, langen, beschwerlichen Reise an die Kuste des Mittelmeeres gelangt. Ihrer Gestalt und ihren Gesichtern nach mu?te man sie fur Bruder halten, deren Ahnlichkeit in gemeinsam erlebten Gefahren noch deutlicher geworden war. Der Altere, von hohem Wuchs und kraftigem Korperbau, wies mit einer weiten Handbewegung auf den Seehafen am Fu?e der Berge.
        ëEin Hafen wie jeder andere», sagte er, ëSchiffe, Lasttrager, Handler und Tavernen. Bis hier oben horst du das Geschrei der Menschen.»
        Sie standen auf halber Hohe des Berges, an dessen Fu?e die wei?en Hauser und winkligen Gassen der Stadt lagen.
        ëWir sind wohl etwas menschenscheu geworden», erwiderte der Jungere, der etwa vierzig Jahre zahlen mochte und von schlanker Gestalt war.
        Sie stiegen zur Stadt hinab. Nur selten wechselten sie ein Wort. Sie waren es gewohnt, sich mit wenigen Worten und Gesten, mit einem schnellen Blick, durch eine Bewegung der Mundwinkel oder der Augenbrauen zu verstandigen.
        Vor ihnen, still und weit, lag das blaue Meer. Es sah nicht anders aus als die Indischen Gewasser, die um die Kusten des riesigen Mongolenreiches spulten.
        Aber es war das heimatliche Meer, dem sie vor vierzehn Jahren den Rucken gekehrt hatten, um in das Innere Asiens einzudringen.
        Sie beschleunigten ihre Schritte. In Layas gab es eine Niederlassung ihrer Landsleute. Die wollten sie aufsuchen, zum ersten Male wieder die heimatlichen Laute der weichen venezianischen Mundart vernehmen.
        Eine druckende Schwule herrschte. Als sie die ersten Hauser der Stadt erreichten, stand die Sonne im Mittag. Stra?en und Gassen lagen wie ausgestorben. Die Fenster waren zum Schutz gegen die Sonne mit wei?en Tuchern verhangt. Ein nacktes braunes Armenierkind spielte unbekummert um die Hitze im Staub der Stra?e. Ganz allein sa? es da, schimpfte mit einem Stuck Zedernholz, das ein storrisches Kamel wahrend einer Rast in der Wuste darstellte.
        Die beiden Manner blieben vor einer Schenke in der Nahe des Hafens stehen, schoben den Perlenvorhang zur Seite und traten in den halbdunklen Raum. Der Wirt erhob sich verschlafen, um die armlich gekleideten Gaste zu bedienen. Als sie allerdings den besten Wein und ein gutes Mittagsmahl verlangten, wurde er flink und diensteifrig.
        Sie a?en und tranken. Der Altere nahm seine Ledertasche, zog eine goldene Tafel heraus und legte sie vor sich hin. Der Wirt nahte sich auf Zehenspitzen und wollte seiner Verwunderung durch einen Schwall von Worten Ausdruck geben. Eine herrische Handbewegung des Jungeren verscheuchte den allzu Neugierigen.
        Die goldene Tafel trug das Zeichen des machtigen Gro?khans und war den beiden Reisenden als Geleitbrief uberreicht worden. Diese Tafel hatte sie in den tatarischen Reichen geschutzt. Jeder Statthalter war verpflichtet gewesen, sie auf ihrer Reise zu unterstutzen, ihnen Diener und Soldaten beizugeben, Kamele und Maultiere zur Verfugung zu stellen und sie in jeder Weise zu fordern. Trotzdem hatte die Reise vom Hofe des Gro?khans bis zur Kuste des Mittelmeeres uber drei Jahre gedauert; denn die goldene Tafel konnte den Wustensturm und die Trinkwassernot nicht bannen. Und die steinigen Pfade in den Hochgebirgen, die schwankenden Brucken uber Abgrunde, die sengende Hitze mit den hei?en, atemberaubenden Winden, die giftigen Insekten und tausend andere Unbilden der Natur lie?en sich durch die goldene Tafel mit dem Zeichen des Gro?khans nicht in einen angenehm kuhlen und ungefahrlichen Wanderpfad verwandeln.
        Der Jungere verstand, warum sein Begleiter die Tafel auf den Tisch gelegt hatte. Nicht, um dem Wirt Achtung vor seinen Gasten einzuflo?en. Es war eine Erinnerung an eine erstaunliche, abenteuerliche Reise, ein Abschied von einem wichtigen Teil ihres vergangenen Lebens und zugleich eine mit Freude und Sorge gemischte Erwartung auf die erste Begegnung mit der Heimat.
        Sie sa?en sich schweigend gegenuber und tranken den kuhlen, mit Wasser gemengten Wein. Der Wirt hatte sich wieder in seine Ecke gesetzt und wunderte sich uber seine stummen Gaste. Er war es gewohnt, da? es laut und lebhaft an den Tischen zuging. Um die Mittagszeit allerdings kamen nur selten einmal einige Kaufleute, Handler oder Seeleute, sie zogen es vor, um diese Zeit in ihrem Quartier oder in einem schattigen Winkel zu schlafen.
        Die sonnenverbrannten Hande des Alteren schoben sich unter die goldene Tafel und hoben sie etwas an.
        Vor vierzehn Jahren hatte er mit seinem Bruder Byzanz verlassen. Sie trugen in ihren Taschen nichts anderes als Edelsteine, die sie fur den Erlos aus dem Verkauf einer Schiffsladung eingehandelt hatten. Edelsteine waren begehrte Handelsartikel in allen Teilen der Welt. Bald sollte sich zeigen, da? ihre Rechnung, die Edelsteine gunstig zu vertauschen, richtig gewesen war.
        Kaiser Balduin II., der von ihrem Vorhaben, in das sagenhafte Reich des Mongolenherrschers zu reisen, gehort hatte, verabschiedete sie im Jahre 1255 von Byzanz. Sie segelten uber das Schwarze Meer nach dem Hafen Soldaia und begaben sich von dort auf dem Landwege nach Bulgar an der Wolga und Sarai, zum Hofe Barkaikhans, des Beherrschers der westlichen Tataren. Die Reisenden aus Venedig wurden von dem tatarischen Fursten ehrenvoll empfangen, er erwiderte ihre Geschenke, indem er ihnen Juwelen von doppeltem Wert und zahlreiche andere Gaben uberreichen lie?.
        Jahrelang lebten sie am Hofe des Khans, unternahmen Reisen und bekamen einen Begriff von der Gro?e des westlichen Teils des Mongolenreiches. Ein Krieg zwischen Barkaikhan und seinem Bruder Hulagu zwang sie, sich auf den Weg nach Bokhara zu begeben. Sie durchquerten, nachdem sie den Sir Darja uberschritten hatten, in siebzehn Tagesreisen die Wuste von Kirsil-Kum. Drei Jahre verbrachten sie in Bokhara, und sie nutzten diese Zeit, um ihren Bestand an Edelsteinen zu vermehren.
        Sie lernten am Hofe Barkaikhans den Gesandten des Gro?khans kennen, der weit im Osten Chinas, in Kangbahli, seinen Wohnsitz hatte. Die beiden Reisenden erfuhren, da? der machtige Herrscher Kublaikhan inmitten seiner Hauptstadt einen Palast bewohnen solle, in dessen Halle sich sechstausend Personen aufhalten konnen. Man sagte, da? dieser gewaltige Bau mit den ihn umgebenden Parkanlagen einen Umfang von acht chinesischen Li (221/2 km) einnehme.
        Uber den marchenhaften Reichtum am Hofe des Gro?khans gab es die unwahrscheinlichsten Berichte; aber die italienischen Reisenden wollten sich mit eigenen Augen uberzeugen und nahmen deshalb die Einladung des Gesandten, mit ihm an den Hof seines Gebieters zu reisen, erfreut an. Sie brauchten uber ein Jahr fur die beschwerliche Reise; die Erwartungen, die sie im stillen gehegt hatten, wurden durch die Wirklichkeit noch ubertroffen.
        Der Gro?khan empfing sie als die ersten Italiener an seinem Hofe mit gro?em Wohlwollen und lie? sich von den Fursten und Volkern des Abendlandes erzahlen. Er interessierte sich besonders fur die Art der Kriegfuhrung und fur den Papst und die Lehren der christlichen Kirche.
        Eines Tages schlug er den beiden Italienern vor, sie mochten als seine Gesandten nach Rom reisen und den Papst bitten, ihm hundert Gelehrte zu senden, die den Gelehrten seines Reiches die Lehren des Christentums offenbaren sollten, um auch seine Volker fur diesen Glauben zu gewinnen. Die beiden Reisenden stimmten freudig zu, schon lange hatte sich in ihren Herzen der Wunsch geregt, wieder in die Heimat zuruckzukehren.
        Kublaikhan uberreichte ihnen am Tage vor ihrer Abreise die goldene Tafel und Briefe in tatarischer Sprache fur den Papst. Reich beschenkt verlie?en sie in Begleitung eines Offiziers den Hof. Den Offizier mu?ten sie schon nach der zweiten Tagesreise, da er schwer erkrankt war, zurucklassen. So zogen sie allein weiter, und die goldene Tafel offnete ihnen die Grenzen der Reiche und die Pforten der Stadte.
        Drei Jahre brauchten sie bis zum Gestade des heimatlichen Meeres. ëWoran denkst du, Maffio?» fragte der Jungere.
        Maffio Polo nahm die Tafel und steckte sie wieder in seine Ledertasche.
        ëEs geht mir wie dir, Nicolo», erwiderte er. ëIch kann die Zeit nicht mehr erwarten, nach Venedig zu kommen, und doch kleben meine Gedanken wie Vogel auf einer Leimrute an dem fernen Land mit seinen stillen Seen zwischen den wilden, blutengeschmuckten Bergen.»
        ëWir waren vierzehn Jahre weg», sagte Nicolo Polo. Er stutzte den Kopf in die Hande. Gewaltsam versuchte er sich von den Gedanken zu befreien, die ihn wahrend der ganzen langen Reise begleitet hatten. Es gelang ihm nicht; es gelang ihm auch nicht, die geheime Sorge um das Wohlergehen der Gattin und des Sohnes, der damals eben geboren worden war, abzuschutteln. Vierzehn Jahre! Was nutzten die ewigen Selbstvorwurfe? Der Drang, immer tiefer einzudringen in das riesige Reich, die spottischen Bemerkungen seines Bruders, wenn er zur Umkehr gemahnt hatte, waren starker gewesen.
        ëGruble nicht langer», sagte Maffio und schlug ihm auf die Schulter, ëbald sind wir zu Hause. Was sind denn vierzehn Jahre? Denke daran: Wir kommen nicht mit leeren Handen.» Er schlug auf die Ledertasche. ëDie Diamanten sind soviel wert wie drei Schiffsladungen. Komm nur, la? uns gehen. Die Fahrt ubers Mittelmeer ist nicht mehr als ein Sprung fur uns.»
        ëRecht hast du, Maffio, das Grubeln bringt nichts ein.» Nicolo Polo sprang auf und hangte sich seine fremdartig aussehende Tasche um. Ein mongolischer Lederhandwerker hatte sie fur ihn angefertigt.
        Der Wirt begleitete seine Gaste bis zur Tur, schob eilfertig den Perlenvorhang zur Seite und flehte den Segen Allahs fur sie herab.
        Das Leben regte sich wieder in den Stra?en und Gassen der Hafenstadt. Kamele und Maulesel zogen zum Marktplatz, verschleierte Frauen eilten leichtfu?ig uber die Stra?e, und die Handler priesen in den Basaren ihre Waren an. Das Meer war spiegelglatt und schimmerte in durchsichtigem Blau. In der Hafenbucht lagen nur wenige Schiffe, und keines trug die Flagge mit dem goldenen Lowen von San Marco. Layas war ein kleiner, unbedeutender Hafen, besa? aber eine Niederlassung der venezianischen Kaufleute.
        Maffio und Nicolo gingen an dem Posten vorbei durch das Tor in den Fondaco. Sie kamen auf einen viereckigen Hof, der von Hausern, Marktbuden und Warenmagazinen umgeben war. Sie unterschieden die Wohnungen der Kaufleute, ein Schlachthaus, ein Backhaus, ein Bad und ein Gerichtshaus. Neben der Kaufhalle, einem Holzgebaude, stand eine kleine Kirche, die Nicolo an San Giacomo auf Rialto erinnerte, obwohl sie nicht die geringste Ahnlichkeit mit dieser Kirche besa?.
        Auf dem Hof, besonders vor den Warenmagazinen und Marktbuden, und in der Kaufhalle herrschte reges Leben. Maffio und Nicolo Polo naherten sich einer Gruppe wei? gekleideter Araber, die um einen venezianischen Kaufherrn herumstanden und mit lebhaften Gebarden verhandelten. Ein Dolmetscher ubersetzte mit ruhiger Stimme die italienischen Worte ins Arabische.
        Die beiden Reisenden blieben stehen und versuchten einen Blick auf die Gesichter ihrer Landsleute zu werfen. Die heimatlichen Laute beruhrten sie so stark, da? es ihnen schwerfiel, sich zu trennen.
        Der Dolmetscher sah den beiden nach und wu?te nicht, in welche Gruppe er sie einordnen sollte. Ihre Gesichter waren dunkel - braun wie die der Araber, aber der Gesichtsschnitt verriet, da? sie Italiener waren. Er hatte keine Zeit, lange nachzudenken. Sein Geschaft nahm ihn bald wieder ganz in Anspruch.
        Maffio und Nicolo schritten durch die Kaufhalle. Auch hier befanden sich mehr fremde Verkaufer als Venezianer. Das Geschwader, das auf seiner Reise nach Cypern und Damaskus auch Layas beruhren sollte, traf fruhestens in drei?ig Tagen ein, aber die Handler aus der Stadt und der Umgebung waren schon jetzt bemuht, ihre Waren als Tauschobjekt mit gro?em Stimmaufwand anzubieten.
        Der Kaufherr, den Maffio und Nicolo Polo nach hoflichem Gru? ansprachen, horte erstaunt ihre Worte.
        ëWer seid Ihr?» fragte er. ëIhr sprecht die venezianische Mundart, aber Eure Rede ist mit fremdartigen Worten gemischt, die keiner in Venedig verstehen wurde. - Verzeiht, da? ich Euch in der ersten Uberraschung ausfragte», sagte er lachelnd. ëDarf ich Euch in meine Wohnung einladen? Ihr habt sicher eine weite Reise hinter Euch.»
        Er machte eine einladende Handbewegung und bat die Fremden, ihm zu folgen. Nicolo und Maffio Polo nahmen die Einladung an. Auf dem Wege nach der Wohnung des Kaufherrn uberlegten sie sich die Satze, mit denen sie sich vorstellen wollten, und bemerkten uberrascht, da? sie nach den einfachsten Worten in der heimatlichen Mundart suchen mu?ten.
        In dem Fondaco lebten zu dieser Zeit nur funfundzwanzig Venezianer, darunter funf Kaufherren, die von hier aus des ofteren nach Aleppo, Antiochia oder nach den cyprischen Hafen reisten, um die Handelsgeschafte fur die ankommenden venezianischen Schiffe vorzubereiten. Die anderen Bewohner des Fondaco waren Schreiber und Handwerker.
        Der Kaufherr, ein jungerer Mann von etwa drei?ig Jahren, schwarzhaarig, mit schmalen Schultern und schnellen Bewegungen, stellte sich als Agnolo Nelli vor. Er klatschte in die Hande und befahl dem Diener, ein Mahl zu bereiten. Die beiden Reisenden sagten, sie hatten gerade gegessen; der Kaufherr aber meinte, da? ein kleiner Imbi? mit ein wenig Wein nicht schaden konne.
        Wahrend Maffio und Nicolo Polo ihre Hande in die Fingerschalen tauchten, schickte der Gastgeber nach den beiden anderen im Fondaco anwesenden Kaufleuten und lie? ihnen die Ankunft der Reisenden melden. Bald kamen sie auch in die Wohnung des Agnolo Nelli, um die Ankommlinge zu begru?en. Es war in dem abgelegenen Layas ein Ereignis, neue Gesichter zu sehen, das man sich nicht entgehen lassen konnte. Leider kannte keiner der Kaufleute die Familie Polo; denn sie wohnten am anderen Ende der Stadt, im Sestier di Castello. Venedig war gro?, uber hundertfunfzigtausend Seelen lebten auf den Laguneninseln, die Zeit, da einer den anderen kannte, war langst vorbei.
        Maffio und Nicolo Polo erfuhren neben anderen Neuigkeiten, da? der Papst Clemens IV. Ende des vergangenen Jahres gestorben und noch kein neuer gewahlt worden sei. Seine Geschafte nahme inzwischen der Gesandte zu Acre, Teobaldo de Viscoti, wahr, der zu dieser Zeit auf seiner Burg im Suden Italiens weilte.
        Die drei Kaufherren hatten es sich um den Tisch bequem gemacht und waren begierig, die Geschichte der Reisenden zu erfahren.
        Nicolo ergriff das Wort und begann von ihrer langwierigen Reise und ihren Erlebnissen am Hofe des machtigsten aller Fursten zu sprechen. Er mu?te im Anfang nach den Worten suchen, aber je langer er sprach, um so leichter fiel es ihm und um so deutlicher klang die heimatliche Mundart hindurch, allerdings noch oft mit fremden Ausdrucken durchsetzt.
        Die Kaufleute horten schweigend zu, wechselten von Zeit zu Zeit Blicke, um sich zu vergewissern, da? sie wohl einer Meinung uber die Erzahlung ihrer Landsleute in den abgeschabten Reisekleidern seien.
        Nicolo Polo schilderte die von Gold und Silber schimmernde riesige Halle im Palast des Kublaikhans, sprach von den weidenden Hirschen, Rehen und Gazellen und dem Teich mit den Goldfischen inmitten des den Palast umgebenden Parkes, in dem es einen kunstlichen Berg gebe, auf dem die schonsten Baume des Landes zur Zierde eines auf seinem Gipfel befindlichen grunen Palastes gepflanzt worden seien. Kein anderer Herrscher der Erde gebiete uber so gewaltige Armeen und habe so gro?e Besitzungen und Reichtumer aufzuweisen wie Kublaikhan, der ubrigens sehr gebildet sei und sie mit gro?en Ehren aufgenommen habe.
        Der lebhafte Agnolo Nelli bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl hin und her und ermunterte mit seinen Blicken die beiden Kaufherren, doch endlich dem lugnerischen Prahlen der Abenteurer ein Ende zu machen. Er als Gastgeber mu?te sich, so schwer es ihm fiel, noch zuruckhalten.
        Als Nicolo eine Pause machte und in seinen Erinnerungen nach einem Erlebnis suchte, das geeignet sein konnte, den Landsleuten die fremde Welt lebendig zu machen, sagte der ihm gegenubersitzende altere Kaufherr mit spottischem Unterton:
        ëDer Reichtum des machtigsten Herrschers der Erde scheint auf Euch nicht abgefarbt zu haben?»
        Die anderen lachten auf.
        Maffio Polo zog seine Mundwinkel nach unten und sah die Spotter mit schmalen Augen an. Aber er sagte nichts. Die Heiterkeit der drei Zuhorer legte sich. Agnolo Nelli, dem Gastgeber, wurde es unbehaglich zumute. Das plotzliche Schweigen forderte zu einer versohnlichen Bermerkung heraus.
        ëEntschuldigt, da? wir Euren Worten nicht folgen konnen», sagte Agnolo, ëes ist so ungewohnlich, was Ihr uns erzahlt.»
        Der altere Kaufherr sah ihn unwillig an. ëUngewohnlich?» fragte er. ëIhr druckt Euch sehr vorsichtig aus, Agnolo.»
        ëIhr haltet uns also fur Lugner?» fragte Nicolo Polo mit zornrotem Gesicht und stand auf. Sein Bruder legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter, und Agnolo Nelli bat ihn, ein offenes Wort nicht ubelzunehmen.
        Maffio Polo wandte sich an den alteren Kaufmann. ëIhr meintet, der Reichtum des machtigen Herrschers habe auf uns nicht abgefarbt», sagte er ruhig. ëDa habt Ihr recht. Unsere Kleider sehen nicht zum Besten aus. Durch die Wusten und uber die Gebirge geht man nicht in Samt und Seide gekleidet wie ein Bischof zur Prozession oder wie ein Kaufherr im Fondaco von Layas.» Er sah sein Gegenuber fest an und konnte nicht vermeiden, da? sich sein Mund in feinem Spott verzog, als er fortfuhr: ëTrotzdem ist unsere Reise nicht ganz vergeblich gewesen. Seht, was wir mitgebracht haben. Ein wenig hat der Reichtum doch abgefarbtÅ»
        Maffio Polo zog einen Beutel mit Edelsteinen aus der Tasche und schuttelte sie vorsichtig auf dem Tisch aus. Sie fingen das Sonnenlicht und warfen ein glei?endes Farbbundel zuruck, das die» Augen blendete.
        Die Kaufleute, uberwaltigt von der Schonheit der Steine, stie?en bewundernde Rufe aus. Sie schienen mit einem Male ihre Zweifel und spottischen Bemerkungen vergessen zu haben. Der altere Kaufherr griff nach einem gro?en Diamanten, legte ihn auf die Handflache und betrachtete ihn mit Kennerblicken.


        ëEs war nicht bose gemeint», sagte er. ëVerzeiht!à- Wenn ich Euch einen guten Rat geben darf, so empfehle ich Euch, die kostbaren Steine wahrend der uberfahrt in Eure Kleider einzunahen.»
        Die Reisenden neigten die Kopfe und sahen sich mit einem kurzen Blick an.
        ëEuer Rat ist gut», sagte Nicolo. ëWir danken Euch dafur.» In seinen Augen funkelten Lichter auf. Die Kaufleute hielten sie fur den Widerschein der auf dem Tisch liegenden Diamanten. Wie konnten sie wissen, da? sich in den Nahten und geheimen Taschen der abgetragenen Reisekleider bereits Edelsteine befanden, die den Wert des Beutels um ein Vielfaches ubertrafen?
        Als Maffio Polo den Herren die goldene Tafel und die Briefe an den Papst vorlegte, schwanden auch die letzten Zweifel. Agnolo Nelli entschuldigte sich viele Male und stellte den Reisenden seine Wohnung mit der Dienerschaft zur Verfugung. Sie konnten bei ihm bleiben, solange sie Lust hatten, es sei ihm eine Ehre, ihnen dienen zu konnen.
        Maffio und Nicolo Polo aber wollten so schnell wie moglich nach Italien zuruck, um ihre Botschaft an den Papst oder seinen Stellvertreter auszurichten und dann nach Venedig zu reisen. Nicolo beantwortete die vielen Fragen, die an ihn gerichtet wurden, nicht allzu wortreich, obwohl er bei seiner ersten Schilderung gezeigt hatte, wie lebendig er berichten konnte. So verabschiedeten sich die Kaufherren bald, und Agnolo erbot sich, personlich nach dem Hafen zu gehen, um zu erfahren, wann das nachste Schiff nach Italien auslaufe.
        Die Reisenden horten nach seiner Ruckkehr, da? am kommenden Morgen eine kleinere franzosische Galeere ihre Fahrt nach Massilia antrete, bei der sie auch im Hafen von Tarent anlegen werde. Dann segele erst wieder in vierzehn Tagen ein Schiff zur italienischen Kuste. Agnolo Nelli bot ihnen an, bis zur Abfahrt des zweiten Schiffes seine Gaste zu sein. Sie konnten doch nicht, kaum seien sie angekommen, sogleich wieder abreisen. Nicolo Polo aber meinte, sie seien es gewohnt, schnelle Entschlusse zu fassen. Auch sein Bruder war fur die sofortige Abreise. Sie dankten dem Landsmann fur seine Gastfreundschaft und begaben sich zum Kapitan des Schiffes, einem lustigen Franzosen aus Tarascon, mit dem sie bald handelseinig wurden. Zwei Matrosen bekamen den Auftrag, im Laderaum einige Kisten zur Seite zu raumen, um einen behelfsma?igen Aufenthaltsraum fur die Gaste zu schaffen.
        Am anderen Morgen stach das Schiff in See. Die venezianischen Kaufleute standen am Anlegekai und verabschiedeten die seltsamen Reisenden, die gestern erst vom Berg herabgestiegen waren, um heute schon wieder auf das Meer hinauszusegeln.
        Ein sanfter Wind blahte die Segel, langsam glitt das Schiff aus der schutzenden Bucht. Die Fahrt verlief unter gunstigen Windverhaltnissen. Der Kapitan freundete sich mit seinen Gasten an; oft sa?en sie beim Wurfelspiel zusammen, tranken guten franzosischen Wein und horten den Seemannsgeschichten des weitbefahrenen Franzosen zu.
        Maffio und Nicolo Polo aber huteten sich, von ihren Reiseabenteuern zu erzahlen. Die Erfahrungen mit ihren Landsleuten hatten sie vorsichtig gemacht, im ubrigen war es nicht notwendig, da? Kapitan und Mannschaft von den Edelsteinen erfuhren, die sie mit sich fuhrten.
        Die Reisenden hielten sich meist auf Deck auf.
        Die Insel Cypern lag bereits hinter ihnen. Tage und Nachte vergingen, bis an einem Nachmittag die gebirgige Insel Kreta vor ihren Augen aus dem blauen Meer aufstieg. An einer Stelle wichen die Berge in einem weiten Bogen zuruck und gaben eine breite grune Talsohle frei, die bis zum Meere reichte. Maffio wies auf die Hauser eines Stadtchens, die von der Kuste bis an die Berghange gebaut waren. Menschen winkten, Acker, Wiesen, weidendes Vieh, silbrige Olivenbaume und schlanke Zypressen. Griechische Frauen schritten mit Tragholzern zum Brunnen und gonnten dem Schiff verstohlene, sehnsuchtige Blicke.
        Der Steuermann wechselte den Kurs, um von der gefahrlichen Nahe der Kuste wegzukommen. Menschen, Hauser und Baume wurden klein wie Kinderspielzeug, bald waren nur noch die Umrisse der Berge zu sehen, eine Schattierung dunkler als das Blau der unendlichen Wasserflache.
        Nicolo Polo ging zum Bug des Schiffes. Er kampfte gegen eine bange Ahnung, die ihn befallen hatte, als das Schiff von dem trauten Bild des an den Berg geschmiegten Stadtchens weg auf das offene Meer hinaussegelte. Seine Gedanken versuchten, sich die Heimkehr, die ersten Schritte uber den Hof, das offnen der Haustur vorzustellen - aber als er weiterdenken wollte, stand plotzlich das Bild der in der Ferne verschwindenden Hauser und winkenden Menschen vor seinen Augen.
        Die Wellen schlugen gegen den Leib des Schiffes. Ein guter Wind trug sie dem gro?er werdenden, sinkenden Sonnenball entgegen.
        ëWie ware es mit einem Spielchen, Monsieur Polo?» fragte der Kapitan. ëEs hat keinen Sinn, stundenlang aufs Wasser zu starren.»
        ëBuono, Kapitan. Ihr habt recht. Wir kommen dadurch nicht schneller und nicht langsamer voran», erwiderte Nicolo Polo.
        Anfang April des Jahres 1269 erreichten die beiden Reisenden nach vierzehnjahriger Abwesenheit zum ersten Male wieder italienischen Boden, standen im Hafen von Tarent, horten italienische Laute, gingen wie im Traum durch die Stadt und fanden an einem verfallenen, grunumrankten Griechentempel ihren nuchternen Sinn fur die Wirklichkeit und die erprobte Entschlu?kraft zuruck. Es bedurfte keiner Worte, um ihren Plan fur die Weiterreise festzulegen. Sie versahen sich, indem sie einige Diamanten verkauften, mit den notigen Geldmitteln, erwarben eine Kutsche mit zwei schnellen Pferden, mieteten funf Kriegsknechte und fuhren schon nach zwei Tagen los. Im Konigreich Neapel und auch im Kirchenstaat soll ein Stra?enrauber sein Unwesen treiben, erzahlte man, vor dem kein vornehmer Reisender sicher sei. Nicolo hatte die Geruchte mit spottischem Lacheln quittiert, der umsichtige Maffio aber harte gemeint, da? sie nicht vierzehn Jahre durch die ganze Welt gereist seien, um am Ende ausgeraubt zu werden. Deshalb also reisten sie in Begleitung der Bewaffneten und hatten auch fur sich selbst Armbrust und Degen in
Bereitschaft.
        Sie reisten auf der Via Appia, der alten romischen, vielbefahrenen Heerstra?e, zum Gesandten Teobaldo de Visconti, der sie mit gro?er Freundlichkeit empfing, ihren Bericht anhorte und die Briefe des Gro?khans Kublai entgegennahm. Er lie? die Siegel offnen und bat die beiden Reisenden, die tatarischen Satze ins Lateinische zu ubersetzen. Aufmerksam lauschte er auf jedes Wort. Seine Hand mit dem schmalen Gelenk kam aus dem Hermelinbesatz und stutzte das Kinn. Er hatte ein kluges, energisches Gesicht mit einer drohenden, senkrechten Stirnfalte uber der Nase. Die Botschaft des sagenhaften Herrschers kam ihm in seinem Bestreben, den Papststuhl zu besteigen, sehr gelegen. Er befahl seinen Ratgebern, den Raum zu verlassen.
        Den beiden Poli bedeutete er in der folgenden kurzen Unterredung mit vorsichtigen Worten, da? er, wenn er zum Papst gewahlt wurde, das Anerbieten des Gro?khans, gelehrte Monche in sein Reich zu schicken, annehmen werde.
        Maffio und Nicolo verlie?en den Gesandten mit dem befreienden Gefuhl, ihre Botschaft an die rechte Stelle weitergeleitet zu haben.
        Am nachsten Tage setzten sie sich wieder in ihre Kutsche und reisten der Heimat entgegen. Noch immer trugen sie ihre Reisekleidung, auch beim Besuch des Gesandten hatten sie ihre alten Kleider nicht abgelegt.
        Sie sahen das siebenhundertjahrige Kloster auf dem Monte Cassino, fuhren nichtsahnend am Schlupfwinkel der Truppe des Konigs der Felder vorbei und kamen, die Grenze des Kirchenstaates uberschreitend, in die Toscana, deren Hugel, Wiesen und Felder sie wie ein gro?er, bluhender Garten umfingen.
        Die Heimat war schon. Sie lehnten sich schweigend in das Polster zuruck, schlossen die Augen, um sich fur immer den Anblick des fruchtbaren Landes einzupragen.
        In Padua schickten sie die Kriegsknechte nach Hause, verkauften die Kutsche und legten die letzte Strecke des Weges auf dem Rucken der Pferde zuruck.
        Sie sprachen kaum miteinander. Jeder war mit seinen Gedanken beschaftigt und versuchte des Sturmes der Gefuhle Herr zu werden.
        An einem stillen, sonnendurchgluhten Abend erreichten sie Mestre, stellten ihre Pferde unter und mieteten eine Barke zur Weiterfahrt.
        Der Hauch der Lagune wehte sie an.



        DER VATER

        DIE GESCHAFTE MESSER PIETRO BOCCOS LIESSEN sich gut an. Von dem zweiten Geschwader der venezianischen Schiffe war befriedigende Nachricht gekommen. Weniger erfreulich stand es mit seinem Vorhaben, den Neffen in das Kloster von San Nicolo zu schaffen. Der greise Prokurator, der diesseits des Canal Grande die Vormundschaften der Waisen und die Verteidigung ihrer Guter besorgte, hatte eines Tages Marco Polo besucht und mit Erstaunen seine Abneigung gegen den Eintritt in das Kloster festgestellt. Von Pietro Bocco war ihm etwas ganz anderes berichtet worden. Allerdings stimmte es, da? der Zogling einen Fluchtversuch unternommen hatte, aber der Prokurator meinte, dieser Jungenstreich sei kein Grund, Marco gegen seinen Willen in ein Kloster zu sperren. Er weigerte sich, seine Unterschrift zu geben, und hatte Messer Pietro Bocco in einem ernsten Gesprach darauf hingewiesen, da? er ihn zur Rechenschaft ziehen werde, wenn er Unregelma?igkeiten bei der Verwaltung des Vermogens der Poli entdecke; denn er ahnte jetzt wohl, warum der Kaufherr den Erben hinter die Mauern des Klosters haben wollte.
        Messer Pietro Bocco war nach dieser Unterredung, in der er dem Prokurator sein freundlichstes Gesicht und gro?e Bereitwilligkeit gezeigt hatte, wutend nach Hause gegangen. Er dachte nicht daran, seinen Plan aufzugeben, war aber zu klug, sofort etwas zu unternehmen. Der Prokurator war zweiundachtzig Jahre alt, und man sprach davon, da? er sein Amt noch in diesem Jahre aufgeben werde. Es hie? also: abwarten.
        Der Monat April ging zu Ende. Nach dem Besuch des Prokurators war Marcos Gefangenschaft gemildert worden. Zwar bewachte ihn noch ein Diener, der den Befehl hatte, keinen Fremden an ihn heranzulassen, und es bestand auch nicht die Moglichkeit, wie fruher, drau?en frei herumzustreifen; aber schon das Gefuhl, dem Oheim nicht mehr schutzlos ausgeliefert zu sein, verschaffte ihm innere Befriedigung. Starker noch als das Gesprach mit dem greisen Prokurator hatte ihn die Nachricht Giovannis bewegt, da? der getreue Paolo zuruckgekehrt sei und jetzt als Fischer in einer Siedlung auf dem Lido lebe. Tag fur Tag grubelte er daruber nach, wie er eine Zusammenkunft mit Paolo ermoglichen konne. Er wollte ihn sehen, sein leises, gutmutiges Lachen horen und wie fruher mit ihm auf die Lagune hinausrudern. Aber er durfte gerade in diesen Tagen dem Messer Pietro Bocco keine Veranlassung zu Klagen uber ungehorsames Verhalten geben. Die Drohungen des Oheims hatten ihn vorsichtig gemacht.
        Der Kastanienbaum auf dem Hof stand in der vollen Pracht seiner Blute. Marco sa? uber ein Buch gebeugt am Fenster. Er befand sich bei Bruder Lorenzo wieder in gutem Ansehen, ganz zu schweigen von Tiberius, der vor lauter Begeisterung im Kreise herumlief, wenn Marco auftauchte und die Knochen aus der Tasche zog. Seitdem er dem Unterricht wieder mit Interesse folgte, besorgte Bruder Lorenzo ihm Bucher, die der Zogling mit nach Hause nehmen durfte. Und es waren nicht nur geistliche Schriften.
        Wenn er seinen Blick hob, sah er die Sonnenstrahlen auf den Dachern liegen. Die Fruhlingstage waren mild und hell, und die Dammerung brauchte lange, um die vielen Farben in ihren grauen Mantel zu hullen. Die Stunde zwischen Tag und Abend war angefullt mit suchenden Gedanken. Lange Jahre wurden noch vergehen, bis er uber sich selbst bestimmen konnte. Wo aber lag das Ziel? Keiner war da, der ihm den rechten Weg wies. Und er selbst fand ihn nicht. Marco hatte schon erkannt, da? man nicht einfach seiner Sehnsucht, seinen Wunschen folgen konnte wie die Bienen, die im Garten herumsummten und den Honig aus den Bluten saugen. Die Morgennebel der Kindheit lagen uber seiner Phantasie, und bisweilen schien die Sonne hindurch und tauchte sie in schimmerndes, unruhiges Gold.
        Eine Katze schlich uber den Hof. Es war dunkel geworden. Giannina kam herein, zundete die Kerzen an und ging, das Abendessen zu holen. Es war gut, sie in der Nahe zu wissen. Sie hatte ihm oft geholfen, uber die einsamen Stunden hinwegzukommen, und war die Mittlerin der freundschaftlichen Anteilnahme Giovannis gewesen.
        Er sa? mit dem Buch auf den Knien und wartete, da? Giannina zuruckkame, um ein kleines Gesprach im Schein der Kerzen zu fuhren. Da horte er schwere Schritte im Hof und den Klang zweier Mannerstimmen. Die Manner standen vor der Haustur und waren sich nicht schlussig, ob sie eintreten sollten oder nicht.
        Marco, plotzlich aufmerksam geworden, horte, wie die Tur geoffnet wurde, wie Schritte sich entfernten. Einer war eingetreten, der andere ging davon. Marco stand auf und fuhlte nach seinem Dolch. Wer besuchte ihn so spat? Eine Hoffnung regte sich. Vielleicht war es Paolo? Dem schweren Schritt nach zu urteilen, konnte es Paolo sein. Froh rannte er zur Tur und ri? sie auf. Schon wollte er ëPaolo» rufen, da erstarb ihm das Wort auf den Lippen.
        Ein fremder hochgewachsener Mann mit sonnenverbranntem Gesicht trat ein. Er sah sich im Zimmer um, als suche er etwas, heftete dann seinen Blick auf Marco, sah ihn lange an. Ein Erstaunen zeigte sich in seinen Zugen wie bei einem Menschen, der etwas Unbegreifliches und doch zutiefst Ersehntes vor seinen Augen sieht und sich nicht daruber klarwerden kann, ob es Traum oder Wirklichkeit ist.
        Giannina kam mit dem Abendessen, stellte es auf den Tisch und ging wieder hinaus. Marco bemerkte sie nicht. Da war etwas Sonderbares geschehen. Ein fremder Mann stand im Zimmer mit einem ungepflegten schwarzen Bart und staubbedeckten Reisekleidern. Aber die gro?en Augen und die Form der Stirn, die Falten, die von den Wangenknochen zu den Mundwinkeln liefen?
        Die Kerzen flackerten. Ich mu? die Dochte kurzen, dachte Marco und ging durch das Zimmer, als ware der andere nicht da.
        Der Fremde verfolgte jede Bewegung des Jungen. Er war es, der zuerst sprach: ëWie hei?t du?» fragte er.
        Die Worte zerstorten den traumhaften Zustand. Der Fremde sprach nicht wie ein Venezianer.
        ëSagt mir erst, wer Ihr seid!» erwiderte Marco kampfbereit. ëWas wollt Ihr von mir?»
        ëIch bin Nicolo Polo!» sagte der Fremde, und eine Spur von Ungeduld zeigte sich im Gesicht und in seiner Korperhaltung. Marco sah es wohl, er nahm uberhaupt jede Au?erlichkeit wahr, nur in seinem Gedankengewirr konnte er sich nicht zurechtfinden. ëIch habe gerade gelesen!» sagte er. ëMarco hei?e ich.» ëMarco Polo», sagte der Fremde fur sich. Dann lauter: ëFreust du dich denn nicht, da? dein Vater zuruckgekommen ist?» Nicolo Polo empfand ein beklemmendes Gefuhl, dessen Ursprung er sich nicht erklaren konnte. Er ahnte, da? sich irgend etwas verandert hatte, wollte nach der Gattin fragen, drangte die Frage zuruck. Sein Sohn stand vor ihm, ein junger Mensch mit des Vaters Gesichtszugen, schlank, gut gewachsen, ein wenig finster aussehend vom Grubeln, Nicolo Polo nahm den Jungen in seine Arme. ëIch bin dein Vater», sagte er, ësieh mich doch an!»


        Marco druckte sein Gesicht an die staubigen Kleider und sagte, fur den Vater unverstandlich, Worte, die Erstaunen, Freude, Ungeduld, Befriedigung, Stolz und alles miteinander ausdruckten. Dann loste er sich plotzlich von seinem Vater und sagte:
        ëJetzt kann Pietro Bocco nicht mehr machen, was er will. Ich wu?te es, da? Ihr einmal wiederkommt, Vater.»
        Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, dachte er daran, da? die Mutter auf San Michele ruhte. Und die Vertrautheit mit dem Fremden, der sein Vater war, machte einer inneren Leere Platz, die alle Gefuhle ausloschte.
        ëMama ist gestorben», sagte er. ëVater», wollte er hinzufugen, damit der unerwartete Schmerz nicht so gro? sei, aber er konnte es nicht. Er dachte an die stillen Vorwurfe, die in den Gesprachen der Mutter gewesen waren, wenn sie vom Meer, von den Schiffen und den lockenden fernen Kusten gesprochen hatte, und er verstand in diesem Augenblick, da? die stummen Vorwurfe auch dem Fremden gegolten hatten, der vor ihm stand - seinem Vater.
        ëLionora ist tot», sagte Nicolo Polo tonlos.
        ëAuf San Michele liegt sie begrabenÅ Vater!»
        ëIch gehe jetzt auf mein ZimmerÅ Schicke das Madchen zu mir, ich bin sehr mudeÅ Wenn man vierzehn Jahre reist, wird man mudeÅ Auf San Michele liegt sie? Ja, ich gehe jetztÅ»
        Marco sah den Schmerz im Gesicht des Vaters. Keiner hatte ihn gesehen. Er sah ihn. Aber es war gerade, als hatte einer die Tur zu seinem Herzen zugeschlagen.
        Der Vater ging hinaus, ungebeugt. Marco legte das Buch an seinen Platz. Die Luft im Zimmer roch nach dem verbrannten Docht. Es waren Kerzen wie Linnen so wei?. Nirgendwo gab es wei?ere Kerzen als in Venedig.
        Marco ging in die Kuche und sagte zu Giannina: ëMein Vater ist heimgekehrtÅ Er ist mudeÅ Du mu?t das verstehen: Vierzehn Jahre ist er gereist, durch die ganze Welt. Morgen gehst du zu Giovanni und sagst ihm, da? mein Vater zuruckgekommen ist. Nun ist alles gut.»
        Marco schlief kaum in dieser Nacht. Als er sich am andern Morgen angezogen hatte und auf der Treppe dem Aufpasser begegnete, sagte er: ëIch will Euch hier nicht mehr sehen. Geht zu meinem Oheim und sagt ihm das!»
        Der Vater war noch nicht erwacht. Marco schlich mehrmals an seiner Tur vorbei in der Hoffnung, irgendein Gerausch zu horen. Endlich regte sich etwas. Er wagte jedoch nicht, hineinzugehen. Vielleicht hatte er die Tur geoffnet, wenn er gewu?t hatte, da? das Bett unberuhrt war und der Vater mit aufgestutztem Ellenbogen am Tisch sa?.
        Messer Pietro Boccos Diener hatte es indes sehr eilig, zu seinem Herrn zu kommen, um ihm die Worte seines Neffen zu ubermitteln, hatte er doch den Auftrag erhalten, jede Unbotma?igkeit des Knaben sofort zu melden. Messer Pietro Bocco verschlo? sofort die Tur seines Warenlagers und begab sich zu Marco. Unterwegs uberlegte er, wie er den Neffen zu weiteren Unbesonnenheiten reizen konne.
        Merkwurdigerweise empfing Marco ihn mit kuhler Freundschaft. Und bevor der Oheim seinen eingeubten Worten freien Lauf lassen konnte, sagte der Knabe etwas, das im ersten Augenblick unwahrscheinlich klang, ihn aber dann zu schnellem, wachem Denken zwang.
        ëGestern Abend ist mein Vater zuruckgekommen, Oheim. Er wird sich freuen, Euch begru?en zu konnen.»
        Das sagte Marco. Und Messer Pietro Bocco wu?te, kaum hatte er die Satze gehort, da? sie keine Erfindung der regen Phantasie seines Neffen waren.
        ëWo ist er?» fragte er und konnte die Besturzung nur schwer verbergen.
        Marco wies auf den Flur hinaus und sagte sich im gleichen Moment, da? es nicht gut sei, wenn der Oheim zuerst mit dem Vater sprache. Aber er konnte es nicht mehr andern; denn Pietro Bocco verlie? sofort das Zimmer, ohne seinen Neffen eines weiteren Blickes zu wurdigen.
        Die Unterredung zwischen Nicolo Polo und seinem Schwager dauerte sehr lange. Marco ging aufgeregt in seinem Zimmer auf und ab und war mehr als einmal versucht, auf den Flur hinauszugehen, um zu lauschen, was im Zimmer des Vaters gesprochen wurde.
        Giannina brachte ihm das Fruhstuck. ëGeh doch hinein!» riet sie ihm mit Zorn in der Stimme. ëEr erzahlt sicher nur Schlechtes von dir.»
        Aber Marco zuckte mit den Schultern. ëDenkst du, der Vater glaubt es?» fragte er und lachte spottisch auf. ëUnd wenn er ihm mehr glaubt als mir - nun gut, ich kann es nicht andernÅ» Dabei lauschten seine Ohren auf jedes Gerausch im Flur.
        Erst gegen Mittag verlie? Pietro Bocco das Haus.
        Marco wartete, was nun geschehen wurde. Die gewohnte Stille im Haus war beinahe unertraglich. Nicolo Polo lie? sich das Essen auf sein Zimmer bringen. Mit keinem Wort war davon die Rede, da? er seinen Sohn zu sehen wunsche. ëEr hat einen Haufen funkelnder Steine auf dem Tisch ausgeschuttet», berichtete Giannina. ëUnd er steht davor, als traume er.»
        ëDu brauchst Giovanni noch nicht zu sagen, da? er zuruckgekommen ist», sagte Marco.
        Giannina schuttelte den Kopf und versicherte, da? sie nicht im Traum daran denke, heute nach Murano zu fahren.
        Maria ging auf Zehenspitzen durch das Haus. Marco konnte ihr frohes Gesicht nicht ertragen und ging ihr aus dem Wege.
        Der Wind wehte und trieb winzige Regentropfen gegen die Scheibe. Dann wieder schien die Sonne, lie? die Tropfchen wie Diamanten schimmern, saugte sie auf.
        Marco ging mehrmals uber den Flur. Er hatte in den anderen Zimmern zu tun. Es konnte ja sein, da? der Vater plotzlich aus seiner Stube trat, um nach einem gewissen Marco Polo zu rufen. Er wurde es dann nicht so eilig haben, dem Rufe zu folgen.
        Die Tur blieb verschlossen. Nicolo Polo sa? am Tisch, hatte den Kopf auf die Arme gelegt und war vor Mudigkeit fest eingeschlafen, so da? keiner der schweren Gedanken ihn im Traum verfolgen konnte.
        Marco war mehrere Male versucht, einen Blick durch das Schlusselloch zu werfen, ging aber immer wieder hustelnd und mit schweren Schritten vorbei.
        Er sa? also in seinem Zimmer und betrachtete einen Berg funkelnder Steine. Messer Pietro Bocco war den ganzen Vormittag bei ihm gewesen. Fur den Sohn hatte er keine Zeit mehr ubrig.
        Die Bitterkeit in Marco vermochte aber nicht, die immer wieder durchklingende Freude und ein Gefuhl der Sicherheit zu ubertonen. Es geschah sogar, da? er in seiner heimlichen Zwiesprache, ofter als es notwendig gewesen ware, das Wort ëVater» mit besonderer Betonung aussprach. Gestern war er noch eine Waise gewesen mit unruhigen, sehnsuchtigen Traumen, zwischen Himmel und Erde schwebend, dem greisen Prokurator und dem hartherzigen Oheim uber jeden seiner Schritte Rechenschaft schuldig, nun gab es einen Menschen, der den Arm um ihn legte, ihm sagte: ëHier darfst du nicht gehen, dort ist der richtige Weg», und mit ihm gemeinsam weiterging. So wurde es sein. ëDein Vater verlangt nach dir», sagte Giannina.
        Marcos Gesicht farbte sich rot. Er machte sich noch ein wenig im Zimmer zu schaffen. Es schien, als fande der Satz ein Echo in seinem Herzen: Dein Vater verlangt nach dir. Marco hatte keine Vorstellung mehr, welche Zeit es sei. Es konnte Morgen oder spater Nachmittag sein. Jetzt hatte also der Vater nach ihm verlangt. Er ruckte das Buch auf dem Regal zurecht. ëSo, nun ist hier alles in Ordnung», sagte er.
        Nicolo Polo sa? am Tisch. Sie sahen sich an.
        Er sieht mir ahnlich, dachte der Vater, genauso mu? ich in meiner Jugend ausgesehen haben.
        Wie ein Seerauber sieht er aus, dachte der Sohn, so mochte ich spater einmal aussehen. Und er versuchte, durch fest zusammengepre?te Lippen und eine duster gerunzelte Stirn dem Wunsche sogleich Ausdruck zu geben.
        In Nicolo Polos Zugen deutete sich ein Lacheln an. ëIch bin so fest eingeschlafen nach Pietro Boccos Besuch, da? ich nichts mehr gehort habe. Nun wollen wir miteinander sprechen.» Er wollte sich selbst nicht eingestehen, da? er vor den klaren prufenden Augen des Sohnes eine gewisse Scheu empfand. ëDer Oheim hat mir erzahlt, da? du zuzeiten wie ein Vagabund gelebt hattest», sagte er scharfer, als er beabsichtigt hatte.
        Marco erwiderte nichts.
        ëDu hast den Unterricht versaumt, bist tagelang mit Handwerkerkindern herumgestreift. Er sagte auch, du hattest deiner Mutter viel Kummer bereitetÅ Stimmt das?»
        ëJa», sagte Marco, dem es war, als sei alles Hoffen vergeblich gewesen. ëEs stimmtÅ Er wollte mich in ein Kloster sperren.» Finster sah er vor sich hin.
        ëEr wu?te sich keinen Rat mehr, sagte er mirÅ»
        ëSeine Augen sind nicht gut», erwiderte Marco. ëEr hat mich wie einen Gefangenen gehaltenÅ» Der Ha? loste Marcos Zunge. ëFragt nur Paolo oder Kapitan Matteo oder Giovanni!» Sein Gesicht gluhte vor Erregung, und die Worte kamen in schneller Folge uber seine Lippen. Alles, was ihm einfiel, redete er sich vom Herzen herunter. Endlich konnte er reden. Er hatte auch keine Furcht mehr, da? er mi?verstanden werde. Sein Vater sa? vor ihm, und Marco spurte aus seinem schweigenden Ernst und einem kaum merkbaren Lacheln die Anteilnahme und Warme.
        Nicolo Polo, klug und lebenserfahren, vertraut mit fremden Sitten und begabt mit einem Blick, der das Echte und Unechte voneinander unterscheiden gelernt hatte, stand bewegt auf, legte den Arm um die Schultern seines Sohnes und trat mit ihm an das Fenster. Er war nun wieder daheim. Neben ihm stand sein Junge, der ohne rechte Fursorge aufgewachsen war. Er besa?, das hatte der Vater in dem erregten Bericht gespurt, eine uppig wuchernde Phantasie, gleichzeitig aber den gesunden Sinn, um sie im Zaum zu halten.
        Er blickte auf den Hof und die gegenuberliegenden Hauser. Eine graue Regenwolke segelte am Himmel dahin, wurde vom spielenden Wind ergriffen und uber eine breite Flache verteilt, bis das Grau verbla?te und die Farbung des Himmels annahm. Nichts hatte sich verandert, nur der Kastanienbaum war gro?er und starker geworden.
        ëDu wolltest nach Damaskus?» fragte der Vater. ëWar das nur, um dem Kloster zu entgehen?»
        Marco dachte nach. Er suchte nach einer vollstandigen Antwort.
        ëImmer schon wollte ich weg, in fremde Lander, weit weg. Die Mama war traurig daruber, und sie wurde bose, wenn ich davon sprachÅ» Marco sah, wie sich die Zweige im Winde wiegten, wie Blutenblatter durch das Grun der Blatter taumelten, kleinen Schmetterlingen gleich.
        ëIch hoffte auch, Euch irgendwo zu treffen», sagte Marco.
        Nicolo Polo fuhr noch am selben Tage mit seinem Jungen nach San Michele und besuchte das Grab Lionoras. Erst am spaten Abend kamen sie zuruck, der Vater schweigsam und in sich gekehrt. Maffio Polo wartete auf sie. Mit seiner kraftigen Gestalt und dem lauten, gutmutig polternden Wesen schien er das ganze Zimmer auszufullen. Er hatte erfahren, welcher Verlust seinen Bruder getroffen hatte, und wu?te, da? man ihn jetzt mit seinem Grubeln nicht allein lassen durfte.
        Maffio Polo hatte seine Frau schon in jungen Jahren verloren, er stand allein in der Welt und hatte sich nach der Heimkehr gesehnt, um das Farbenspiel von Sonne, Steinen und Wasser, die Piazzetta und den Marcusplatz, den Canal Grande und die schmalen, von Mauerwerk und grunen Strauchern eingefa?ten Kanale zu sehen, um das tausendstimmige Summen auf dem Alten Rialto, die Schreie der Fischhandler, Kastanienbrater, Teigmacher, Trodler, den weichen Gesang der venezianischen Sprache zu horen. Er hatte sich am gestrigen Abend von seinem Bruder vor ihrem Hause verabschiedet und war zu Freunden gegangen. Nicolo Polo sollte den ersten Abend zu Hause allein verbringen. Erst heute Mittag hatte Maffio erfahren, da? seine Schwagerin gestorben war.
        Marco fuhlte sich zu dem Oheim sofort hingezogen, zumal dieser, um seinen Bruder abzulenken, bereitwillig die Fragen seines Neffen beantwortete und in lustiger Weise Erlebnisse von ihrem Aufenthalt am Hofe des Gro?khans zum besten gab. Marco hatte den Erzahlungen des Oheims bis zum nachsten Morgen lauschen konnen, ohne zu ermuden. Spat erst ging er schlafen.
        Maffio und Nicolo Polo aber berieten, was sie in der kommenden Zeit zu tun beabsichtigten. Sie hatten sich bereits auf der Reise vom Wohnsitz des Gesandten nach Venedig vorgenommen, nur wenigen vertrauten Freunden von ihren abenteuerlichen Erlebnissen zu erzahlen. Teobaldi di Visconti hatte ihnen angedeutet, da? er bald Nachricht geben wurde, ob er dem Ersuchen des Gro?khans, gelehrte Manner zu entsenden, entsprechen wolle. Sicher wurde er die beiden Bruder dann bitten, die Fuhrung auf dieser beschwerlichen Reise zu ubernehmen.
        Maffio Polo, schon funfundvierzig Jahre alt, aber von unverwustlicher Gesundheit, war bereit, die Reise zum zweiten Male zu unternehmen. Ihm genugte ein kurzer Aufenthalt in Venedig, um wieder mit frischer Kraft in die Welt hinauszugehen.
        Wie aber sah es mit dem Bruder aus? Nicolo dachte an die Unterhaltung mit seinem Sohn. Marco hatte das unruhige Blut des Vaters und des Oheims. Fur ihn wurde es die Erfullung seiner Wunsche bedeuten, wenn er mit ihnen gehen konnte. Aber war er nicht zu jung fur die gefahrenreiche Reise? Er dachte an den Offizier, den der Gro?khan ihnen mitgegeben hatte und der schon nach der zweiten Tagesreise schwer erkrankt war, er dachte an die gluhende Hitze, an die Kamele, die gleichmutig an den wei?en Skeletten im gelben Wustensand vorbeitrotteten, an den Uberfall in den Bergen, der ihnen und ihrer Begleitmannschaft beinahe das Leben gekostet hatte, an die hundert Gefahren, die im Hintergrund gelauert hatten. ëEr ist noch ein wenig zu jung», sagte er zu seinem Bruder.
        Und wahrend sie sich schweigend und nach dem richtigen Entschlu? suchend gegenubersa?en, wurde leise die Tur geoffnet. Marco, im Nachtgewand, kam herein. ëVerzeiht, Vater», sagte er, ëich mu? den Oheim noch etwas fragen.»
        Belustigt sahen die Bruder auf. Aber Marco fragte mit ernster Miene: ëIhr sagtet, Oheim, da? jeder, der sich dem Gro?khan nahert, die Erde kusse.»
        Maffio nickte.
        ëHabt Ihr das auch getan?»
        Maffio lachte auf. ëNaturlich», sagte er, ëwir konnten doch nicht unhoflich sein.» Marco runzelte die Stirn und ging wieder hinaus.
        ëEr ist noch ein wenig jung», sagte Maffio lachend, ëaber er ist aus dem rechten Holz geschnitzt.»
        Der Sommer kam. Marco geno? seine Freiheit in vollen Zugen. Der Vater konnte ihm keine Bitte abschlagen, und mit dem Oheim unterhielt er sich wie mit dem besten Freund. Eines Tages nahm er sich vor, Paolo zu besuchen. Giovanni hatte ihm genau beschrieben, wo sich die Fischersiedlung befand. Der Freund konnte nicht mitkommen, weil es bei Meister Benedetto in dieser Zeit viel zu tun gab.
        Ein Barcarole, jung, mit schnellen, kraftigen Bewegungen, fuhr Marco uber die silberglanzende Lagune, an kleinen Inseln und an Fischern vorbei, die ihre Kahne an zwei Pfahlen festgelegt hatten, mit ruhigen Handgriffen die Angeln auslegten und die Netze auf den Grund senkten.
        Schon lange war Marco nicht drau?en auf dem freien Wasser gewesen. Es war noch fruh, frische Morgenluft wehte um die Stirn, die Sonne stieg langsam hoher. Sie fuhren an der Kuste des Lido entlang, die Ferne war dunstig, so da? vom Festland nur unbestimmte Umrisse zu sehen waren.
        Hinter den Sanddunen des Lido lag das Meer, nicht weiter als funfhundert Schritte entfernt. Wenn der Barcarole das Ruder einen Augenblick ruhen lie? und das Boot mit leisem Platschern durch das Wasser glitt, glaubte Marco den Gesang der Wellen zu horen.
        Nach einer Stunde hatten sie die Siedlung erreicht. Die kleinen Hauser, von grunen Garten umgeben, standen hinter dem gelben Sand. Auf einer sanft ansteigenden Wiese hutete ein kleines Madchen die Ziegen, trieb sie mit leichten Stockschlagen von einem Zaun weg und regte sich dabei sehr auf, weil sie merkte, da? sie beobachtet wurde. Denn sieh nur, das Ziegenhuten ist eine schwere, verantwortungsvolle Beschaftigung!
        Pfirsichbaume mit gro?en grunen Fruchten standen im Garten.
        Ein uralter Fischer flickte Netze am Strand. Kein Fischerkahn war an diesem Tage zu Hause geblieben, ein einziges kleines Boot lag wie ein schlanker Fisch am Lagunenufer.
        Der Barcarole zog seinen Kahn auf den Sand und ging in das Innere der Insel Marco hatte ihm gesagt, da? er erst am Nachmittag zuruckfahren werde.
        Der alte Dimitro lie? sich in seiner Beschaftigung nicht storen, griff mit seinen knorrigen braunen Fingern geschickt in das Netzgewirr, hob die zerrissenen Faden an, knupfte sie zusammen und zog neue ein. ëBuon giorno», sagte Marco.
        ëBuon giorno», erwiderte der Hundertjahrige mit seiner jungen Stimme, die schon Paolo in Verwunderung gesetzt hatte.
        ëIch suche Paolo. Er soll bei Euch leben, hat man mir gesagt.» Dimitro knupfte die Faden. Das Meer rauschte. Die Netze rochen nach Fisch, die Sonne schien hei?, kleine Wellen hupften spielerisch uber den Sand, vor und zuruck, immer wieder, glasklar, mit wei?en Schaumkronchen. Dimitros Augen umfa?ten mit einem unbemerkten Blick die Gestalt und das Gesicht des Knaben. Marco wurde nicht ungeduldig.
        ëWer bist du, Sohnchen?» fragte der Alte.
        ëIch hei?e Marco Polo», antwortete Marco bereitwillig. ëGern hatte ich Paolo gesprochen. Ich habe ihm etwas Wichtiges mitzuteilen.»
        Der alte Dimitro hangte das Netz uber das Holzgestell und winkte dem Knaben mitzukommen. Sie gingen in die zunachst stehende Fischerhutte. Giulia, die am Fenster sa? und eine Jacke ausbesserte, sah auf.
        ëBesuch fur Paolo», sagte Dimitro und verlie? die Hutte wieder, um zu seinen Netzen zuruckzugehen.
        Warum sieht sie mich so bose an? fragte sich Marco.
        ëPaolo ist nicht da», sagte Giulia abweisend. Insgeheim befurchtete sie schon lange, da? er einmal kame, um Paolo wegzuholen. Und nun stand der vornehm gekleidete Knabe vor ihr. Sie konnte sich wohl denken, wer er war; denn Paolo hatte ihr von seinem jungen Dienstherrn erzahlt und gesagt, da? er vielleicht eines Tages auftauchen werde, um ihn aufzufordern, nach Venedig zuruckzukehren. Sie wollte aber, da? Paolo hier blieb.
        ëIch werde Euch nicht sagen, wo Paolo ist», sagte sie. ëEr bleibt bei uns.»
        ëAber ich mu? ihn doch sprechen», sagte Marco. ëEr wird schimpfen, wenn er erfahrt, da? Ihr mir keine Auskunft gegeben habt. Ist er zum Fischen hinausgefahren? Sagt es mir nur, ich bin doch Marco, sein Freund. Mein Vater ist zuruckgekommen.»
        Giulia bekam nun doch Angst, da? sie etwas Verkehrtes gemacht habe. Sogleich wurde sie freundlich und lebhaft, warf die Jacke hin und sagte: ëNun ja, wenn Ihr sein Freund seid. Er ist wirklich zum Fischen gefahren, nicht weit von hier liegt er mit seinem Kahn. Wenn Ihr wollt, begleite ich Euch zu ihm. Drau?en liegt ein Boot.

        Marco meinte, da? es genuge, wenn sie ihm den Weg weise.
        Giulia setzte sich wieder und beschaftigte sich eingehend mit der Jacke. Sie sprach nicht mehr mit Marco. Es war auch nicht notwendig; denn der Arger stand ihr so deutlich auf dem Gesicht gesehrieben, da? es keiner weiteren Worte bedurfte. Marco blieb nichts anderes ubrig, als sie aufzufordern, mit ihm zu kommen. Seine Stimme klang ein wenig argerlich; Giulia jedoch kehrte sich nicht daran, warf ihre Arbeit schnell zur Seite und sagte zu Marco, er solle vorausgehen, sie kame sogleich nach.
        Als sie nach einer Weile die Hutte verlie?, hatte sie ein neues Kleid und Schuhe angezogen. Die blonden Haare umrahmten ihr Gesicht, da? es eine Freude war, sie anzusehen. Um das Handgelenk trug sie ein breites goldenes Armband.
        ëIch fahre mit ihm zu Paolo hinaus, Gro?vaterchen», rief Giulia. ëWir sind gleich wieder zuruckÅ»
        Der alte Dimitro murmelte einige unwillige Worte.
        Das kleine Madchen hinter dem Haus hatte wieder schrecklichen Arger mit den ungehorsamen Ziegen. Und keiner beachtete ihre aufgeregten Rufe und heftigen Bewegungen. Noch nicht einmal die Ziegen.
        Paolo lag mit seinem Kahn in einer kleinen Bucht, etwa funfzig Schritte vom Schilf entfernt. Er sa? mit braungebranntem Gesicht und der gelassenen Ruhe eines Fischers, der sein Leben lang nichts anderes getan hat, als geduldig den Fischen nachzustellen, auf der Ruderbank und beobachtete sein Angelgerat.
        Er hatte sich schnell eingewohnt. Das Leben der Fischer gefiel ihm, und er verspurte nicht den Wunsch, nach Venedig zuruckzukehren. Schon oft hatte er sich vorgenommen, Marco zu besuchen, um mit ihm daruber zu sprechen. Aber wenn er abends in Dimitros Hutte sa?, wenn die Fischsuppe in einem Kessel auf dem offenen Feuer gekocht wurde, wenn in den Nachten die Wellen gegen den Strand schlugen und irgendwo ein junger Bursche ein sehnsuchtiges Lied sang, oder wenn er mit Giulia am Sonntag spazierenging, dann schob er den Besuch Venedigs immer wieder auf.
        Das Wasser in der Bucht war glatt und glanzend, im Schilf rumorte eine Wildentenfamilie. Die Sonne braunte Paolos Gesicht, so da? die Haut wie gegerbtes Leder aussah. Nichts blieb in der windlosen Stummheit verborgen. Paolo drehte sich um, als er das Platschern der Ruder horte, und sah Marco und Giulia kommen, bevor sie ihn riefen.
        Er horte die Freude in dem Klang der Stimmen-die helle, jauchzende Giulias und die etwas dunkler getonte Marcos.
        Marco zog das Ruder ein und steuerte das Boot vorsichtig neben den Fischerkahn. ëSchon siehst du heute aus», sagte Paolo in seiner ersten Verlegenheit zu dem Madchen.
        Giulia errotete. ëUnd er wollte mich gar nicht mitnehmen», erwiderte sie, auf Marco deutend. ëSeht Ihr, wie falsch es gewesen ware?»
        Paolo und Marco sahen sich an, beide erregt von der Zusammenkunft. Giulia spurte auf einmal, da? sie nicht mehr im Mittelpunkt stand, und das tat ein bi?chen weh, weil auf dem Grund ihrer Gedanken eine heimliche Furcht lauerte. Sie lie? die Hand uber den Bootsrand hangen und bewegte sie spielerisch im kuhlen Wasser.


        Marco druckte sein Gesicht an die staubigen Kleider und sagte, fur den Vater unverstandlich, Worte, die Erstaunen, Freude, Ungeduld, Befriedigung, Stolz und alles miteinander ausdruckten. Dann loste er sich plotzlich von seinem Vater und sagte:
        ëJetzt kann Pietro Bocco nicht mehr machen, was er will. Ich wu?te es, da? Ihr einmal wiederkommt, Vater.»
        Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, dachte er daran, da? die Mutter auf San Michele ruhte. Und die Vertrautheit mit dem Fremden, der sein Vater war, machte einer inneren Leere Platz, die alle Gefuhle ausloschte.
        ëMama ist gestorben», sagte er. ëVater», wollte er hinzufugen, damit der unerwartete Schmerz nicht so gro? sei, aber er konnte es nicht. Er dachte an die stillen Vorwurfe, die in den Gesprachen der Mutter gewesen waren, wenn sie vom Meer, von den Schiffen und den lockenden fernen Kusten gesprochen hatte, und er verstand in diesem Augenblick, da? die stummen Vorwurfe auch dem Fremden gegolten hatten, der vor ihm stand - seinem Vater.
        ëLionora ist tot», sagte Nicolo Polo tonlos.
        ëAuf San Michele liegt sie begrabenÅ Vater!»
        ëIch gehe jetzt auf mein ZimmerÅ Schicke das Madchen zu mir, ich bin sehr mudeÅ Wenn man vierzehn Jahre reist, wird man mudeÅ Auf San Michele liegt sie? Ja, ich gehe jetztÅ»
        Marco sah den Schmerz im Gesicht des Vaters. Keiner hatte ihn gesehen. Er sah ihn. Aber es war gerade, als hatte einer die Tur zu seinem Herzen zugeschlagen.
        Der Vater ging hinaus, ungebeugt. Marco legte das Buch an seinen Platz. Die Luft im Zimmer roch nach dem verbrannten Docht. Es waren Kerzen wie Linnen so wei?. Nirgendwo gab es wei?ere Kerzen als in Venedig.
        Marco ging in die Kuche und sagte zu Giannina: ëMein Vater ist heimgekehrtÅ Er ist mudeÅ Du mu?t das verstehen: Vierzehn Jahre ist er gereist, durch die ganze Welt. Morgen gehst du zu Giovanni und sagst ihm, da? mein Vater zuruckgekommen ist. Nun ist alles gut.»
        Marco schlief kaum in dieser Nacht. Als er sich am andern Morgen angezogen hatte und auf der Treppe dem Aufpasser begegnete, sagte er: ëIch will Euch hier nicht mehr sehen. Geht zu meinem Oheim und sagt ihm das!»
        Der Vater war noch nicht erwacht. Marco schlich mehrmals an seiner Tur vorbei in der Hoffnung, irgendein Gerausch zu horen. Endlich regte sich etwas. Er wagte jedoch nicht, hineinzugehen. Vielleicht hatte er die Tur geoffnet, wenn er gewu?t hatte, da? das Bett unberuhrt war und der Vater mit aufgestutztem Ellenbogen am Tisch sa?.
        Messer Pietro Boccos Diener hatte es indes sehr eilig, zu seinem Herrn zu kommen, um ihm die Worte seines Neffen zu ubermitteln, hatte er doch den Auftrag erhalten, jede Unbotma?igkeit des Knaben sofort zu melden. Messer Pietro Bocco verschlo? sofort die Tur seines Warenlagers und begab sich zu Marco. Unterwegs uberlegte er, wie er den Neffen zu weiteren Unbesonnenheiten reizen konne.
        Merkwurdigerweise empfing Marco ihn mit kuhler Freundschaft. Und bevor der Oheim seinen eingeubten Worten freien Lauf lassen konnte, sagte der Knabe etwas, das im ersten Augenblick unwahrscheinlich klang, ihn aber dann zu schnellem, wachem Denken zwang.
        ëGestern Abend ist mein Vater zuruckgekommen, Oheim. Er wird sich freuen, Euch begru?en zu konnen.»
        Das sagte Marco. Und Messer Pietro Bocco wu?te, kaum hatte er die Satze gehort, da? sie keine Erfindung der regen Phantasie seines Neffen waren.
        ëWo ist er?» fragte er und konnte die Besturzung nur schwer verbergen.
        Marco wies auf den Flur hinaus und sagte sich im gleichen Moment, da? es nicht gut sei, wenn der Oheim zuerst mit dem Vater sprache. Aber er konnte es nicht mehr andern; denn Pietro Bocco verlie? sofort das Zimmer, ohne seinen Neffen eines weiteren Blickes zu wurdigen.
        Die Unterredung zwischen Nicolo Polo und seinem Schwager dauerte sehr lange. Marco ging aufgeregt in seinem Zimmer auf und ab und war mehr als einmal versucht, auf den Flur hinauszugehen, um zu lauschen, was im Zimmer des Vaters gesprochen wurde.
        Giannina brachte ihm das Fruhstuck. ëGeh doch hinein!» riet sie ihm mit Zorn in der Stimme. ëEr erzahlt sicher nur Schlechtes von dir.»
        Aber Marco zuckte mit den Schultern. ëDenkst du, der Vater glaubt es?» fragte er und lachte spottisch auf. ëUnd wenn er ihm mehr glaubt als mir - nun gut, ich kann es nicht andernÅ» Dabei lauschten seine Ohren auf jedes Gerausch im Flur.
        Erst gegen Mittag verlie? Pietro Bocco das Haus.
        Marco wartete, was nun geschehen wurde. Die gewohnte Stille im Haus war beinahe unertraglich. Nicolo Polo lie? sich das Essen auf sein Zimmer bringen. Mit keinem Wort war davon die Rede, da? er seinen Sohn zu sehen wunsche. ëEr hat einen Haufen funkelnder Steine auf dem Tisch ausgeschuttet», berichtete Giannina. ëUnd er steht davor, als traume er.»
        ëDu brauchst Giovanni noch nicht zu sagen, da? er zuruckgekommen ist», sagte Marco.
        Giannina schuttelte den Kopf und versicherte, da? sie nicht im Traum daran denke, heute nach Murano zu fahren.
        Maria ging auf Zehenspitzen durch das Haus. Marco konnte ihr frohes Gesicht nicht ertragen und ging ihr aus dem Wege.
        Der Wind wehte und trieb winzige Regentropfen gegen die Scheibe. Dann wieder schien die Sonne, lie? die Tropfchen wie Diamanten schimmern, saugte sie auf.
        Marco ging mehrmals uber den Flur. Er hatte in den anderen Zimmern zu tun. Es konnte ja sein, da? der Vater plotzlich aus seiner Stube trat, um nach einem gewissen Marco Polo zu rufen. Er wurde es dann nicht so eilig haben, dem Rufe zu folgen.
        Die Tur blieb verschlossen. Nicolo Polo sa? am Tisch, hatte den Kopf auf die Arme gelegt und war vor Mudigkeit fest eingeschlafen, so da? keiner der schweren Gedanken ihn im Traum verfolgen konnte.
        Marco war mehrere Male versucht, einen Blick durch das Schlusselloch zu werfen, ging aber immer wieder hustelnd und mit schweren Schritten vorbei.
        Er sa? also in seinem Zimmer und betrachtete einen Berg funkelnder Steine. Messer Pietro Bocco war den ganzen Vormittag bei ihm gewesen. Fur den Sohn hatte er keine Zeit mehr ubrig.
        Die Bitterkeit in Marco vermochte aber nicht, die immer wieder durchklingende Freude und ein Gefuhl der Sicherheit zu ubertonen. Es geschah sogar, da? er in seiner heimlichen Zwiesprache, ofter als es notwendig gewesen ware, das Wort ëVater» mit besonderer Betonung aussprach. Gestern war er noch eine Waise gewesen mit unruhigen, sehnsuchtigen Traumen, zwischen Himmel und Erde schwebend, dem greisen Prokurator und dem hartherzigen Oheim uber jeden seiner Schritte Rechenschaft schuldig, nun gab es einen Menschen, der den Arm um ihn legte, ihm sagte: ëHier darfst du nicht gehen, dort ist der richtige Weg», und mit ihm gemeinsam weiterging. So wurde es sein. ëDein Vater verlangt nach dir», sagte Giannina.
        Marcos Gesicht farbte sich rot. Er machte sich noch ein wenig im Zimmer zu schaffen. Es schien, als fande der Satz ein Echo in seinem Herzen: Dein Vater verlangt nach dir. Marco hatte keine Vorstellung mehr, welche Zeit es sei. Es konnte Morgen oder spater Nachmittag sein. Jetzt hatte also der Vater nach ihm verlangt. Er ruckte das Buch auf dem Regal zurecht. ëSo, nun ist hier alles in Ordnung», sagte er.
        Nicolo Polo sa? am Tisch. Sie sahen sich an.
        Er sieht mir ahnlich, dachte der Vater, genauso mu? ich in meiner Jugend ausgesehen haben.
        Wie ein Seerauber sieht er aus, dachte der Sohn, so mochte ich spater einmal aussehen. Und er versuchte, durch fest zusammengepre?te Lippen und eine duster gerunzelte Stirn dem Wunsche sogleich Ausdruck zu geben.
        In Nicolo Polos Zugen deutete sich ein Lacheln an. ëIch bin so fest eingeschlafen nach Pietro Boccos Besuch, da? ich nichts mehr gehort habe. Nun wollen wir miteinander sprechen.» Er wollte sich selbst nicht eingestehen, da? er vor den klaren prufenden Augen des Sohnes eine gewisse Scheu empfand. ëDer Oheim hat mir erzahlt, da? du zuzeiten wie ein Vagabund gelebt hattest», sagte er scharfer, als er beabsichtigt hatte.
        Marco erwiderte nichts.
        ëDu hast den Unterricht versaumt, bist tagelang mit Handwerkerkindern herumgestreift. Er sagte auch, du hattest deiner Mutter viel Kummer bereitetÅ Stimmt das?»
        ëJa», sagte Marco, dem es war, als sei alles Hoffen vergeblich gewesen. ëEs stimmtÅ Er wollte mich in ein Kloster sperren.» Finster sah er vor sich hin.
        ëEr wu?te sich keinen Rat mehr, sagte er mirÅ»
        ëSeine Augen sind nicht gut», erwiderte Marco. ëEr hat mich wie einen Gefangenen gehaltenÅ» Der Ha? loste Marcos Zunge. ëFragt nur Paolo oder Kapitan Matteo oder Giovanni!» Sein Gesicht gluhte vor Erregung, und die Worte kamen in schneller Folge uber seine Lippen. Alles, was ihm einfiel, redete er sich vom Herzen herunter. Endlich konnte er reden. Er hatte auch keine Furcht mehr, da? er mi?verstanden werde. Sein Vater sa? vor ihm, und Marco spurte aus seinem schweigenden Ernst und einem kaum merkbaren Lacheln die Anteilnahme und Warme.
        Nicolo Polo, klug und lebenserfahren, vertraut mit fremden Sitten und begabt mit einem Blick, der das Echte und Unechte voneinander unterscheiden gelernt hatte, stand bewegt auf, legte den Arm um die Schultern seines Sohnes und trat mit ihm an das Fenster. Er war nun wieder daheim. Neben ihm stand sein Junge, der ohne rechte Fursorge aufgewachsen war. Er besa?, das hatte der Vater in dem erregten Bericht gespurt, eine uppig wuchernde Phantasie, gleichzeitig aber den gesunden Sinn, um sie im Zaum zu halten.
        Er blickte auf den Hof und die gegenuberliegenden Hauser. Eine graue Regenwolke segelte am Himmel dahin, wurde vom spielenden Wind ergriffen und uber eine breite Flache verteilt, bis das Grau verbla?te und die Farbung des Himmels annahm. Nichts hatte sich verandert, nur der Kastanienbaum war gro?er und starker geworden.
        ëDu wolltest nach Damaskus?» fragte der Vater. ëWar das nur, um dem Kloster zu entgehen?»
        Marco dachte nach. Er suchte nach einer vollstandigen Antwort.
        ëImmer schon wollte ich weg, in fremde Lander, weit weg. Die Mama war traurig daruber, und sie wurde bose, wenn ich davon sprachÅ» Marco sah, wie sich die Zweige im Winde wiegten, wie Blutenblatter durch das Grun der Blatter taumelten, kleinen Schmetterlingen gleich.
        ëIch hoffte auch, Euch irgendwo zu treffen», sagte Marco.
        Nicolo Polo fuhr noch am selben Tage mit seinem Jungen nach San Michele und besuchte das Grab Lionoras. Erst am spaten Abend kamen sie zuruck, der Vater schweigsam und in sich gekehrt. Maffio Polo wartete auf sie. Mit seiner kraftigen Gestalt und dem lauten, gutmutig polternden Wesen schien er das ganze Zimmer auszufullen. Er hatte erfahren, welcher Verlust seinen Bruder getroffen hatte, und wu?te, da? man ihn jetzt mit seinem Grubeln nicht allein lassen durfte.
        Maffio Polo hatte seine Frau schon in jungen Jahren verloren, er stand allein in der Welt und hatte sich nach der Heimkehr gesehnt, um das Farbenspiel von Sonne, Steinen und Wasser, die Piazzetta und den Marcusplatz, den Canal Grande und die schmalen, von Mauerwerk und grunen Strauchern eingefa?ten Kanale zu sehen, um das tausendstimmige Summen auf dem Alten Rialto, die Schreie der Fischhandler, Kastanienbrater, Teigmacher, Trodler, den weichen Gesang der venezianischen Sprache zu horen. Er hatte sich am gestrigen Abend von seinem Bruder vor ihrem Hause verabschiedet und war zu Freunden gegangen. Nicolo Polo sollte den ersten Abend zu Hause allein verbringen. Erst heute Mittag hatte Maffio erfahren, da? seine Schwagerin gestorben war.
        Marco fuhlte sich zu dem Oheim sofort hingezogen, zumal dieser, um seinen Bruder abzulenken, bereitwillig die Fragen seines Neffen beantwortete und in lustiger Weise Erlebnisse von ihrem Aufenthalt am Hofe des Gro?khans zum besten gab. Marco hatte den Erzahlungen des Oheims bis zum nachsten Morgen lauschen konnen, ohne zu ermuden. Spat erst ging er schlafen.
        Maffio und Nicolo Polo aber berieten, was sie in der kommenden Zeit zu tun beabsichtigten. Sie hatten sich bereits auf der Reise vom Wohnsitz des Gesandten nach Venedig vorgenommen, nur wenigen vertrauten Freunden von ihren abenteuerlichen Erlebnissen zu erzahlen. Teobaldi di Visconti hatte ihnen angedeutet, da? er bald Nachricht geben wurde, ob er dem Ersuchen des Gro?khans, gelehrte Manner zu entsenden, entsprechen wolle. Sicher wurde er die beiden Bruder dann bitten, die Fuhrung auf dieser beschwerlichen Reise zu ubernehmen.
        Maffio Polo, schon funfundvierzig Jahre alt, aber von unverwustlicher Gesundheit, war bereit, die Reise zum zweiten Male zu unternehmen. Ihm genugte ein kurzer Aufenthalt in Venedig, um wieder mit frischer Kraft in die Welt hinauszugehen.
        Wie aber sah es mit dem Bruder aus? Nicolo dachte an die Unterhaltung mit seinem Sohn. Marco hatte das unruhige Blut des Vaters und des Oheims. Fur ihn wurde es die Erfullung seiner Wunsche bedeuten, wenn er mit ihnen gehen konnte. Aber war er nicht zu jung fur die gefahrenreiche Reise? Er dachte an den Offizier, den der Gro?khan ihnen mitgegeben hatte und der schon nach der zweiten Tagesreise schwer erkrankt war, er dachte an die gluhende Hitze, an die Kamele, die gleichmutig an den wei?en Skeletten im gelben Wustensand vorbeitrotteten, an den Uberfall in den Bergen, der ihnen und ihrer Begleitmannschaft beinahe das Leben gekostet hatte, an die hundert Gefahren, die im Hintergrund gelauert hatten. ëEr ist noch ein wenig zu jung», sagte er zu seinem Bruder.
        Und wahrend sie sich schweigend und nach dem richtigen Entschlu? suchend gegenubersa?en, wurde leise die Tur geoffnet. Marco, im Nachtgewand, kam herein. ëVerzeiht, Vater», sagte er, ëich mu? den Oheim noch etwas fragen.»
        Belustigt sahen die Bruder auf. Aber Marco fragte mit ernster Miene: ëIhr sagtet, Oheim, da? jeder, der sich dem Gro?khan nahert, die Erde kusse.»
        Maffio nickte.
        ëHabt Ihr das auch getan?»
        Maffio lachte auf. ëNaturlich», sagte er, ëwir konnten doch nicht unhoflich sein.» Marco runzelte die Stirn und ging wieder hinaus.
        ëEr ist noch ein wenig jung», sagte Maffio lachend, ëaber er ist aus dem rechten Holz geschnitzt.»
        Der Sommer kam. Marco geno? seine Freiheit in vollen Zugen. Der Vater konnte ihm keine Bitte abschlagen, und mit dem Oheim unterhielt er sich wie mit dem besten Freund. Eines Tages nahm er sich vor, Paolo zu besuchen. Giovanni hatte ihm genau beschrieben, wo sich die Fischersiedlung befand. Der Freund konnte nicht mitkommen, weil es bei Meister Benedetto in dieser Zeit viel zu tun gab.
        Ein Barcarole, jung, mit schnellen, kraftigen Bewegungen, fuhr Marco uber die silberglanzende Lagune, an kleinen Inseln und an Fischern vorbei, die ihre Kahne an zwei Pfahlen festgelegt hatten, mit ruhigen Handgriffen die Angeln auslegten und die Netze auf den Grund senkten.
        Schon lange war Marco nicht drau?en auf dem freien Wasser gewesen. Es war noch fruh, frische Morgenluft wehte um die Stirn, die Sonne stieg langsam hoher. Sie fuhren an der Kuste des Lido entlang, die Ferne war dunstig, so da? vom Festland nur unbestimmte Umrisse zu sehen waren.
        Hinter den Sanddunen des Lido lag das Meer, nicht weiter als funfhundert Schritte entfernt. Wenn der Barcarole das Ruder einen Augenblick ruhen lie? und das Boot mit leisem Platschern durch das Wasser glitt, glaubte Marco den Gesang der Wellen zu horen.
        Nach einer Stunde hatten sie die Siedlung erreicht. Die kleinen Hauser, von grunen Garten umgeben, standen hinter dem gelben Sand. Auf einer sanft ansteigenden Wiese hutete ein kleines Madchen die Ziegen, trieb sie mit leichten Stockschlagen von einem Zaun weg und regte sich dabei sehr auf, weil sie merkte, da? sie beobachtet wurde. Denn sieh nur, das Ziegenhuten ist eine schwere, verantwortungsvolle Beschaftigung!
        Pfirsichbaume mit gro?en grunen Fruchten standen im Garten.
        Ein uralter Fischer flickte Netze am Strand. Kein Fischerkahn war an diesem Tage zu Hause geblieben, ein einziges kleines Boot lag wie ein schlanker Fisch am Lagunenufer.
        Der Barcarole zog seinen Kahn auf den Sand und ging in das Innere der Insel Marco hatte ihm gesagt, da? er erst am Nachmittag zuruckfahren werde.
        Der alte Dimitro lie? sich in seiner Beschaftigung nicht storen, griff mit seinen knorrigen braunen Fingern geschickt in das Netzgewirr, hob die zerrissenen Faden an, knupfte sie zusammen und zog neue ein. ëBuon giorno», sagte Marco.
        ëBuon giorno», erwiderte der Hundertjahrige mit seiner jungen Stimme, die schon Paolo in Verwunderung gesetzt hatte.
        ëIch suche Paolo. Er soll bei Euch leben, hat man mir gesagt.» Dimitro knupfte die Faden. Das Meer rauschte. Die Netze rochen nach Fisch, die Sonne schien hei?, kleine Wellen hupften spielerisch uber den Sand, vor und zuruck, immer wieder, glasklar, mit wei?en Schaumkronchen. Dimitros Augen umfa?ten mit einem unbemerkten Blick die Gestalt und das Gesicht des Knaben. Marco wurde nicht ungeduldig.
        ëWer bist du, Sohnchen?» fragte der Alte.
        ëIch hei?e Marco Polo», antwortete Marco bereitwillig. ëGern hatte ich Paolo gesprochen. Ich habe ihm etwas Wichtiges mitzuteilen.»
        Der alte Dimitro hangte das Netz uber das Holzgestell und winkte dem Knaben mitzukommen. Sie gingen in die zunachst stehende Fischerhutte. Giulia, die am Fenster sa? und eine Jacke ausbesserte, sah auf.
        ëBesuch fur Paolo», sagte Dimitro und verlie? die Hutte wieder, um zu seinen Netzen zuruckzugehen.
        Warum sieht sie mich so bose an? fragte sich Marco.
        ëPaolo ist nicht da», sagte Giulia abweisend. Insgeheim befurchtete sie schon lange, da? er einmal kame, um Paolo wegzuholen. Und nun stand der vornehm gekleidete Knabe vor ihr. Sie konnte sich wohl denken, wer er war; denn Paolo hatte ihr von seinem jungen Dienstherrn erzahlt und gesagt, da? er vielleicht eines Tages auftauchen werde, um ihn aufzufordern, nach Venedig zuruckzukehren. Sie wollte aber, da? Paolo hier blieb.
        ëIch werde Euch nicht sagen, wo Paolo ist», sagte sie. ëEr bleibt bei uns.»
        ëAber ich mu? ihn doch sprechen», sagte Marco. ëEr wird schimpfen, wenn er erfahrt, da? Ihr mir keine Auskunft gegeben habt. Ist er zum Fischen hinausgefahren? Sagt es mir nur, ich bin doch Marco, sein Freund. Mein Vater ist zuruckgekommen.»
        Giulia bekam nun doch Angst, da? sie etwas Verkehrtes gemacht habe. Sogleich wurde sie freundlich und lebhaft, warf die Jacke hin und sagte: ëNun ja, wenn Ihr sein Freund seid. Er ist wirklich zum Fischen gefahren, nicht weit von hier liegt er mit seinem Kahn. Wenn Ihr wollt, begleite ich Euch zu ihm. Drau?en liegt ein Boot.

        Marco meinte, da? es genuge, wenn sie ihm den Weg weise.
        Giulia setzte sich wieder und beschaftigte sich eingehend mit der Jacke. Sie sprach nicht mehr mit Marco. Es war auch nicht notwendig; denn der Arger stand ihr so deutlich auf dem Gesicht gesehrieben, da? es keiner weiteren Worte bedurfte. Marco blieb nichts anderes ubrig, als sie aufzufordern, mit ihm zu kommen. Seine Stimme klang ein wenig argerlich; Giulia jedoch kehrte sich nicht daran, warf ihre Arbeit schnell zur Seite und sagte zu Marco, er solle vorausgehen, sie kame sogleich nach.
        Als sie nach einer Weile die Hutte verlie?, hatte sie ein neues Kleid und Schuhe angezogen. Die blonden Haare umrahmten ihr Gesicht, da? es eine Freude war, sie anzusehen. Um das Handgelenk trug sie ein breites goldenes Armband.
        ëIch fahre mit ihm zu Paolo hinaus, Gro?vaterchen», rief Giulia. ëWir sind gleich wieder zuruckÅ»
        Der alte Dimitro murmelte einige unwillige Worte.
        Das kleine Madchen hinter dem Haus hatte wieder schrecklichen Arger mit den ungehorsamen Ziegen. Und keiner beachtete ihre aufgeregten Rufe und heftigen Bewegungen. Noch nicht einmal die Ziegen.
        Paolo lag mit seinem Kahn in einer kleinen Bucht, etwa funfzig Schritte vom Schilf entfernt. Er sa? mit braungebranntem Gesicht und der gelassenen Ruhe eines Fischers, der sein Leben lang nichts anderes getan hat, als geduldig den Fischen nachzustellen, auf der Ruderbank und beobachtete sein Angelgerat.
        Er hatte sich schnell eingewohnt. Das Leben der Fischer gefiel ihm, und er verspurte nicht den Wunsch, nach Venedig zuruckzukehren. Schon oft hatte er sich vorgenommen, Marco zu besuchen, um mit ihm daruber zu sprechen. Aber wenn er abends in Dimitros Hutte sa?, wenn die Fischsuppe in einem Kessel auf dem offenen Feuer gekocht wurde, wenn in den Nachten die Wellen gegen den Strand schlugen und irgendwo ein junger Bursche ein sehnsuchtiges Lied sang, oder wenn er mit Giulia am Sonntag spazierenging, dann schob er den Besuch Venedigs immer wieder auf.
        Das Wasser in der Bucht war glatt und glanzend, im Schilf rumorte eine Wildentenfamilie. Die Sonne braunte Paolos Gesicht, so da? die Haut wie gegerbtes Leder aussah. Nichts blieb in der windlosen Stummheit verborgen. Paolo drehte sich um, als er das Platschern der Ruder horte, und sah Marco und Giulia kommen, bevor sie ihn riefen.
        Er horte die Freude in dem Klang der Stimmen-die helle, jauchzende Giulias und die etwas dunkler getonte Marcos.
        Marco zog das Ruder ein und steuerte das Boot vorsichtig neben den Fischerkahn. ëSchon siehst du heute aus», sagte Paolo in seiner ersten Verlegenheit zu dem Madchen.
        Giulia errotete. ëUnd er wollte mich gar nicht mitnehmen», erwiderte sie, auf Marco deutend. ëSeht Ihr, wie falsch es gewesen ware?»
        Paolo und Marco sahen sich an, beide erregt von der Zusammenkunft. Giulia spurte auf einmal, da? sie nicht mehr im Mittelpunkt stand, und das tat ein bi?chen weh, weil auf dem Grund ihrer Gedanken eine heimliche Furcht lauerte. Sie lie? die Hand uber den Bootsrand hangen und bewegte sie spielerisch im kuhlen Wasser.



        ëIhr habt Euch von der Aufsicht Messer Boccos befreien konnen?» fragte Paolo. Die Worte klangen fremd in seinem Munde; plotzlich anderte er die Anrede, wahlte die vertraute, mit der man einen nahen Freund anspricht: ëWie geht es dir, Marco, ich befurchtete, du warest schon im Kloster von San Nicolo.»
        Marco aber konnte die gro?e, herzbewegende Neuigkeit nicht langer zuruckhalten. ëWei?t du es noch nicht, Paolo?à- Mein Vater ist doch zuruckgekommen. Ich kann jetzt tun, was mir beliebt. Messer Pietro Bocco hat ausgespielt. Auch mein Oheim Maffio ist wieder zu Hause. Bald werden wir drei auf eine gro?e Reise gehenÅ Der Vater wei?, da? ich heute zu dir gefahren bin, und er hat mir gesagt, ich solle dich gru?enÅ» Marco sah aus den Augenwinkeln zu Giulia. Sie beugte sich uber den Bootsrand und war darin vertieft, ihr Gesicht in dem Wasserspiegel zu betrachten, aber ihre kleinen Ohren lauschten hellwach.
        Marco senkte die Stimme. Flusternd sagte er: ëReise mit uns, Paolo!» Paolo strich sich mit einer bedachtsamen Bewegung das Haar zuruck.
        ëSo! Deshalb seid Ihr gekommen», sagte Giulia emport und sah Marco mit funkelnden Augen an. ëNie hatte ich Euch verraten sollen, wo Paolo ist!» Sie schlug mit der Handflache auf das Wasser, da? es in ihr Gesicht spritzte.
        Marco fuhlte sich wie ein ertappter Sunder.
        Paolo lachelte und sagte beruhigend: ëEs war ja nur ein Vorschlag, Giulia, man kann doch daruber sprechen.»
        ëSprecht nur daruber», rief sie, ëich jedenfalls fahre weg. Steigt in den anderen Kahn, junger Herr.»
        Es gelang den beiden allerdings ohne gro?e Muhe, die zornige Giulia mit versohnlichen Worten zum Bleiben zu veranlassen.
        Marco bemerkte, da? der gutmutige Paolo nicht mehr Herr seiner Entschlusse war, sich aber ganz wohl dabei fuhlte. Einen fluchtigen Augenblick dachte er an Giannina, die ahnlich leicht erregbar war, und er sagte sich, da? er Paolo jetzt beistehen musse. Er sagte, er hatte nur Spa? gemacht; so schnell gelang es ihm aber nicht, die mi?trauische Giulia zu beruhigen. Es bedurfte noch einiger Worte von Paolo, die ihr versicherten, wie wohl er sich bei den Fischern fuhle, bis sich die von der Sonne durchgluhte Stille mit dem leise raunenden Wasser wieder den drei Menschen in der Lagunenbucht mitteilte.
        Paolo und Marco dachten an die vergangenen Zeiten; es brauchte nicht vieler Worte, am die gemeinsamen Erlebnisse lebendig zu machen. Und sie spurten zwischen ihren Worten und Blicken, da? sie in einem anderen Verhaltnis zueinander standen als fruher. Marco war nicht mehr der ëjunge Herr» und Paolo war nicht mehr der Diener, sondern ein freier Fischer, Herr uber seine Entschlusse, soweit Giulia nicht hie und da ein Wortchen mitredete.
        Marco konnte allerdings nicht ganz verstehen, wie Paolo das Angebot, mit ihm die gro?e, herrliche Reise zu unternehmen, so schnell abtun konnte. Wurde beispielsweise Giannina ihn, Marco, bitten, nicht wegzureisen, so konnte das an seinem Entschlu? nicht das geringste andern.
        Fur Giulia war das Gesprach der beiden ein wenig langweilig, so da? sie bald anregte, zuruckzufahren, zumal sie befurchtete, den Zorn des Gro?vaters hervorzurufen, wenn sie ihre Arbeit nicht schaffte. Paolo und Marco empfahlen ihr, allein nach Hause zu rudern. Doch dazu hatte sie auch keine Lust.
        Am Nachmittag erst verabschiedete sich Marco. Paolo, sehr froh daruber, da? nun alles klar in seinem Leben war, versprach, Messer Nicolo Polo bald zu besuchen.
        Der Barcarole sa? geduldig wartend am Strand. Das kleine Madchen mit den Ziegen war verschwunden; Marco sprang in das seichte Wasser und zog das Boot auf den Strand. Der Sand brannte unter seinen nackten Fu?sohlen; in hellem Blau strahlte der hohe wolkenlose Sonnenhimmel. Gro?vaterchen Dimitro schimpfte laut auf Giulia, weil sie mitten in der Woche ihren Sonntagsstaat angelegt und die Arbeit vernachlassigt hatte. Giulia verabschiedete sich eilig von Marco, lief in die Hutte und legte das goldene Armband behutsam an seinen Platz.
        Marco nahm seine Schuhe und stieg in das Boot. Der Barcarole, ausgeruht vom Mittagsschlaf im Schatten eines Dattelbaumes, ruderte nach Venedig zuruck.
        In den Monaten, da Marco der Willkur Pietro Boccos ausgesetzt gewesen war, schien sich die Zeit mit muden Greisenschritten dahinzuschleppen, jetzt aber war sie wie ein silberheller Bach, der an den Schonheiten einer abwechslungsreichen Landschaft vorbeiflie?t. Marco, Giannina und Giovanni streiften wie fruher an den Sonntagen durch die Insel. Sie sprachen nur selten uber das Vergangene, ihre Gesprache beschaftigten sich meistens mit Marcos bevorstehender gro?er Reise. Das war nun kein unerfullbarer Traum mehr. Nicolo Polo hatte dem Sohn erklart, er werde ihn mitnehmen, wenn Maffio, der Oheim, einverstanden sei. Marco war selbstverstandlich im gleichen Augenblick zu seinem Oheim gesturmt, und es hatte nur weniger Worte bedurft, um Maffio Polo davon zu uberzeugen, da? man auf eine so wertvolle Kraft nicht verzichten konne.
        So gab es jetzt auf dem Lebensweg des Marco Polo ein klares Ziel. Sommer und Herbst vergingen. Ein neues Jahr begann. Marco begleitete den Vater und den Oheim bei ihren Geschaften und bekam Einblick in die Kunst des Handels und des Gelderwerbs. Er besuchte auf Wunsch des Vaters an zwei Tagen in der Woche eine Schule; Gelehrte und Senatoren unterrichteten hier die Schuler, die aus vornehmen Hausern stammten, in den weltlichen Wissenschaften wie Mathematik, Astronomie, Geographie, Staatskunde und fremde Sprachen. Marco lernte gut; denn er sagte sich, da? er diese Kenntnisse auf ihrer Reise gut gebrauchen konne.
        Eines Abends lie? Nicolo Polo seinen Sohn rufen. Das war nichts Ungewohnliches; denn oft hatten sie in den vergangenen Monaten in des Vaters Zimmer gesessen. Nicolo Polo und der Oheim berichteten dann von ihren erstaunlichen Erlebnissen im Reich der Mongolenkaiser, und Marco erzahlte von seiner Mutter und von all den kleinen Begebenheiten, die fur ihn wichtig gewesen waren. Die beiden Manner wu?ten also, wie ihr Schwager Pietro Bocco den Jungen behandelt hatte und wiesen dessen Annaherungsversuche zuruck. Nur eines hatte Marco verschwiegen: den Mordanschlag, der im Sommer des Jahres 1268 auf ihn verubt worden war. Er wu?te selbst nicht genau, warum er dem Vater nichts davon erzahlt hatte. An diesem Abend nun sollte auch diese Begebenheit zu Ohren der beiden Manner kommen.
        Nicolo und Maffio Polo waren in keiner frohen Stimmung, als sie Maria den Auftrag gaben, Marco zu rufen. Sie waren namlich nach einem ernsten Gesprach zu der Ansicht gekommen, da? die Erziehung, die sie dem Knaben angedeihen lie?en, nicht besonders klug war. Sie lie?en ihm jeden Willen und tanzten, um es geradeheraus zu sagen, nach seiner Pfeife. Sagte der junge Herr beispielsweise: ëVater, morgen gehe ich nach San Nicolo zur Balestra, Ihr begleitet mich doch?», so gab der Vater, obwohl er das saure Gesicht Maffios sah, der an die dringenden Geschafte des morgigen Tages dachte, naturlich ohne Uberlegen seine Zustimmung. Und siehe, am anderen Morgen verlie?en alle drei, festlich gekleidet, das Haus. Links Nicolo Polo, in der Mitte der Knabe, rechts Maffio Polo, stolz daruber, da? Marco ihm die Armbrust zum Tragen uberlassen hatte.
        Oder Marco sagte: ëVater, heute fahre ich mit Giannina nach Murano. Wir wollen Giovanni besuchen und kommen erst am Abend zuruck.»
        Gerade diese Besuche und die enge Vertrautheit Marcos mit den Handwerkerkindern gefielen den Kaufherren nicht. Und sie waren der Meinung, da? es hochste Zeit sei, die Zugel etwas straffer zu ziehen.
        Marco trat frohlich in das Zimmer, wunderte sich ein wenig uber die ernsten Gesichter der Manner, lie? sich aber in seiner guten Laune nicht storen.
        ëDa bin ich», sagte er und machte eine artige Verbeugung. Maffio und Nicolo sagten sich, da? er ja eigentlich ein hoflicher Jungling sei, dem man nicht bose sein konne. Ihre Mienen hellten sich etwas auf. Maffio sah Nicolo an, und Nicolo sah Maffio an. Da hatten sie doch vergessen zu vereinbaren, wer das erste Wort an den Knaben richten solle.
        Der Oheim rausperte sich - und schwieg. Sollte er zuerst reden? Nicolo war schlie?lich der Vater.
        ëWas habt ihr nur, Vater, und Ihr, Oheim? Ihr seht so komisch aus», sagte Marco.
        Nicolo dachte an eine sturmische Fahrt auf hoher See; er hatte als einziger Reisender an Deck gestanden und sich nicht um die hochgehenden Wogen gekummert.
        ëWir mussen ernsthaft mit dir reden!» sagte er. ëSo geht es nicht mehr weiter, mein Sohn.» Auf seiner Stirn vertieften sich die Falten.
        Marco sah die beiden Manner uberrascht an. Was war denn geschehen? Hatten sie eine schlechte Nachricht bekommen? Sofort verschwand die Frohlichkeit aus seinem Gesicht. Vielleicht hing es gar mit ihrer Reise zusammen? Bald erfuhr er den wirklichen Grund.
        Nicolo sprach sehr vernunftig mit Marco, so wie man mit einem jungeren Freund spricht, sagte ihm dann aber mit gro?er Deutlichkeit, da? sie, der Bruder und er, den haufigen, vertrauten Umgang mit den Handwerkerkindern nicht mehr dulden wurden. Es sei doch besser, wenn er sich seinen Verkehr unter den Kindern aus vornehmem Hause suche.
        Marco sah den Oheim an. Maffio Polo bestatigte durch ein bekraftigendes Nicken, da? er der gleichen Meinung sei. Der Vater hatte gesagt, er, Marco, sei schon fast erwachsen und musse einsehen, da? Giannina und Giovanni nicht der richtige Umgang fur ihn seien. Marco war noch nie auf diesen Gedanken gekommen. Wer hatte ihn auch darauf aufmerksam machen sollen? Die Mutter war ja damit einverstanden gewesen, wenn sie es auch nicht gern gesehen hatte, da? er allzuoft nach Murano gefahren war. Und dem Oheim Pietro Bocco hatte er seine Ausfluge wohlweislich verschwiegen.
        Marco dachte lange nach. Der Vater und der Oheim waren ihm in der kurzen Zeit sehr an das Herz gewachsen, und er wollte ihnen gern gehorsam sein. Aber was sie jetzt von ihm verlangten, konnte er nicht erfullen. Er mu?te sie davon uberzeugen, da? sie in diesem Falle unrecht hatten. Solange er in Venedig weilte, wurde er mit Giannina und Giovanni gut Freund sein, zu viele gemeinsame Erlebnisse verbanden sie miteinander.
        Plotzlich erinnerte er sich an den Uberfall in der schmalen Gasse hinter dem Krautermarkt. War es nicht Giovanni gewesen, der ihm durch sein mutiges Dazwischentreten das Leben gerettet hatte? Jetzt wu?te er, was er den beiden Mannern antworten wurde.
        ëWi?t Ihr nicht, Vater, da? mir Giovanni das Leben gerettet hat?» fragte Marco und bemerkte mit Genugtuung die besturzten Gesichter von Nicolo und Maffio Polo.
        ëEin Verbrecher wollte mich mit einem Dolche ermorden. Giovanni ist ihm wie eine Katze auf den Rucken gesprungen, sonst wurde ich nicht mehr am Leben sein. So war das damals, Vater. Und nun soll ich nicht mehr mit ihm zusammenkommen?»
        ëWas erzahlst du uns da?» fragte Nicolo Polo scharf. ëSag die Wahrheit, Marco!»


        Marco mu?te sich sehr zusammennehmen, um nicht in der ersten Erregung falsche Worte zu sagen. Wie konnte der Vater nur an der Wahrheit seiner Worte zweifeln? Er berichtete, was sich damals ereignet hatte, sprach von dem Brief, den ihm ein Bettler uberreicht hatte, schilderte den Uberfall und erzahlte auch von Paolos Vermutung, da? Pietro Bocco der Urheber gewesen sei.
        Die beiden Manner stellten Fragen, die Marco eingehend beantwortete. Nicolo Polo war aufgesprungen und ging im Zimmer hin und her. Maffio sa? mit geballten Fausten am Tisch. ëDu hattest uns das schon fruher sagen sollen», sagte der Oheim. ëGeh nun ins Bett, mein Sohn», sagte Nicolo Polo, sich zur Ruhe zwingend. ëMit Messer Pietro Bocco werden wir ein Wortchen reden, das er sein Leben lang nicht vergessen wird.»
        Von dem Verbot, nach Murano zu Giovanni zu fahren, war nicht mehr die Rede. Marco, der die Erregung in den Gesichtern der beiden Manner sah, ging mit einer Unruhe schlafen, spurte aber trotzdem Genugtuung, weil er sich fur seine Freunde eingesetzt hatte. Nicolo und Maffio sa?en an diesem Abend noch lange im Gesprach zusammen.
        In den nachsten Tagen lie?en sie Paolo, der sie vor Monaten schon einmal besucht und ein Bundel Fische gebracht hatte, kommen und fragten ihn aus, was er von dem Uberfall wu?te. Und Paolo wiederholte im wesentlichen das, was sie schon von Marco erfahren hatten. Es gab leider keine festen Anhaltspunkte, die Messer Pietro Bocco als den Anstifter des Uberfalls entlarvten. Die beiden Bruder waren aber nach allem, was sie uber ihn gehort hatten, uberzeugt, da? er seine Hand im Spiele gehabt hatte, und beschlossen, ihm bei einer passenden Gelegenheit merken zu lassen, da? sie ihn durchschauten.
        Marco brauchte sich keine Sorge mehr zu machen, der Vater gestattete auch weiterhin die Ausfluge nach Murano und lie? in einer gelegentlichen Bemerkung durchblicken, da? er den Freund seines Sohnes gem einmal kennenlernen wurde. Schon am nachsten Sonntag uberredete Marco den Freund, mit ihm nach Venedig zu kommen.
        Der Vater war gerade von einem Gang nach der Piazzetta zuruckgekehrt und befand sich allein in seinem Zimmer, als Marco klopfte und um die Erlaubnis bat, den Freund vorzustellen.
        ëBring ihn nur herein, wenn er schon hier ist», sagte Nicolo Polo, belustigt uber den Eifer seines Jungen.
        Marco schob Giovanni, der verlegen und mit klopfendem Herzen hinter der Tur stand, in des Vaters Stube. ëDas ist Giovanni, Vater», sagte er.
        Giovanni verbeugte sich und sah Messer Polo frei an. Die Verlegenheit fiel von ihm ab. Er war ein Bootsbauer, und Meister Benedetto hatte ihn gelehrt, da? die Bootsbauer die wichtigsten Menschen in ganz Venedig seien und sogar im Paradiese den besten Platz zugewiesen bekamen. Noch nie sei, Meister Benedettos Wissen nach, ein Bootsbauer in die Holle gekommen, selbst die Faulpelze Aurelio, Filiberto und Alberto brauchten keine Angst zu haben, einmal am Bratspie? eines Teufels zu schmoren. Giovanni machte sich selber Mut, indem er an die lustigen Reden Meister Benedettos dachte.
        Nicolo Polo betrachtete den Knaben mit den hellen Augen und dem feinen Gesicht mit gro?em Wohlwollen, und er wu?te mit einem Male, da? sein Junge durch den Umgang mit den Handwerkerkindern auf einem guten Boden aufgewachsen war. Diese plotzliche Einsicht verstarkte sich noch in dem folgenden Gesprach:
        ëIhr mu?tet ihn einmal singen horen, Vater», sagte Marco, dem das Schweigen peinlich wurde.
        ëSo, singen kannst du auch?» fragte Nicolo Polo. ëMarco hat mir erzahlt, da? du bei Meister Benedetto in der Lehre bist.»
        ëWir bauen jetzt ein gro?es Schiff», sagte Giovanni, ëich helfe schon hier und da ein bi?chen mit.»
        Es ergab sich zwischen Nicolo Polo, dem Weitgereisten, und Giovanni, der vom Mittelpunkt der Erde kam, ein fachmannisches Gesprach uber arabische, indische, normannische und venezianische Schiffstypen, in dem Giovanni die letzte Scheu ablegte. Er hatte nicht geglaubt, da? man mit Messer Polo so gut sprechen konne.
        Am Schlu? der Unterhaltung ging Nicolo Polo zur Truhe, die in der Ecke stand, schlo? sie auf und holte einen Beutel mit Diamanten hervor. Er schuttete sie vor den staunenden Augen Giovannis auf den Tisch und sagte zu ihm, er solle sich einen aussuchen als Dank dafur, da? er seinem Sohn das Leben gerettet hatte.
        Marco, der an das Kleiderbundel dachte, das der Freund seinerzeit zuruckgewiesen hatte, bekam ein wenig Angst, als er sah, wie Giovanni, geblendet von der Pracht, einen Schritt zuruckwich. Aber das war doch heute etwas ganz anderes.
        ëNimm nur, Giovanni», sagte er, ëder Vater schenkt es dir doch.» Und er fuhrte den Freund, der ihm willig folgte, an den Tisch. Auch Nicolo forderte ihn noch einmal auf, einen der Diamanten, die er einst vom Gro?khan bekommen hatte, als Geschenk und Erinnerung an den Freund anzunehmen, der doch bald fur lange Zeit Venedig verlassen wurde.
        Giovanni, noch immer ganz benommen, suchte sich aus dem Haufen funkelnder Steine den kleinsten heraus. Nicolo Polo aber gab ihm einen gro?eren und sagte scherzend, den solle er spater einmal, wenn er erwachsen sei, seiner Braut schenken.
        Giovanni wu?te kaum, wie er zur Tur hinauskam vor lauter Freude uber das Geschenk und die freundliche Behandlung und fragte Marco, ob er auch nicht vergessen hatte, sich zu bedanken. Aber der Freund beruhigte ihn.
        Als Giovanni an diesem Abend nach Hause fuhr, nahm er sich vor, den Diamanten an einem bestimmten Tage Giannina zu schenken.
        Die beiden Bruder waren nun schon langer als ein Jahr wieder in Venedig und warteten ungeduldig auf eine Nachricht Teobaldo di Viscontis. Das Reisefieber meldete sich in ihnen, und keiner war wohl unruhiger als Marco. Obwohl Nicolo und Maffio Polo nur mit wenigen vertrauten Freunden uber ihre Erlebnisse gesprochen hatten, war doch in den Kreisen der Kaufleute bekanntgeworden, welche Reichtumer sie mitgebracht hatten. Und eines Tages meldete sich der ehrenwerte Schwager Pietro Bocco bei ihnen, der mit seinen Geschaften nicht so schnell vorwartskam, wie er gern wunschte und bei seinen Verwandten anfragen wollte, ob sie bereit waren, ihm eine gro?ere Summe fur den Abschlu? eines vorteilhaften Handelsvertrages zu leihen.
        Maffio, das Oberhaupt der Familie Polo, empfing ihn mit undurchdringlichem Gesicht und bat ihn, Platz zu nehmen. Messer Pietro Bocco wollte eine liebenswurdige Unterhaltung beginnen, wurde aber von dem Schwager durch eine Handbewegung unterbrochen. Maffio Polo stand auf, ging zur Tur und befahl Maria, Nicolo Polo zu rufen.
        Er setzte sich wieder und sagte gleichmutig zum Schwager, er solle sich ein wenig gedulden. Sie wechselten ein paar nichtssagende Worte, bis Nicolo Polo erschien, der Pietro Bocco zuruckhaltend begru?te.
        Messer Pietro Bocco begann ein Gesprach, in dem er den beiden Kaufherren Komplimente machte uber die kluge Art, ihre Geschafte zu fuhren, nachdem sie doch so lange von Venedig entfernt gewesen waren. Die Bruder warfen nur hin und wieder einen Satz ein und lie?en ihn reden.
        Marco hatte recht, er hat kalte Augen, die seine Freundlichkeit Lugen strafen, dachte Nicolo und war stolz auf die gute Beobachtungsgabe seines Sohnes.
        Endlich kam Messer Pietro Bocco nach einer geschickten Vorbereitung auf den eigentlichen Grund seines Kommens. Er bat die Bruder, ihm zu einem niedrigen Zinssatz - sie seien doch Verwandte - zweitausendfunfhundert Dukaten zu leihen.
        Nicolo Polo schwieg. In diesem Augenblick ging ihm noch einmal alles durch den Kopf, was er von Marco und Paolo erfahren hatte, und es tat ihm im Angesicht des lachelnden Heuchlers leid, da? er keine sicheren Beweise in Handen hatte. Drohend zogen sich seine starken Augenbrauen zusammen.
        Maffio Polo stand auf und kam hinter dem Tisch hervor.
        ëZweitausendfunfhundert Dukaten wollt Ihr?» fragte er, und im Ton seiner Stimme klang etwas, das Pietro Bocco aufhorchen lie?.
        ëWieviel habt Ihr denn mit Eurer nachtlichen Schmuggelfahrt verdient?» fragte Nicolo Polo plotzlich. ëIhr erinnert Euch an die funfzehn Sacke Salz?»
        Messer Pietro Bocco erbleichte. Der Angriff war zu unerwartet gekommen. Und schon holte Nicolo Polo zum zweiten Hieb aus: ëIhr habt mir erzahlt, welche Fursorge Ihr meinem ungehorsamen Sohn angedeihen lie?et», sagte er mit schneidendem Hohn, ëich danke Euch dafur, Pietro Bocco.» Er beugte sich nieder und brachte seine zornspruhenden Augen in die Nahe des zuruckweichenden, bleichen Gesichtes. ëDer Dolchsto? ist danebengegangen. Schade, Pietro Bocco, was?»
        Maffio Polo fa?te den Bruder an den Schultern und zog ihn mit sanfter Gewalt zuruck, weil er nicht wollte, da? Nicolo in das verha?te Gesicht schlug.
        Pietro Bocco fand seine Fassung wieder und sprang auf. ëWas sind das fur unsinnige Beschuldigungen?» rief er unsicher. ëIhr habt Euch eigentumliche Sitten angewohnt», sagte er, mit einem Versuch zu spotten.


        ëWir werden dafur sorgen, da? Ihr fur den Salzschmuggel zur Rechenschaft gezogen werdet», sagte Maffio. ëGeht aus unserem Hause. La?t Euch hier nicht mehr sehen. Wir kennen Euch nicht mehr, Pietro Bocco. Ihr seid ein Verbrecher und kein ehrlicher Kaufmann!»
        Er lie? den angst- und zornbebenden Pietro Bocco nicht mehr zu Worte kommen, ging drohend auf ihn zu, bis dieser sich umdrehte und schnell aus dem Zimmer fluchtete.
        Maffio und Nicolo Polo standen am Fenster und sahen ihm mit finsteren Mienen nach.
        ëIch hatte ihn niederschlagen sollen», sagte Nicolo und trat in das Zimmer zuruck.



        GIOVANNI SINGT

        DER HERBST DES JAHRES 1271 SETZTE MIT HEFTIGEN Sturmen ein, das unbandige Meer warf sich brullend gegen die Befestigungsanlagen und ri? ganze Teile des naturlichen Strandes des Lido weg. Uber Nacht wurde es plotzlich still, und am Morgen schien die Sonne.
        Der Himmel tauchte gleichsam in das Meer hinab, um seiner farbigen Wolkenlandschaft den Glanz des geheimnisvoll schimmernden Wassers zu verleihen.
        Eine Kette von schonen Tagen folgte, die den Menschen in Venedig Gelegenheit gaben, die Zerstorungen, die Meer und Lagune angerichtet hatten, wieder zu beseitigen. Die Piazzetta und der Marcusplatz mit ihren stolzen Bauten hoben sich aus dem Wasser und boten ihre festlichen Raume unter freiem Himmel dem Vergnugen der buntgekleideten Menschen dar.
        Die Stadt auf den hundert Inseln hatte wieder einen Sturm uberlebt. Vorbei war das Zagen, das die Angstlichen befallen hatte, als das Wasser gegen Erde und Steine wutete und den Grund der Hauser, Holzpfahle und Steinaufschuttungen, erschutterte. Die vornehmen Herren gingen in ihren scharlachroten Manteln durch die Merceria von der Ponte della moneta zur Piazza, fuhren auf teppichgeschmuckten, mit vergoldetem Schnitzwerk versehenen Barken vom Canal Grande in den Canal della Guidecca nach San Giorgio und gingen mit ihren Damen in den herbstlichen Garten spazieren.
        Lasttrager beluden die Schiffe mit Waren aus aller Herren Lander, Seeleute sangen Lieder von Sturmen, fremden Hafen und Heimweh, Handwerker bauten Schiffe und fertigten Spiegelglaser an, verkruppelte Bettler krochen auf den Vorplatzen der Kirchen herum und baten um Almosen.
        Der Sturm war vorbei; Venedig lebte, und die Luft war erfullt von Farben und Stimmen und den Gerauschen des gegen Steine, Holz und Erde schlagenden Wassers.
        In Rom war nach zwei Jahren Streites um die Tiara des Papstes der ehemalige Gesandte Teobaldi di Visconti als Gregor X. auf den Stuhl Petri gelangt.
        Marco war nun siebzehn Jahre alt und nur eine Handbreit kleiner als der hochgewachsene Vater. Seine Stirn, frei und gut geformt, die gro?en grauen Augen, die gerade Nase und das starke Kinn zeugten von Energie und Klarheit der Gedanken.
        Maffio und Nicolo Polo waren gestern, von Marco sehnlichst erwartet, aus Rom zuruckgekommen. Ihre Unterredung mit dem neuen Papst war gut verlaufen. Gregor X. hatte sie gnadig empfangen, ihnen Briefe fur den Gro?khan uberreichen lassen und zwei gelehrte Monche bestimmt, die ihnen in die fernen Reiche folgen sollten, um im Auftrage des Papstes Bischofe zu ernennen, Priester zu weihen und Absolution zu erteilen.
        Die beiden Bruder begannen ohne Verzug mit den Reisevorbereitungen, und Marco half ihnen tatkraftig dabei. An der Riva della Schiavoni lag das Schiff, das in den nachsten Tagen nach der armenischen Kuste auslaufen und die Reisenden an ihren Bestimmungsort bringen sollte. Die Monche kummerten sich wenig um die Reisevorbereitungen. Sie wohnten im Kloster zu San Nicolo.
        Zwei Tage vor der Abfahrt, die wichtigsten Arbeiten waren getan, bat Marco den Vater um Erlaubnis, nach Murano zu fahren, um von den Freunden Abschied zu nehmen.
        Es war ein sonniger Herbsttag, als er mit Giannina uber die Lagune fuhr. Ein leiser Wind spielte mit Gianninas Haaren. Marco ruderte. Sie glitten durch die kleinen Wellen; Hauser und Kirchen gru?ten von den Inseln; Lastkahne und Barken begegneten ihnen. Marco betrachtete das gewohnte Bild heute mit besonderen Augen; er achtete auf viele Einzelheiten, die er sonst ubersehen hatte. Auf San Michele stand eine einsame Zypresse auf einer Landzunge und schien, aus der Ferne gesehen, aus dem Wasser zu wachsen. Dahinter lag die verwitterte Mauer des stillen Friedhofes mit dem Grab der Mutter, das er gestern mit dem Vater aufgesucht hatte.
        Wasser und Inseln und Boote und hinter ihnen die Hauser und Kanale, die Palaste und Kirchen der Rialtoinsel in ihrer engen Pracht, mit dem Gewimmel der geschaftigen Menschen, den Schiffen in den Hafen, die den Glanz ferner Welten ausstrahlten. Auf dem Turm der alten Kirche von San Michele lauteten die Glocken.
        Marco pragte sich die heimatlichen Bilder und Tone in seiner Seele ein.
        Giannina war so schon mit ihren funfzehn Jahren, da? die Bootsfuhrer und jungen Fischer ihr winkten oder in stummem Schauen voruberfuhren. Das schwarze Haar schmeichelte wie nachtdunkle Wellen Schlafen und Hals und bedeckte die schmalen Schultern; die Lippen schimmerten wie reife rote Beeren in dem braunen Gesicht.
        Murano lag vor ihnen. Dort, wo die romische Villa gestanden hatte, waren nur noch die in die Erde eingelassenen Steinquadern zu sehen, aber links neben dem Zaun stand der alte Feigenbaum mit den gelb und rot und braun gefarbten Blattern.
        Giovanni erwartete sie, er zog das Boot an das Ufer und half Giannina und Marco beim Aussteigen.
        Sie gingen durch die Insel, besuchten die Platze, die Erinnerungen weckten, verweilten am Fischteich, der fast zugeschuttet war, sprachen belanglose Worte und vermieden es, an den bevorstehenden Abschied zu denken. Sie waren Wanderer, die mit geruhsamen Schritten an den Statten ihrer Kindheit vorubergingen, uber kleine Torheiten lachten und sich sehr erwachsen gebardeten; denn Giovanni, breit in den Schultern und mit harten Arbeitshanden, war auf dem Wege, ein beruhmter Schiffsbauer zu werden. Der Tag war nicht mehr fern, da man sagen wurde: Siehe, dieses Schiff hat Giovanni auf Murano gebaut.
        Und Marco war ein Weltreisender, der bald auf Kamelen durch die Wusten reiten wurde. Reiste er nicht im Auftrage des Oberhauptes der Christenheit zu einem der machtigsten Herrscher der Erde? Marco und Giovanni, jeder auf seine Art ein Jungling mit hochfliegenden Planen! Nun mu?ten sie Abschied voneinander nehmen.
        Sie gingen durch die Insel. Und zwischen ihnen schritt leichtfu?ig Giannina, die einmal Giovannis Seerauberbraut werden wollte.
        Die Lagune breitet sich vor ihren Blicken aus, der Wind streicht daruber hin. Ein Herbsttag im matten, goldenen Schein der Nachmittagssonne. Rauch quillt aus den Kaminen der Glasofen, wird vom Wind ergriffen und fortgetragen.
        Lange Jahre wird Marco fern von der Heimat weilen. In Giovannis Herzen erklingt eine Melodie. Er kann mit Worten nicht sagen, was er empfindet, aber er kann ein Lied singen, das all die unnennbaren Gefuhle, die ihre Lippen stumm gemacht haben, zum Schwingen bringt.


        Sie stehen auf den Steinquadern, zu ihren Fu?en schimmert das Wasser. Eine Landzunge mit Garten und Baumen halt den Wind ab. Sie nehmen Abschied voneinander.
        Giovannis Stimme hat an Kraft und Schonheit gewonnen. Die Tone eines Handwerkerliedes, das vom Abschied, vom Wandern auf endlosen Stra?en und von froher Heimkehr erzahlt, werden uber das Meer geweht.
        Bewundernd schaut Giannina auf den Freund, dessen Gesicht all die Regungen zeigt, die in den Worten und Tonen des Liedes liegen. Giovanni singt.
        An der Riva della Schiavoni aber liegt das Schiff, mit dem Marco Venedig verlassen wird; zwei gelehrte Monche wandeln mit truben Gedanken durch den Kreuzgang des Klosters und verfluchen ihr Geschick, das sie fur die weite, gefahrliche Reise bestimmt hat.
        Marco aber vergi?t, da? er auf Murano ist, seine Gedanken eilen der Wirklichkeit voraus, lassen ihn einsame Bergpfade und gefahrvolle Waldwege wandern und Kampfe mit wilden Tieren bestehen, die sich nachts an ihr Lager schleichen.
        Das Lied verklingt.
        Giovanni nimmt Abschied von seinem Freund Marco. Sie umarmen sich, und es ist ihnen peinlich vor Giannina, da? ihre Augen zu glanzen beginnen.
        ëDu kommst ja wieder, Marco», sagt Giovanni und hilft, das Boot in das Wasser zu schieben.
        Giannina und Marco fahren nach Venedig zuruck.
        Giovanni steht auf den wei?en Steinen und winkt; das Boot mit Marco und Giannina wird kleiner, die Sonne versinkt hinter den Hausern Venedigs, die Lagune ergluht, und das dunkle Boot entschwindet Giovannis Blicken, scheint sich aufzulosen im farbigen Dunst des Herbstabends.



        WORTERKLARUNGEN

        Absolution Freisprechung von Sunden
        Addio auf Wiedersehen
        A la vostre salute Trinkspruch, Auf eure Gesundheit
        Ambra wachsartige, duftende Masse; fruherals Heilmittel, jetzt zu Riechstoffen verwendet
        Arabeske arabisches Rankenmuster
        A rivederci Gru?, Auf Wiedersehen
        Arkaden Bogengange
        Backbord die linke Schiffsseite, von hinten gesehen
        Barcarole Barkenfuhrer
        Barke im Mittelmeer gebrauchliches kleines Boot ohne Mast
        Basalt dunkelfarbiges, bis schwarzes, feinkorniges Gestein
        Basar Markt
        Biscotto Schiffszwieback bizarr auffallend, wunderlich
        Brokat schwerer Seidenstoff mit eingewebten Gold- oder Silberfaden
        Buon giorno Gru?, Guten Tag
        Camera del frumento Getreidekammer
        Campanile Glockenturm
        Campo di WaltoàPlatz in der Nahe der Ponte della moneta; hier wurden die gro?ten Handelsgeschafte abgeschlossen
        Canal della Quidecca Kanal zwischen der Rialto- und der Guideccainsel
        Caposestieri die Vorsteher eines Stadtbezirks von Venedig carrarisc?er Marmor Marmorgestein aus den Steinbruchen der norditalienischen Stadt Carrara
        Castello Festung
        Denare dalmatinische Munze
        Doge Oberhaupt der venezianischen Republik
        Duketten allgemein ubliche Bezeichnung fur Goldmunzen der damaligen Zeit
        Erzbistum geistliches Furstentum, an dessen Spitze ein Bischof steht
        Exzellenz Anrede fur hohe Wurdentrager
        Fagotto Holzblasinstrument
        Maschinen aus Weidenruten bestehende Reisigbundel zur Uferbefestigung
        Fondamento Raum zwischen den Mauern des Hauses und der Riva
        Qaleere mittelalterliches Ruderschiff, mit 25-30 Ruderbanken furje 3-5 Rudersklaven
        Qro?er Hat gesetzgebende Versammlung der Republik von San Marco. Er wird von 12 Wahlherren (je Sestier 2), die aus vornehmen Familien stammen, gewahlt und zahlt in der Regel 480 Mitglieder. Er hat die Macht, Gesetze zu erlassen und aufzuheben, Staatsamter zu besetzen und Beamte abzusetzen
        Qro?kban Oberster Herrscher des Mongolenreiches
        Hellebarde mittelalterliche lanzenartige Waffe
        Hippodrom altgriechische Rennbahn fur Pferde- und Wagenrennen
        Hyazintblatwerge aus Edelsteinsplittern hergestellte Salbe
        Kadi Richter im Orient
        Kapital Kopf einer Saule katatonisc?e Qewasser Bezeichnung fur das Mittelmeer an der Kuste Spaniens
        Kontrakt Vertrag lamentieren jammern
        Lido schmale, Venedig vorgelagerte Insel
        Livree Bedienstetenuniform
        Mama mia meine Mama
        Marcusplatz beruhmter Platz vor dem Dogenpalast und der Kirche von San Marco
        Merceria Ladenstra?e in Venedig
        Moschus kostbarer Riechstoff, der auch als Arznei zu verwenden ist
        Muli Maultier
        Myrrbe balsamartiges Gummiharz Patrone dell'Arsenale vom Senat eingesetzter oberster Verwaltungsbeamter des Arsenals
        Soutane Kleidungsstuck eines Pfarrers
        Staatsinquisitor hoher Gerichtsbeamter
        Stagiera publica offentliche Waage an der Ponte della moneta
        Stola Uberwurf, der nur von hohen Beamten getragen wurde
        Stuhl Petri Papststuhl, Petrus war der erste Papst
        Takelung die Auswahl und Anordnung der Masten und Segel bei Schiffen
        Taverne Weinschenke
        Terra ferma die zur Republik von San Marco gehorenden Festlandsgebiete
        Terrazzo Fu?boden aus fein zerstampften Steinen
        Terrazzoschlager Handwerker, der diesen Fu?boden herstellt
        Tiara mit drei Knoten geschmuckte Kopfbedeckung des Papstes,
        die er bei feierlichen Anlassen tragt
        Tropbaen erbeutete Siegeszeichen
        Tunika wei?wollenes Unterkleid der alten Romer
        Ufficiale sopra Rialto oberste Behorde am Rialtoplatz
        Zechine venezianische Goldmunze
        Zelebrieren Messe lesen
        Zisterne Brunnen
        Zyklop einaugiger Riese, Gestalt aus der griechischen Sagenwelt

        Der lateinische Text auf der Landkarte hei?t ins Deutsche ubersetzt:
        Der Stadtstaat Venedig hat einen Umfang von acht italienischen Meilen. Er liegt in einer vom Meer uberfluteten Niederung. Ein gewisserma?en naturliches Gestade, das aus dem Meere hervorragt, schutzt die Stadt vor dem wutenden Meer. An funf Stellen gewahrt es den Seeleuten einen Durchgang und bildet insbesondere bei zwei Kastellen und dem bischoflichen Stadtstaat Chioza einen Hafen. Er ist von der Stadt 25 Meilen entfernt und liegt auf dem Wege nach Ferraria. Im Umkreis befinden sich 25 Inselstadte, die fast alle von Monchen bewohnt werden. Das ubrige ist aus dem Bilde zu ersehen. Die Stadt Venedig hat 62 Kirchen und 41 Kloster. Sie besitzt etwa soviel Kanale wie Stadtviertel. Au?er den privaten Brucken (Zahl unleserlich) gibt es offentliche Brucken. An Schiffen, die sich fur jeden Gebrauch eignen, gibt es etwa 8000. In der Werft, die auf allen Seiten von einer Mauer umgeben ist, sind standig 400 Menschen beschaftigt, die Schiffe mit drei Ruderreihen und anderem Schiffszubehor herstellen. Auf der Insel Murano werden besonders glaserne Vasen hergestellt, die allgemein Kristallvasen genannt und in
alle Gebiete ausgefuhrt werden.



        Presse-Stimmen zu:

        Willi Meinck
        DIE SELTSAMEN REISEN DES MARCO POLO Band II
        Illustrationen und Farbtafeln von Hans Mau 420 Seiten, Halbleinen mit Schutzumschlag, 6,80 DM Fur Leser von 10 Jahren an


        ëDie seltsamen Reisen des Marco Polo werden den Kreis begeisterter Leser noch vergro?ern. Willi Meincks zweiter Band bebandelt die abenteuerlichen Reisen in das Land Katbai - spannungsreich in einer prazisen, anschaulichen Sprache Kenntnisse vermittelnd vom Orient, seiner Qeschichte und seinen Menschen. Eines der besten Jugendbucher, die in letzter Zeit erschienen.»
        in der ëBerliner Zeitung»
        ààààLieselotte Remane


        ëMarco Polos Sehnsucht nach Reisen und Erleben geht in Erfullung. Die Reise von Venedig uber Bagdad und das Pamir - Qebirge bis zum fernen China, das Leben am Hofe des Qro?khans sind so bunt schillernd und ereignisreich dargestellt, da? man glaubt, mit dabeizusein. Qeradezu in die Hand drucken mochte man das Buch federn Jungen, damit er die warme und lebendige Sprache des Verfassers und die treffenden Zeichnungen kennenlernt.»
        im ëStuttgarter Bucherkommentar»
        ààààJorg Ring


 
Êíèãè èç ýòîé ýëåêòðîííîé áèáëèîòåêè, ëó÷øå âñåãî ÷èòàòü ÷åðåç ïðîãðàììû-÷èòàëêè: ICE Book Reader, Book Reader, BookZ Reader. Äëÿ àíäðîèäà Alreader, CoolReader. Áèáëèîòåêà ïîñòðîåíà íà íåêîììåð÷åñêîé îñíîâå (áåç ðåêëàìû), áëàãîäàðÿ ýíòóçèàçìó áèáëèîòåêàðÿ.  ñëó÷àå òåõíè÷åñêèõ ïðîáëåì îáðàùàòüñÿ ê